Briefe und Dokumente 1949 - 1956
Inhalt 1949 - 1956
Die nachfolgende Einladung zur Gründung des TKV befand sich auch im Archiv HG in Reutlingen
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Einladung zur Gründungsversammlung TKV
20.08.1949 Grischkat an Keller
5.8.1949 - 2089 I Ke - 20.8.1949
Mein lieber Hermann! Keller
Herzlichen Dank für Deine Karte aus dem Urlaub. Ich selber habe o Wunder ! in diesem Jahr auch einige Tage Urlaub genommen und bin jetzt eben wieder in Reutlingen angelangt, wo wir in der nächsten Woche zur Köngener Sommerfreizeit zusammenkommen. Aber vorher solltest Du jetzt heute meine Gedanken zum Stuttgarter Bachfest haben. Ich mache es dabei so, wie wir vor einigen Wochen mündlich besprachen, dass ich so plane, als wenn ich der allein Verantwortliche wäre. Der endgültige Plan wird dann wohl aus der Diskussion über Eure und meine Vorschläge geboren werden.
Den Gesamtplan würde ich so anlegen, dass das Fest insgesamt acht Veranstaltungen umfasst, die sich um ein Wochenende mit vorausgehendem Donnerstag und Freitag und nachfolgendem Montag und Dienstag gruppieren würden. Die Veranstaltungen führ ich nur kurz einmal auf und mache noch Bemerkungen dazu:
1) Kunst der Fuge
2) Hohe Messe
3) Geistliche Kantaten
4) Weltliche Kantaten
5) Brandenburgische Konzerte
6) Orchesterwerke und konzerte
7) Motetten und Orgelwerke
8) Kammermusik
Zu 1: Dass es natürlich ein Lieblingsgedanke von mir wäre, die Kunst der Fuge in meiner Bearbeitung mit meinem Orchester aufzuführen, brauche ich nicht zu sagen. Doch bin ich so vernünftig, einzusehen, dass dies wahrscheinlich nicht geht, dass Karl Münchinger sie aufführen will.
Zu 2: Schwäbischer Singkreis mit meinem Orchester
Zu 3: Es müssten entweder im Gespräch von uns beiden drei sorgfältig ausgesuchte Kantaten aufgeführt werden. Oder aber, was mir in diesen Tagen erneut wichtig und lieb geworden ist, es müsste meine vor einigen Jahren ja auch Dir vorgelegte Bachsche Grosskantate aufgeführt werden. (Du erinnerst Dich, dass es sich um einzelne überragende Sätze aus Kantaten handelt, die als Ganzes nicht befriedigen und darum kaum aufgeführt werden können). Ich lege Dir meine Zusammenstellung nochmal bei. Jetzt, nachdem ich doch einige Jahre Abstand von meiner Arbeit habe und sie vor einigen Tagen wie eine fremde Arbeit durchsah, fand ich sie sehr gut. Und unser Bachfest würde doch wohl auch durch diese Aufführung eine ganz besondere Note erhalten. Hierüber müsste die Entscheidung allerdings schnell fallen, denn ich muss für das komplette Aufführungsmaterial dann schnellstens sorgen und auch, da es sich ja um z. T. sehr umfangreiche, schwere Chöre handelt, ja sehr bald mit den Proben beginnen.
Zu 4: Bei den weltlichen Kantaten denke ich vor allem an "Der zufriedengestellte Aeolus" und "Der Streit zwischen Phoebus und Pan". Diese Kantaten am besten am Sonntag-Vormittag.
Für 5 und 6 würde Münchinger vollkommen für sich selbständig entscheiden sollen.
Zu 7: Motetten und Orgelwerke denke ich mir am Samstagnachmittag. Es ist ja die Veranstaltung, die am wenigsten problematisch ist, wobei man das Programm vielleicht am ehesten durch Ausscheiden der Motetten bekäme, die nicht zur Aufführung kommen sollen. Das wären also wohl "Jesu, meine Freude" und "Der Geist hilft". Dagegen müsste wohl "Fürchte dich nicht", die fast nie zur Aufführung kommt, auf dem Programm stehen, ebenso wahrscheinlich "Komm, Jesu, komm" (und "Singet dem Herrn", dazu zwei oder drei grosse Orgelwerke).
Zu 8: Ich persönlich denke dabei besonders an seltener gehörte Stücke und vor allem auch etwas abseitige Besetzungen (z. B. die Trio-Sonate aus dem "Musikalischen Opfer" und ähnliches.
Dann will ich Dir doch auch gleich schreiben, was wir gestern Abend hier für unsere Reutlinger Verhältnisse als Plan aufgestellt haben. Wir wollen hier kein zusammengedrängtes Bachfest feiern, sondern in Zusammenarbeit meines Reutlinger und Schwäbischen Singkreises und meines Symphonie-Orchesters ein Bachjahr 1950 mit folgenden Veranstaltungen:
1) Neujahr 1950: Kunst der Fuge
2) Ende Februar: Weltliche Kantaten
3) Palmsonntag (2. April): Matthäus-Passion
4) Anfang Juni: Bachscher Familientag
5) Mitte oder Ende Juli: Die Bachsche Grosskantate
6) Anfang September: Orchesterkonzert (Orchestersuite Nr. 1; Violinkonzert a-moll und ein noch nicht festgelegtes Werk)
7) Anfang November: Hohe Messe
8) Sylvester, 23.30 Uhr: Kantate Nr. 28 und 190.
Wir sind von dem Gedanken des Bachfestes hauptsächlich auch im Hinblick auf das Stuttgarter Bachfest abgekommen und wollen es einmal auf diese Weise versuchen.
O je, ich merke jetzt erst beim Diktieren, wie lang dieser Brief wird, denn ich will doch auch gleich noch ein paar die Hochschule betreffenden Dinge vortragen. Zunächst unser aller Sorgenkind, der Hochschulchor. Ich habe mich sehr ausgiebig mit den Chorlisten, den Beurlaubungen etc. beschäftigt. Zunächst die Zahlen:
Gesamtzahl der Hochschüler 473
im Chor 146
im Orchester 91
Examens-Semester 43
beurlaubt 175
Schlamper, die auf nichts reagierten 18
Fasst man also die Examenssemester, die Beurlaubten und die Schlamper zusammen, haben wir eine Zahl von etwa 240, die den Chor nicht besuchen gegenüber 150, die besuchen. Dabei sind unter den 150 auch noch eine ganze Anzahl, die so unregelmässig kommen, dass wir sie praktisch streichen müssen. Und vor allem fehlt es eben immer an Tenören, da es ja das Unglück will, dass ein Grossteil der Beurlaubungen sich gerade auf die Tenöre bezieht. Aber auch der Sopran ist z. Zt. eine ausgesprochen schwache Stimme. Übrigens mache ich auch hinter die Zahl von 91 Studierenden für das Orchester ein leichtes Fragezeichen, ob sich in dieser Zahl nicht auch noch einige Drückeberger vom Chor verbergen. Was machen wir in dieser Angelegenheit? Und vo[ ] was gemacht wird, müsste gleich in den allerersten Tagen des Semesters geschehen.
Weiter erinnere ich Dich nocheinmal daran, dass die Frage des Esslinger Tages der Evang. Kirchenmusik-Abteilung doch auch, wie wir bereits vorbesprachen, mit Beginn des neuen Semesters gelöst wird. Du sagtest ja, dass das Hinüberfahren nach Esslingen überhaupt wegfallen solle. Ich hielte dies wirklich auch für das Beste. Denn es sind mir gerade gegen Schluss des Semesters von vielen Studierenden wegen des Esslinger Tages Klagen vorgetragen worden, vor allem auch wegen des Essens in Esslingen. Einige der Studenten kommen an dem Esslinger Tag zu keinem Mittagessen, weil sie es sich nicht leisten können, während sie in Stuttgart ihre ganz billigen Quellen haben (Hoover-Speisung). Aber sollte sich der Esslinger Tag nicht ganz beseitigen lassen, müssten wir glaube ich doch darauf dringen, dass unter allen Umständen ein Vormittag dafür genügt. Vor allem dürften eben nicht zwischen die nur in Esslingen zu geniessenden Fächer solche gelegt werden, die eigentlich nach Stuttgart gehören und die den Esslinger Tag also unnötig aufblähen, den Stuttgarter Lehrern die Schüler wegnehmen und vor allem Stundenplan-Schwierigkeiten am laufenden Band mit sich bringen. Wenn also überhaupt noch Fahrten nach Esslingen stattfinden, müsste es so gelegt werden, dass die Studierenden etwa Dienstag früh dorthin fahren und zum Mittagessen wieder in Stuttgart sind.
Ich höre Dich jetzt einen Ferienseufzer ausstossen und sehe, wie Du das Ende des Briefes mit den Augen suchst. Aber ganz lasse ich Dich trotzdem noch nicht in Ruhe, sondern fahre mit einer gewissen Schadenfreude fort: Dann wäre da noch ein kleiner Punkt, der das Orchester-Dirigieren der Abteilung für Schulmusik betrifft. Die Klagen reissen nicht ab, dass in der Prüfung die Studierenden z. T. zum erstenmal vor einem Orchester stehen. Wie schaffen wir Abhilfe? Vor allem wäre die grundsätzliche Frage zu klären: soll ich mich darum kümmern oder soll Herr Dr. Koslik dies tun? Von dieser grundsätzlichen Frage hängen dann die Massnahmen im einzelnen ab. Es wurde schon der Plan ausgesprochen, dass man ja evtl. ein kleines Streichorchester, das ohne weiteres aus den schlechtesten Spielern, die für das grosse Orchester noch nicht reif sind, abspalten könnte und mit diesem Orchester für die Schulmusiker jeweils ein Semester arbeiten, um ihnen vor allem die Orchesterbegleitung zu weltlichen und geistlichen Kantaten und auch das Einstudieren einiger kleinerer Orchesterwerke zu demonstrieren und praktisch zu üben. Es könnte ja aber auch so gehandhabt werden, dass in einer gewissen Abwechslung Dr. Koslik die Abteilung für Schulmusik ein Semester gewissermassen als Nebenfach bekommt und ich dafür die Orchesterdirigentenklasse ein Semester als Nebenfach für Chorleitung, um die spezifisch chorischen Fragen mit den Orchesterdirigenten zu besprechen. Aber vielleicht wäre doch der erste Vorschlag der bessere. Was meinst Du?
Aber nun will ich Dich wirklich in Ruhe lassen. Geniesse die restlichen Ferientage vollends und nimm mit Deiner ganzen Familie für heute
viele herzliche Grüsse
von Deinem
[A4, 3 Seiten, maschinengeschrieben, Durchschlag in den Akten HG]
22.12.1949 Keller an Grischkat
Degerloch, den 22. 12. 49.
Lieber Hans!
Ihr habt unseren Andreas (so heisst er, nicht Thomas !) so lieb beschenkt, und ich hab gar nichts, um mich zu revanchieren zu können!! Aber ich bin einfach zu verblödet, um noch etwas aussuchen zu können, ich muss den ganzen Betrieb mal etwas los werden! Ich werde dann später mal.. usw.
Und verzeih, dass ich am 14. so hässlich war! Der Chor hat gut gesungen, und das Werk hat lebhaftes für und wider hervorgerufen, - also, was es sollte!
Feiere du nun auch mit deiner Familie, ehe die nächste Konzertwelle dich überflutet!!
Und für 1950: da müssen wir schon recht zusammenhalten, damit alles gut geht!
Lass dich herzlich grüssen von Deinem H.
[A5 quer, maschinengeschrieben, nur Unterschrift von Hand]
Singkreis-Rundbrief Nr. 9 · Februar 1956
Unsere Singkreise Rundbrief Nr. 9 - Stuttgart, Mitte Februar 1956
Lieber Hermann Keller!
Du wirst erstaunt sein, an dieser Stelle einen Brief an Dich veröffentlicht zu finden, den Du gar nicht bekommen hast. Du wirst, wenn Du ihn liest, vielleicht noch mehr erstaunt sein, dass dies ein verspäteter Geburtstagsbrief ist, und wirst vielleicht denken: Mein Freund Hans Grischkat hätte auch seinen Geburtstagsgruss zu meinem 70. Geburtstag rechtzeitig anbringen können und nicht ein Vierteljahr nach dem Fest. Aber dieser Brief ist eigentlich gar nicht für Dich bestimmt. Du brauchst ihn also nicht zu lesen; denn Du weisst alles, was drin steht. Aber viele aus meinen Singkreisen wissen es nicht und denen möchte ich's sagen. Dass Hermann Keller am 20. November 1955 70 Jahre alt wurde, haben ja wohl alle in der Zeitung gelesen. Aber dass dieser selbe Hermann Keller einer unserer ältesten Freunde ist, dass wir ihn beinahe schon als Mitglied zu den Grischkat-Singkreisen rechnen müssen, wissen doch viele, die erst in den letzten Jahren zu uns gestossen sind, noch nicht.
Bevor ich es überhaupt wagte, mich an den berühmten Hermann Keller zum ersten Mal unmittelbar zu wenden, hatte ich ihn schon zweimal aus der Ferne gesehen: Einmal bei einem Chorabend des Akademischen Musikvereins in Tübingen, wo ich unter Leitung meines Lehrers Karl Hasse als Chorbass das Bruckner-Tedeum mitsang, und Du - es war am Tage Deiner Promovierung - den Chor am Flügel begleitet hast. Und dann ein zweites Mal beim Bachfest in Calw im Mai 1925. Du spieltest auf diesem Fest die Orgel, und ich war mit einigen Mitgliedern meines Reutlinger Singkreises, der damals gerade ein Jahr lang bestand, als Hörer nach Calw gepilgert. Aber diese beiden "einseitigen Begegnungen" waren ja nur Vorspiele!
Wenn ich nun in meinen alten Programmen zurückblättere, finde ich Deinen Namen zum ersten Mal bei der für meine Singkreise und mich besonders denkwürdigen ersten Aufführung der Matthäus-Passion in Reutlingen am Karfreitag des Jahres 1929. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass aus diesem ersten Musizieren eine jahrzehntelange gemeinsame musikalische Arbeit werden würde. Ich könnte einen ganzen Rundbrief mit Erinnerungen an unser Musizieren füllen. Aber das geht ja nicht. So mag es genügen, aus der Fülle einzelne Begebenheiten herauszugreifen:
Schon im Jahre 1930 wagtest Du es, meinen Reutlinger Singkreis in die Markuskirche zu einer Bach-Kantaten-Aufführung zu bitten und so mir jungem Chorleiter eine erste Möglichkeit des Musizierens in der Landeshauptstadt Stuttgart zu verschaffen. Die Daten der für mich unvergesslichen Aufführung: Palmsonntag, 13. April 1930, 20 Uhr in der Markuskirche Stuttgart, Johann Sebastian Bach "Drei Kantaten":
Nr. 131 "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir"
Nr. 104 "Du Hirte Israel, höre"
Nr. 106 "Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit"
Und dann standest Du ja auch Pate bei der Gründung des Schwäbischen Singkreises im Jahre 1931. Du wirst es vielleicht schon gar nicht mehr wissen, dass Du mir damals auf meine etwas ängstlichen Fragen sehr kräftig zugeredet hast, den kleinen Auslesechor weiterzuführen, mit dem ich im August 1930 durch das Banat und Siebenbürgen gefahren war. Und Du ludst dann den neugebackenen Schwäbischen Singkreis schon zum ersten Advent 1932 in die Markuskirche ein, um die von uns neu erarbeitete Bach-Motette "Singet dem Herrn ein neues Lied" in Stuttgart zu musizieren. Es war damals das erste Mal, dass ein einheimischer Chor diese grosse Bach-Motette in Württemberg singen konnte.
Weitere Stationen auf unserem gemeinsamen Weg: Unser Reutlinger Bachfest 1935, die Stuttgarter Musiktage 1936 und 1937. Ausser bei diesen grossen, besonders in Erinnerung bleibenden Veranstaltungen war in jenen Jahren vor dem zweiten Weltkrieg Dein Name auch sonst immer wieder auf den Programmen unserer Singkreise au finden. Und was hast Du in diesen Jahren nicht alles bei uns gespielt und begleitet! Wie oft haben wir die Orgelmesse (den dritten Teil der Klavierübung) von Bach gemeinsam musiziert, wie oft hast Du die beiden Passionen, das Weihnachts-Oratorium, das Magnificat, begleitet. Und es mögen wohl ein halbes Hundert Bach-Kantaten gewesen sein, bei denen Du in unseren Abendmusiken an der Orgel wirktest. Nicht zu vergessen das Mozart-Requiem, das Bruckner-Tedeum, Händel-Orgelkonzerte und vieles, vieles andere.
Eigentlich möchte ich jetzt erst richtig anfangen, aus der Erinnerung so manche Einzelheit zu berichten. Aber das würde wohl zu weit führen. Nur einiges Wenige darf ich doch erwähnen: Erinnerst Du Dich noch an jenen Palmsonntag des Jahres 1937 in Geislingen? Wir wollten abends in einer Passionsmusik die Markus-Passion von Kurt Thomas singen. Du solltest zur Einleitung die c-moll-Passacaglia von Bach spielen. Nachmittags versammelten wir uns in der Kirche zu unserer nichtöffentlichen Generalprobe. Du warst der einzige Hörer in der Kirche, als wir die Passion für uns sangen, und kamst nach den letzten Tönen gepackt und erfüllt von dieser Musik auf die Empore und gabst dann für unsere Sängerinnen und Sänger, wohl auch noch unter dem Eindruck des Gehörten, eine Einführung in die Passacaglia, die ich nie vergessen werde. Anschliessend an die Einführung spieltest Du dann, gewissermassen als Deine Generalprobe, für unseren Singkreis die Passacaglia. Dieser Nachmittag klang in uns allen noch lange nach.
Der stolzeste Augenblick für mich war es übrigens, als Du nach der Kantaten-Aufführung des Schwäbischen Singkreises im Rahmen des Stuttgarter Bachfestes im März 1934 nach der Kantate "Es erhub sich ein Streit" zu mir auf die Empore der Stiftskirche kamst und mir das "Du" anbotest.
Dabei verlief unser Zusammenwirken gar nicht immer reibungslos. Ich glaube, das darf man hier auch feststellen. Erinnerst Du Dich noch an jene Matthäus-Passions-Probe in der Stiftskirche, in der ich die Evangelisten-Rezitativs sehr obertönig registriert haben wollte? Du warst anderer Ansicht. Und als ich immer weiter drängte, suchtest Du schliesslich eine Registrierung zusammen, die Deiner Meinung nach selbst ich ablehnen musste. Aber siehe da, ich sagte: "Ja, so ist's gut, so lassen wir's." Da hättest Du meinen Freund Hermann Keller sehen sollen: Zwei, drei Akkorde in dieser Registrierung spielte er noch; dann aber rief er laut über die Mitwirkenden hinweg: "Ich find's scheusslich!" Das befreiende Gelächter Aller löste die Spannung, und Du konntest weiter so registrieren, wie Du es für richtig hieltest.
Von einem anderen Zusammenstoss muss ich doch auch noch berichten: Du hörtest Dir - damals schon Direktor der Hochschule - im Jahre 1951 die Generalprobe für eine gemeinsame Veranstaltung des Schwäbischen Singkreises und des Kammerchores der Hochschule an. Zusammen sangen die beiden Chöre die Marx-Motette "Werkleute sind wir". Der Schwäbische Singkreis musizierte allein das vielumstrittene "Lob der Träne" von Pepping. Wir hatten kaum geendet, als Du auch schon losbrachst: "Der Schwäbische Singkreis tut mir leid, dass er so etwas singen muss." Es gab ein grosses Hin und Her, denn manchem vom Schwäbischen hattest Du aus der Seele gesprochen, andere beinahe vor den Kopf gestossen. Die eigentliche Auseinandersetzung mussten wir dann aber auf die Tage nach der Aufführung verschieben, wo wir im Rahmen Deiner Hochschulvorlesungen das berühmte Streitgespräch um "Das Lob der Träne" hielten.
Leider muss ich mich auch beim Aufzählen unserer "Zusammenstösse" bescheiden, aber ich möchte doch gestehen, dass auch sie mir in meinem Erinnerungsbild an unsere gemeinsame Arbeit ebenso liebe Züge sind, wie das Wissen um unser sonst so gutes Einvernehmen.
Lieber Hermann! Du sitzest nun schon seit einigen Jahren bei unseren Aufführungen nicht mehr auf der Orgelbank. Dass wir in Eva Hölderlin-Liedecke und ihrem Mann, Herbert Liedecke (oder wie ich mich manchmal scherzhaft ausdrücke, in der Firma "Höldecke & Liederlin") Nachfolger gefunden haben, die auch Du schätzest und mit denen ich mich menschlich und musikalisch verstehe, sehe ich als einen besonderen Glücksfall an. -
Habe ich nun den Neulingen der Grischkat-Singkreise all das genügend deutlich erzählt, was Dich und unsere Singkreise verbindet? Oder habe ich etwas Wichtiges vergessen? Dann müsstest Du darüber eben in unserem nächsten Rundbrief berichten. Aber bitte erzähl dann nichts über den Orgelunterricht, den ich in jungen Jahren bei Dir genossen habe; ich möchte nicht allzusehr in der Achtung meiner Chorsänger sinken.
Nimm in alter Verbundenheit viele herzliche Grüsse von Deinem
Hans
17.09.1956 NBG Mahrenholz an Keller
Der Vorsitzende
Hannover, am 17. Sept. 1956
Kerstingstraße 28
Büro: Aegidendamm 8
Herrn
Professor Dr. Keller
Stuttgart-Degerloch
Lohengrinstr. 30
Lieber Herr Keller!
Es freut mich sehr, daß wir nach so langen Jahren einmal wieder miteinander austauschen können, zumal noch in einer so schönen Sache wie die eines künftigen Stuttgarter Bachfestes.
Die Neue Bachgesellschaft hat beschlossen, im Jahre 1958 nach Stuttgart zu gehen. Sollte Grischkat für 1957 ein solches Bachfest in der Karwoche planen, so würde das mit unseren Plänen nicht kollidieren. Für 1958 müßten wir freilich dafür Sorge tragen, daß keine Häufung von Bachveranstaltungen kommt.
Auf jeden Fall bin ich Ihnen sehr dankbar für diesen Hinweis und hoffe, daß, wenn die Planungen beginnen, eine Lösung gefunden werden kann, die alle Beteiligten befriedigt.
Mit den besten Grüßen !
Ihr
G. Mahrenholz
[A4, 1 Seite, maschinengeschrieben, auf Briefpapier der Neuen Bachgesellschaft (mit Bach-Kopf), Unterschrift handschriftlich. Auf der Rückseite von Hand Hermann Kellers:
St. 19. 9. 56
Lieber Hans!
Herzlich
Dein H. ]