Die Marienvesper von Claudio Monteverdi

Vorbemerkung

Die nachfolgenden Texte haben nichts mit "Hermann Keller" zu tun, werfen aber ein so interessantes Licht auf die Situation der Kirchenmusik in der frühen Nachkriegszeit, dass ich sie hier publizieren möchte:
Hans Grischkat hatte mit seinen Ensembles in der Markuskirche Stuttgart die "Marienvesper" aufgeführt, wurde beim Oberkirchenrat "angezeigt" wegen unakzeptabel katholischen Texten im evangelischen Gotteshaus...
Dies führte zu einem apodiktischen Verbot durch die Landeskirche, trotz Intervention vieler, vor allem auch des Markuskirchenpfarrers Rudi Daur. Seine Darstellung der Causa und Stellungnahme sind höchst lesenswert.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann man sich solche Auseinandersetzungen gar nicht mehr vorstellen.


Unsere Singkreise Rundbrief Nr. 6 - Stuttgart, 1. Februar 1955

Liebe Freunde! In unserem letzten Rundbrief haben wir die Passauer Tage noch einmal vor uns erstehen lassen, diese herrlichen Sommertage in der Dreiflüssestadt, die noch immer in uns nachklingen. Wir konnten damals nicht alles veröffentlichen, sondern mussten manches Manuskript für diesen Rundbrief zurückstellen, der zum grössten Teil auch noch einmal unter dem Zeichen "Passau" stehen sollte.

Aber nun sind in den letzten Wochen einige Fragen für uns so stark in den Vordergrund getreten, dass wir es für notwendig halten, auch in diesen Blättern ausführlich darauf einzugehen. Die Aufführung der gewaltigen Marienvesper von Claudio Monteverdi hatte leider ein kirchlich-theologisches Nachspiel, das zu Meinungsverschiedenheiten führte, die weit über diesen Einzelfall hinausgreifende, sehr ernste und grundsätzliche Dinge anrühren. Ich habe darum unseren alten Freund, den ersten Pfarrer an der Markuskirche, Rudolf Daur gebeten, über das Geschehene zu berichten. Seine ausführliche Darstellung ist auf den nächsten Seiten wiedergegeben.

Wir hatten alle gehofft, dass nach der ersten Besprechung auf dem Oberkirchenrat die Gespräche mit den beteiligten Stellen weitergehen oder besser gesagt, nun erst richtig beginnen würden, und dass als Grundlage für diese Gespräche die auf den Seiten 3 und 4 veröffentlichten 15 Sätze dienen könnten. Wir hatten auch gehofft, dass unser Vorschlag, eine Arbeitsgemeinschaft zu bilden, wie er auf Seite 4 unten ausgesprochen ist, aufgegriffen würde, und wir hatten weiter gehofft, dass unsere Anfragen an Prof. Dr. Köberle, Tübingen, und Bischof Stählin, Rimsting, nur ein Anfang bei der Behandlung all dieser Fragen seien und dass in den nächsten Wochen und Monaten weitere Theologen und Kirchenmusiker zu Wort kämen.

Da hat es uns alle nun äusserst schmerzlich berührt, dass im Amtsblatt der Evangelischen Landeskirche in Württemberg vom 5. Januar 1955 ein Erlass erschien, der unter die ganze Angelegenheit durch ein Verbot einen Schlusspunkt setzen möchte. Wir fragen uns ehrlich bestürzt, ob es notwendig war, solche schwerwiegenden, über den Einzelfall hinausgreifenden Fragen und Bedenken in dieser Zeitkürze durch ein einfaches Verbot abzutun. Warum konnte unser Vorschlag, eine Arbeitsgemeinschaft zusammenzurufen, nicht aufgegriffen werden? Warum war solche Eile notwendig, wie sie der Vergleich der folgenden Daten aufzeigt?: Am 14. November 1954 fand die Aufführung der Monteverdi-Vesper statt, am 10. Dezember die erste Besprechung auf dem Oberkirchenrat, am 21. Dezember bereits wurde der Erlass formuliert, der im Amtsblatt vom 5. Januar 1955 erschienen ist. (Wir geben den Erlass auf Seite 6 des Rundbriefs wieder).

Was waren die Gründe, die eine so schnelle Entscheidung veranlassten? War es die Sorge um die Menschen, die am Text der Marienvesper Anstoss genommen haben? Oder erschienen unsere Anliegen so unwichtig, dass sie überhaupt nicht ernst genommen und daher einer Diskussion nicht für wert erachtet wurden?

Wenn der "Anstoss" als treibende Kraft wirkte, muss doch bedacht werden, dass der Begriff des Anstossnehmens nicht nur gegen, sondern auch sehr stark für uns spricht! Denn wieviele kirchliche evangelische Menschen an diesem Erlass des Oberkirchenrats Anstoss nahmen, haben mir in den letzten Tagen zahlreiche Telefon-Anrufe und Gespräche gezeigt, kurz nachdem der wesentliche Inhalt des Erlasses in der Tagespresse veröffentlicht worden war. Sollte aber ein Gespräch über diese Fragen gar nicht gewünscht werden - und zwar ein Gespräch, das die Entscheidung nicht schon vor seinem Beginn vorwegnimmt, sondern das die Entscheidungen nach beiden Seiten hin offen lässt - so würden wir das aufs tiefste bedauern. Für uns ist diese Angelegenheit keinesfalls abgeschlossen.
Hans Grischkat

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Die Marienvesper in der evangelischen Kirche?
Hans Grischkat hat mich gebeten, über das kirchlich-theologische Nachspiel, das die Aufführung der Marienvesper von Claudio Monteverdi in der Stuttgarter Markuskirche am 14. November 1954 hatte, hier einen Bericht zu geben. Es handelt sich dabei um Fragen, die nicht nur den Singkreis, der dies grossartige Werk mit besonderer Hingabe und Freude erarbeitet und dargeboten hat, angehen, sondern die weit hinausgreifen in die geistige Gesamtlage unserer Zeit. Dabei geht es nach meiner Ueberzeugung um Fragen, die nur in gemeinsamer Bemühung vieler ihrer Klärung zugeführt werden können. Was ich hier zu bieten vermag, soll nur Material und Anregung zu einer solchen sein, keineswegs erschöpfend, aber vielleicht doch ein wenig helfend zum eigenen Nach- und Weiterdenken.

Ueber die Aufführung selbst brauche ich so wenig etwas zu bemerken wie über die musikalische Qualität der Komposition des genialen italienischen Meisters. Darüber sind die Leser dieser Blätter im Bild. Dass die Hörer, die unsere grosse Kirche bis auf den letzten Platz füllten, tief beeindruckt waren, war deutlich zu spüren.

Freilich meldeten sich auch einige kritische Stimmen. Nicht die künstlerische Grösse und Einzigartigkeit des Werks wurde in Frage gezogen. Ebensowenig die Wiedergabe durch Hans Grischkat, seinen Chor, die Solisten und das Orchester. Da war sich, soviel ich sah und hörte, alles einig. Ich persönlich ging, wenn ich das hier anfügen darf, mit dem Wunsch weg, man möge dieses grandiose Werk jedes Jahr einmal hören dürfen.

Die kritischen Stimmen bezogen sich auf den ausgesprochen katholischen Charakter des Textes. Dabei handelt es sich vor allem um folgende Stellen:

1. Die Anthiphon "Audi coelum" mit den Worten:
Quae semper tutum est medium
inter homines et Deum,
pro culpis remedium.
Omnes hanc ergo sequamur,
quae cum gratia mereamur
vitam aeternam.
Consequamur.
Praestet nobis Deus,
Pater et Filius
et Mater praestet nobis.


Sie ist allezeit die sichere Mittlerin
zwischen Menschen und Gott,
das Heilmittel gegen alle Schuld.
Drum wollen wir alle ihr folgen,
dass wir durch deren Gnade erwerben
das ewige Leben.
Wir wollen ihr folgen.
Gott möge uns das verleihen,
der Vater und der Sohn
und die Mutter möge uns das verleihen!

2. Die "Sonata sopra Sancta Maria", deren Text lautet:
Sancta Maria ora pro nobis.


Heilige Maria, bitte für uns!

3. Den Hymnus "Ave maris stella". Der Text ist allgemein bekannt:
Ave maris stella "


Meerstern, ich dich grüsse...

Im Kirchengemeinderat der Markuskirche entspann sich ein lebhaftes Gespräch, bei dem die Meinungen geteilt waren. Neben grosser, dankbarer Freude, dass uns solch ein Werk aus einer anderen, aber uns doch vielfältig verbundenen Glaubenswelt erschlossen wurde, standen ernste Bedenken: Müssen solche Aeusserungen der Marienverehrung, ja -vergottung in einem evangelischen Gotteshaus nicht verwirrend wirken, ausgerechnet jetzt nach der Dogmatisierung der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, jetzt im "Marienjahr" und nach der Fuldaer Weihe des deutschen Volks an das unbefleckte Herz der Gottesmutter? Haben wir eigentlich alles protestantische Rückgrat verloren? Können wir künstlerisch geniessen - in einer evangelischen Kirche! -, was wir religiös-theologisch, was wir als evangelische Christen ablehnen müssen?"

Auch beim Evg. Oberkirchenrat ging eine Beschwerde ein, der der Vesper-Text beigelegt war mit den rot angestrichenen beanstandeten Stellen.

In einem Schreiben, das Hans Grischkat und mich zu einer Besprechung der Angelegenheit im kirchenmusikalischen Beirat des Evg. Oberkirchenrats einlud, hiess es: "Wie in anderen Landeskirchen Deutschlands, so hat es auch in der Württembergischen Landeskirche Befremden und schweren Anstoss erregt, dass und wie im Raum evangelischer Kirchenmusik der Götzendienst der katholischen Marienverehrung Platz gegriffen hat".

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Ich habe zu meiner eigenen Klärung und als Grundlage für diese Besprechung 15 Sätze aufgestellt, die ich wohl hier anfügen darf:

1. Marienverehrung ist an sich ein uralt christlicher Brauch, in den ohne Zweifel schon frühzeitig vor- und ausserchristliche Elemente eingeströmt sind wie in viel christlich-kirchliches Brauchtum auch sonst (Weihnachtsbaum, Osterhase, Kirchweih usw.).

2. Auch in der zur Oekumene gehörigen Ostkirche spielt die Marienverehrung von jeher bis heute eine bedeutsame Rolle.

3. Luthers Stellung zur Marienverehrung hat verschiedene Phasen durchgemacht. Noch auf dem Höhepunkt seines reformatorischen Wirkens im Magnificat 1522 hat er in aller Harmlosigkeit die Fürbitte der Gottesmutter angerufen.

4. Die herrlichsten Werke christlicher Kunst sind grossenteils ehrfürchtige Darstellungen der göttlichen Jungfrau, der Schmerzensmutter, der Himmelskönigin. Kein Vernünftiger wird etwa deshalb, well sie auf solchen Bildern Krone oder Heiligenschein trägt, diese aus seinem Leben oder von den Wänden seines Hauses verbannen wollen. Bilderstürmerei ist noch stets ein Zeichen der Pietät- und Kulturlosigkeit gewesen.

5. Die Entwicklung, die die Marienverehrung in der römisch-katholischen Kirche in neuester Zeit genommen hat, hat in evangelischen, übrigens auch in katholischen Kreisen Bedenken erweckt. Diese in brüderlicher Form zum Ausdruck zu bringen, ist gutes Recht jedes Christen.

6. Unrecht und gefährliche Ueberhebung ist es jedoch, von Götzendienst des christlichen Bruders zu reden, wenn dabei nicht ernstlich bedacht und ehrlich ausgesprochen wird, dass jeder Mensch, auch jeder Christ in jedem Augenblick in Gefahr steht, anderen Mächten mehr zu trauen als dem einen unsichtbaren Gott. Und das allein kann doch mit dem Götzendienst gemeint sein.

7. Auch die Jesusverehrung kann zum Götzendienst werden. Nicht alle Jesuslieder der evangelischen Christenheit, etwa des Pietismus, sind dieser Gefahr entgangen. Sie deshalb aus dem Gottesdienst der evangelischen Kirche ausschliessen zu wollen, wird niemandem einfallen.

8. Die Motive der gesteigerten Marienverehrung im römischen Katholizismus von heute zu erforschen, das Berechtigte daran zu erfassen und etwaige Fehlentwicklungen zu erkennen und zu überwinden, ist eine dringliche Aufgabe der katholischen Theologie, an der nicht wenige ihrer Vertreter mit einem ganz auf die heilige Schrift gerichteten Blick ernstlich arbeiten.

9. Wo die evangelische Theologie ihnen in brüderlicher Weise dabei hilft, tut sie einen wichtigen gesamtchristlichen Dienst. Wo sie vom hohen Ross der Rechthaberei herab Verdikte fällt, versündigt sie sich wieder einmal gegen die Einheit des Leibes Christi.

10. Dass die Frage der rechten und wahrhaft christlichen Marienverehrung heute umstritten ist, darf uns nicht abhalten, uns an den Meisterwerken christlicher Kunst der Vergangenheit dankbar zu freuen, auch wenn sich in ihnen schon Ansätze zu einer Entwicklung finden, gegen die wir Heutigen Bedenken haben. Wie weit diese Bedenken berechtigt sind, muss freilich noch geklärt werden.

11. Ob es in der gegenwärtigen Zeit der beschämenden erneuten geistigen und konfessionellen Frontenversteifung geraten ist, Bildern wie etwa Stefan Lochners "Maria im Rosenhag" oder Albrecht Dürers "Himmelfahrt der Maria", "Himmelfahrt der Magdalena" u.ä. Raum in unseren evangelischen Häusern, Werken wie Monteverdis "Marienvesper" Raum in unseren evangelischen Kirchen zu geben, ist eine Frage der inneren Kraft evangelischen Christentums. Sofern dieses klar und stark ist, wird es auch durch ihm

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fremde Formen der Anbetung, wenn sie nur echt und lebendig sind, hindurchzuhören vermögen, wird es nicht um Garizim oder Zion, um Maria oder Jesus streiten, sondern die Anbetung des Vaters im Geist und in der Wahrheit hier wie dort erspüren, sich dankbar an ihr freuen und sie nach Kräften fördern.

12. Bei der derzeitigen geistlichen Ohnmacht des evangelischen Kirchentums legt es sich freilich nahe, vorsichtig zu sein und Werke, die die schwachen Gemüter verwirren könnten, nicht darzubieten ohne ernstliche Prüfung, was den einzelnen Gemeinden an geistlicher Reife, Weisheit und Liebeskraft zugetraut und zugemutet werden kann.

13. Die Erziehung unserer Gemeinden zu solcher inneren Reife und Kraft ist eine wichtige Aufgabe der evangelischen Kirche. Sie würde versäumt, wenn alles, was in den Formen ausgesprochen katholisch ist, also etwa Bruckners Messen, aus dem Raum der evangelischen Kirche hinausgewiesen würde. Das bedeutete eine weitere geistige und geistliche Niederlage und Verarmung des Protestantismus. Ob er sich eine solche leisten kann und um seiner schwachen Glieder willen leisten muss, ist die Frage, um die es geht.

14. Wenn dabei allerdings ein unter einem bewusst evangelischen Leiter singender, grösstenteils aus evangelischen Sängern bestehender, mit höchstem Ernst arbeitender Chor genötigt würde, auf ein Werk wie Monteverdis Marienvesper entweder überhaupt zu verzichten oder damit in einer katholischen Kirche, falls eine geeignete solche überhaupt zur Verfügung steht, Unterschlupf zu suchen, so müsste das als ein beschämendes Armutszeugnis der evangelischen Kirche betrachtet werden, das das Siegesbewusstsein der katholischen Kirche mächtig steigern würde.

15. Zu einem solchen wäre aber in dem Augenblick kein Anlass mehr, wo die evangelische Kirche sich mutig und freudig auf den Boden des Worts stellte:
Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes.

Die Besprechung, die übrigens in durchaus freundschaftlichem Ton und Geist verlief, hat zu keiner Einigung geführt. Auch nicht der anschliessende Briefwechsel, von dem dasselbe gilt.

Das ist nicht weiter verwunderlich. Das Problem ist angesichts der heutigen konfessionellen Lage in der Tat nicht einfach. Die Geister sind empfindlicher geworden, hüben und drüben. Die grosse Gelassenheit, die auch in fremden, vielleicht bedenklich erscheinenden Formen der Anbetung doch die Sehnsucht und Liebe eines nach der Wahrheit, nach Lebenshilfe, nach Gottes Wirklichkeit und Nähe verlangenden Herzens spürt, liegt verzweifelt nahe bei einem Relativismus, der von dem heiligen Eifer des Propheten um den Gehorsam gegen das erste Gebot, von dem überwältigenden Gefühl für die tiefe Kluft zwischen Mensch und Gott nichts mehr spüren lässt. Kann eine Kirche noch loben und vollmächtig verkünden, wenn sie nimmer überzeugt ist und der Ueberzeugung nimmer klaren, eindeutigen Ausdruck verschafft, dass es Irrlehre, Verführung und Götzendienst gibt, der abgewiesen werden muss, auch und gerade dann, wenn er im Gewand der Schönheit und Frömmigkeit auftritt? Wohin wären wir während der Hitlerzeit gekommen ohne diesen heiligen Eifer?

Aber nun: liegt das Problem der Marienverehrung wirklich so einfach, wie es nach der heute üblichen protestantischen Polemik scheint? Ich kann die Frage in ihrer Vielschichtigkeit hier unmöglich aufrollen. Mir schiene es richtig und überaus wichtig, dass eine Arbeitsgemeinschaft der besten evangelischen und katholischen Theologen und Kirchenmusiker, zusammen mit einsichtigen Tiefenpsychologen und Symbolforschern sich an dies Problem heranmachte. Ich habe die Hoffnung, man käme in gemeinsamer, intensiver geistiger und geistlicher Arbeit, vielleicht jahrelanger Arbeit, tiefer und weiter als durch die jetzt üblich gewordene Art der Erklärungen herüber und hinüber, die hüben und drüben doch meist vom hohen Ross des Rechthabens und ohne eigentliches Verständnis für das Anliegen des andern gegeben werden.

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Aber was sollen wir "inzwischen" tun? Werke wie Monteverdis Marienvesper, die übrigens ganz offenkundig Stellen enthält, die auch der streng katholische Dogmatiker nur mit Missbehagen oder mit dem Schmunzeln des historisch und psychologisch denkenden und verstehenden Weisen lesen und geniessen wird, nun einfach auf den Index der zum mindesten in evangelischen Kirchen verbotenen Dinge setzen? Wer würde diesen Index aufstellen? Ist die Verwaltung oder die Synode einer einzelnen Landeskirche dafür zuständig?

Oder eine Einzelgemeinde? Oder eine theologische Fakultät? Oder müsste dafür eine besondere Indexkongregation erst noch gebildet werden? Oder soll man (wiederum: wer ist "man"?) den Chor und seinen Meister ersuchen, sich bei Aufführung solcher Werke um Aufnahme in eine katholische Kirche oder in einen weltlichen Konzertraum zu bemühen? Wer hätte davon den Gewinn? Und was heisst "solcher Werke"? Gehört dazu dann auch etwa Hugo Distlers, des gut evangelischen Meisters, "Weihnachtsgeschichte", die den alten Vers enthält:

Lob, Ehr sei Gott dem Vater / dem Sohn und heilgen Geist.
Maria, Gottes Mutter / dein Hilf an uns beweis,
und bitt dein liebes Kind / dass es uns woll behüten,
verzeihen unser Sünd.

Oder vielleicht kann jemand solche Verse umdichten. Man hat ja solche grausigen Versuche immer wieder einmal gemacht, z.B. mit Bachs Matthäuspassion. Es wird schwerlich ein Verständiger heute dazu raten wollen oder bereit sein. Oder soll man die bedenklichen Stellen weglassen? Wenn sie aber so eindeutig im musikalischen Zentrum des Werks stehen wie gerade bei Monteverdi?

Ich sehe keinen anderen Weg, als dass man bei Aufführungen derartiger Werke auf das Programm, am besten wohl auch ins Gemeindeblatt oder sonst in die Presse eine Bemerkung setzt etwa folgenden Inhalts:

"Es mag verwunderlich erscheinen, dass ein Werk, das offenkundig auf katholischem Glaubensboden gewachsen ist und religiöse Anschauungen zum Ausdruck bringt, die dem Protestanten von heute fremd sind und um die sich in unserer Zeit ernste Meinungsverschiedenheiten zwischen den christlichen Konfessionen ergeben haben, in einer evangelischen Kirche aufgeführt wird. Das hat seinen Grund nicht nur in der äusserlichen Tatsache, dass in unserer Stadt keine katholische Kirche vorhanden ist, die räumlich und akustisch für eine solche Aufführung ausreicht, und der weltliche Konzertsaal nicht der Ort ist, an den sie gehört. Wir sind darüber hinaus der Ueberzeugung, dass Werke wie Bachs Passionen, Monteverdis Vesper und Motetten oder Bruckners Messen der ganzen Christenheit gehören und dass es auch dem Protestanten, der manche der im Text stehenden Worte nicht nachsprechen kann, möglich sein sollte, sie in Ehrfurcht vor dem Glauben und Beten des Bruders zu hören."

Ich darf an dieser Stelle den beiden für gottesdienstliche und kirchenmusikalische Fragen hervorragend sachverständigen evangelischen Theologen, die ich in der Angelegenheit zu Rate zog, Prof. Dr. Köberle, Tübingen, und Bischof D. Stählin, Rimsting, herzlich danken für ihr verständnisvolles Eingehen auf unsere Fragen und die Unterstützung, die wir bei ihnen für unsere Haltung fanden. Zu den oben angeführten Sätzen schrieb mir Stählin: "...ausgezeichnet. Ich meine, damit müsste jedermann zufrieden sein".

Wollen wir hoffen und im übrigen das Unsere dazu tun, dass die Gegensätze nicht verschärft und vertieft werden, dass wir einander immer besser verstehen und miteinander den rechten Weg finden. Lest auch einmal wieder, liebe Freunde, das köstliche Märchen von Volkmann-Leander "Die himmlische Musik". Ihr kennt's doch? Wir wollen nicht streiten, wer den grössten Schnipfel himmlischer Musik erwischt und wer den eigensinnigsten Schnörkel dazu gemacht hat, sondern in der Freude auf den Tag, da wieder alles zusammenklingen wird, mit wachem Gewissen und weitem Herzen singen und spielen. Soli deo Gloria.
R. Daur

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Die auf den vorhergehenden Seiten angeschnittenen Fragen wurden durch folgenden, im neuesten "Amtsblatt der Evangelischen Landeskirche in Württemberg" veröffentlichten Erlass des Evang. Oberkirchenrats vom 2l. Dezember 1954 Nr. A. 14337, entschieden:

"Der Evang. Oberkirchenrat hat in seinem Erlass vom 10. April 1948 (Amtsblatt Band 33 S. 45 ff.) Richtlinien für die Zulassung von musikalischen Darbietungen in Kirchenräumen gegeben. Diese Richtlinien gehen davon aus, dass für Kirchenmusik, die in kirchlichen Räumen und von kirchlichen Chören und Kirchenmusikern veranstaltet wird, sowohl in textlicher wie in musikalischer Hinsicht bestimmte Forderungen erfüllt sein müssen. Es ist bedauerlich, dass in letzter Zeit in einigen Fällen ausgesprochen unevangelische Texte verwendet worden sind. Hiezu sind auch Mariendichtungen zu rechnen, die mit dem Schriftzeugnis und seinem reformatorischen Verständnis unvereinbar sind. Evangelische Kirchen können zur Aufführung von Werken der Tonkunst, die einer unevangelischen Mariengläubigkeit Ausdruck geben, nicht eingeräumt werden.

Die Mutter Jesu hat gewiss als die demütige Magd des Herrn in den Weihnachtsliedern auch der evangelischen Christenheit ihren unbestrittenen Platz. Ihr Magnifikat ist aber das Lob des Herrn und nicht das Lob Marias. Und ein evangelischer Kirchenraum ist nicht der Ort, um Lieder zu singen, in denen durch das "Marienlob" die alleinige Mittlerschaft Christi verdunkelt und in feinerer oder gröberer Form die Ehre Gottes verletzt wird. Maria ist weder die sichere Mittlerin zwischen Menschen und Gott noch das Heilmittel gegen alle Schuld; sie kann nicht mit dem Vater und dem Sohn in einem Atem als Mutter genannt werden, durch deren Gnade wir das ewige Leben ererben. Sie ist weder im allgemeinen die Fürbitterin, die mit einem ora pro nobis um ihr Eintreten bei ihrem Sohn anzurufen wäre, noch kann sie mit dem Ave Maria als gegenwärtig angesprochen, geschweige denn als Königin Himmels und der Erde gepriesen werden. Auch die allegorische Umdeutung Marias auf die Einzelseele oder auf die Kirche erlaubt es dem evangelischen Christen nicht, den von Menschen geschaffenen Mythus gelten zu lassen, und ihn, wenn vielleicht auch nur im Sinne eines unverbindlichen Kennenlernens bzw. Kunstgenusses, in die evangelische Kirchenmusik und in evangelische Kirchenräume einzuführen.

Es ist Pflicht der Pfarrämter und der Kirchengemeinderäte, die in den genannten Richtlinien gezogenen Grenzen im besonderen auch hinsichtlich solcher Marientexte scharf einzuhalten und grundsätzlich keine Kirchenmusik oder einzelne Lieder ohne genaue rechtzeitige Prüfung der Texte (d.h. womöglich bevor mit der Einübung begonnen wird) zuzulassen. Auch die schönste Musik rechtfertigt es nicht, dass die evangelische Kirchenmusik sich dem Verdacht aussetzt, sie gebe um ästhetischer Gesichtspunkte willen die Wahrheit preis.

Die Pfarrämter werden gebeten, hievon die Kirchengemeinderäte und die Kirchenmusiker zu verständigen.
J. V. Weeber"

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und zwanzig Jahre später :

Unsere Singkreise Rundbrief Nr. 53 - Kemnat, im September 1974

Zum Fest des fünfundzwanzigjährigen Bestehens des Reutlinger Singkreises, das vom 23. bis 26. Mai 1974 in Reutlingen gefeiert wurde

" Die Aufführung der Marien-Vesper von Claudio Monteverdi in der Marienkirche am Himmelfahrtsfest war der problematischste Teil der ganzen Planung. Lange Zeit war es nicht sicher, ob der Kirchengemeinderat die Benützung der Marienkirche gestatten würde. War doch 1954 die Aufführung dieser Vesper in der Markuskirche in Stuttgart zu einem öffentlichen Aergernis geworden, dem die Kirchenleitung mit dem Verbot einer weiteren Aufführung Rechnung tragen musste.
Doch in 20 Jahren hat sich manches geändert. So schreibt Dr. Koeser über die Aufführung: "In dieser Aufführung am 23. Mai in der dichtbesetzten Reutlinger Marienkirche dürfte kaum einer der vielhundert Zuhörer auch nur für einen Augenblick den Gedanken "Aergernis" gefasst haben. Sähe man es immer noch so konfessionell-ideologisch klein begrenzt, so wäre ja das ganze protestantische Reutlinger Marienkirchen-Gotteshaus ein "Aergernis". Nicht nur der Name müsste geändert, auch die kleine Andachtskapelle müsste umgetauft werden So wuchs denn die Aufführung der Marien-Vesper einerseits zu einem Kapitel Oekumene heran andererseits, und das natürlich vor allem, zu einem Ereignis an Reutlinger Kirchenmusik."