1916 · Bach als Maler und Musiker
Deutsche Tonkünstler-Zeitung
In der Bachliteratur, die seit etwa zwölf Jahren zu solchem Umfang angewachsen ist, daß es fast eines Spezialstudiums bedarf, um überhaupt auf dem Laufenden zu bleiben, sind auch die Textunterlagen, die Bach für seine Kantaten und Passionen verwendete, mit wissenschaftlichem Fleiß untersucht und kritisch-historisch behandelt worden. Zumal seit Albert Schweitzer in seiner 1905 erschienenen Biographie als erster nachgewiesen hatte, in welch entscheidender Weise Bachs musikalisch-bildlicher Ausdruck von seinen Texten beeinflußt ist, hat man gelernt, in diesen meist unglücklichen und schwachen "Dichtungen" den eigentlichen Grund zu der großartigen Tonsprache zu suchen, an deren Unsterblichkeit teilhaben. Bekanntlich weist Schweitzer mit überzeugender Beweiskraft nach, wie Bach aus seinen Texten ein Bild herausgreift (oft nicht einmal das zunächstliegende) und diesem einen musikalisch-malerischen Ausdruck verleiht, der sich in der Melodiebildung, in der Führung der Bässe, im Auf- oder Absteigen der Figuren usw. deutlich ausspricht. Das ist zweifellos richtig. Nachdem so das Wort den entscheidenden Anstoß zur Bildung der musikalischen Thematik gegeben hat, verliert es seine Führerrolle, und für den Aufbau eines Satzes entscheiden nur noch rein musikalische Gesetze. Aus dieser doppelten Gestaltung erklären sich dann die vielen Widersprüche, zu denen im Verlauf eines Stückes die Musik mit den Textworten tritt; wenn eine Wellenbewegung gemalt wird, während im Text längst keine Rede mehr davon ist u. dergl. Unzählige Beispiele belegen dieses.
"Ob man ein Choralvorspiel aus dem Orgelbüchlein oder einen großen Chor aus einer Kantate aufschlägt, fast immer geht das Motiv, welches schon im ersten Takte erscheint, durch alle Takte bis zum letzten durch, als kümmere sich der Komponist nicht um das, was sich unterdessen im Texte ereignet." (Schweitzer, S. 433). Nun scheint mir, als ob diese malerisch-bildliche Betrachtungsweise von Bachs Stil, wie sie im Anschluß an Schweitzer (und teilweise auch unabhängig von ihm) heute die fast allein herrschende geworden ist, und jedenfalls in der Auffassung der meisten Bachdirigenten, soweit sie sich überhaupt über solche Dinge Gedanken machen! deutlich hervortritt, nur dem ersten Teil des oben dargestellten Vorgangs gerecht würde. Oder kürzer ausgedrückt: man scheint den Maler Bach dem Musiker überordnen zu wollen!
Zugegeben, daß in der großen Mehrzahl Bach sich zur thematischen Erfindung bei seinen Gesangskompositionen durch bildliche Vorstellungen seiner Texte hat anregen lassen, so wird aber durch den Vorgang der musikalischen Komposition ein in Worten ohne weiteres klar verständliches Bild in Tönen allgemeiner, abstrakter, und jedenfalls für den, der diese musikalisch bildliche Sprache nicht versteht, nicht ohne weiteres verständlich. Daß ein lebhaft bewegter Dursatz Freude, eine piano chromatisch geführte Melodie Schmerz ausdrücken kann, darin darf man noch keinen Ansatz zur Tonmalerei sehen. Das ist eben die der Musik eigentümliche Sprache, die jeder Musikalische versteht, ohne immer mit Worten sagen zu können, was er da oder dort empfunden hat. Bei einer malenden Musik werde ich aber, ungeachtet ich sie rein musikalisch zu verstehen glaube, immer noch nach ihrer malerischen Bedeutung suchen, und dabei oft peinlich in der Irre gehen! Ein Beispiel statt vieler: der dritte Satz der Kantate "Ein feste Burg". In ihm singt bekanntlich der ganze Chor unisono "Und wenn die Welt voll Teufel wär..." während das Orchester dazu vielstimmig figuriert. Nach Schweitzer schildert diese Strophe den "Sturm der Teufel wider die Gottesburg. Ein Signal, aus den ersten Noten der Melodie gebildet, erschallt, worauf ein Heer grausig gewundener Leiber sich an den Mauern hinauf reckt (folgt das Notenzitat der ersten Takte der 1. Violine). Sie streben empor und sinken zurück, raffen sich nochmals auf, stürmen wieder hinan, stürzen wieder in die Tiefe ... ein wildbewegtes Gemenge, wie Bach es auch in der Kantate "Es erhub sich ein Streit" (Nr. 19) auf und nieder branden läßt. Trompetenfanfaren schmettern dazwischen. Von den Zinnen ertönt der Jubelgesang der Gläubigen: "Und wenn die Welt usw." Nach einer letzten Anstrengung bricht der wilde Ansturm in sich zusammen."
Soweit Schweitzer. Zweifellos ein großartiges Bild, eine geniale Illustration der Situation, wie sie der Luthervers malt. Aber, malt dasselbe wirklich auch die Musik?? Ich bitte jeden, der die Noten, wenn möglich die Partitur zur Hand hat, den Satz aufmerksam daraufhin durchzulesen. Zu den vier Streicherstimmen, mit denen die Holzbläser zusammen gehen (bis auf die Stellen, an denen auch sie selbstständig geführt sind, um eine Tonwiederholung in Sechzehnteln, wie sie die Geigen machen, zu vermeiden), kommen noch drei Trompeten, so daß die Harmonie also oft sieben- und mehrstimmig wird. Damit sollte Bach nun die "gewundenen Leiber der Teufel" vorstellen wollen, die gegen die Burg der Gläubigen anstürmen? Ich kann es nicht glauben. Wer diesen Satz ohne programmatische Bedeutung auf sich wirken läßt, wird sich von der Schönheit und Kraft seiner Polyphonie nicht abgestoßen, sondern erhoben fühlen. Bach, dem alle Mittel gewagtester chromatischer Harmonik zu Gebote standen, wenn er Schrecken, Furcht, Verzweiflung oder andere "Mächte der Finsternis" darstellen wollte, führt diesen großartigen Satz fast rein diatonisch von Anfang bis zum Ende durch. Man könnte sagen, daß der Cantus firmus des Chorals Bach zwingt, bei der Stange zu bleiben, dann aber würden die Zwischenspiele zwischen den Zeilen noch Möglichkeit genug zu harmonischer Ausweichung bieten. Ferner: wo stürzen die Teufel in die Tiefe? Bach hat einen Sturz oft genug drastisch dargestellt, hier aber läßt die stets verschlungene Polyphonie der Stimmen eine solche Tonmalerei gar nicht zu. Auch suche ich im Schluß, der ganz normal und dabei eindringlich kadenziert, vergeblich nach einem "Zusammenbrechen des wilden Ansturms". Und warum beginnt die angebliche Teufelsfigur mit einem Achtelmotiv, das aus dem Choral gebildet ist? (Der Baß behält es fast das ganze Stück durch, wenigstens der Bewegung nach, bei). Die anstürmenden Teufel werden ihr Sturmsignal doch nicht aus dem Trutzgesang der Gläubigen entnehmen? Offenbar doch, denn die Orchesterfiguration wird fast bei jedem Zeilenschluß durch dieses verkleinerte Choralmotiv eingeleitet. Einmal, nachdem die Gläubigen gesungen haben "Es soll uns doch gelingen", sogar in eindringlichster Weise im Einklang der Streicher und Holzbläser, und dann (zwei Oktaven höher!) noch in der ersten Trompete. Drei Takte später setzt übrigens die zweite Trompete mit dem "Feste Burg-Thema" in der Verdoppelung mit dem Baß durch zwei Oktaven Abstand ein, während dazwischen die selbständig geführten Stimmen der übrigen Instrumente sich bewegen. Es ist dies eine für Bach ganz ungewöhnliche Art der Oktavverdoppelung nach unten. Denn, daß die Trompete hierbei die führende, der Baß die geführte Stimme ist, nicht umgekehrt, kann man daraus entnehmen, daß der Baß den ihm zukommenden Themaeinsatz sofort nachher ohne Unterstützung anderer Instrumente bekommt. Wenn nun nach den Worten des Chors "Es soll uns doch gelingen" das Orchester so eindringlich wie möglich das Choralthema "Ein feste Burg" intoniert, so kann man das doch nur als zuversichtliche Bestätigung und Steigerung dieser Stimmung, aber niemals als etwas gegensätzliches dazu auffassen! Das wird doch von dieser Stelle oder den ihr parallelen niemand behaupten wollen. Andrerseits ist es mir ebenso unmöglich anzunehmen, daß das Orchester in diesem Satz eine doppelte Rolle, bald auf Seite der Gläubigen, bald auf derjenigen der Teufel spiele. Von der allgemeinen Absurdität dieses Gedankens abgesehen, ist die Fortführung des Achtelanfangs der einzelnen Zeilen (mit dem cantus firmus) in die bewegten Sechzehntel so ungezwungen, daß es ausgeschlossen scheint, der Musik von da ab plötzlich einen entgegengesetzten Charakter beilegen zu wollen. Trotzdem: die Anlage des ganzes Satzes mit ihrer Gegenüberstellung des im unisono geführten Chores (noch dazu mit diesem Text!) und des vielstimmig bewegten Orchesters muß eigentlich jeden auf solche Gedanken bringen, wie sie Schweitzer formuliert hat. Ja sogar Spitta, der im allgemeinen dem malerisch-programmatischen bei Bach noch entfernt nicht die Bedeutung zuerkennt, wie später Schweitzer und die andern, hat ähnliche Vorstellungen gehabt (II, 300): "Den Cantus firmus singt der ganze Chor im Einklange, während das Orchester ein Getümmel grotesker, wildanspringender Gestalten ausbreitet, durch welches der Chor unentwegt hindurchschreitet, eine Illustration der dritten Strophe ("Und wenn die Welt voll Teufel wär"), wie sie großartiger und charakteristischer nicht zu denken ist."
Nun kann man nur zweierlei annehmen: Einmal, daß Bach seine Sache nicht gut gemacht hat; daß er das teuflische Getümmel zwar schildern wollte, aber den Mut nicht hatte, das in so kühner und realistischer Weise zu tun, wie er in den Passionen das Weinen, Geißeln, das Durcheinanderschreien der Juden usw. dargestellt hat; oder daß er aus Schablone daran festhielt, auch in diesem Fall Motive des zugrundeliegenden Chorals im Orchester auftreten zu lassen. Obwohl nun Bach zwar vieles geschrieben hat, in dem die geistige Idee durch die Gebundenheit der Technik nicht rein zur Erscheinung kommt, so möchte doch wohl niemand dergleichen gerade von dieser Kantate, einem seiner Meisterwerke großen Stiles, annehmen. Die andere Erklärung ist durch die oben schon präzisierte Ansicht gegeben: daß wir bei Bach niemals die malerische Idee über die musikalische stellen dürfen. Nehmen wir aber an, daß Bach bei der Konzeption dieses Satzes in der Tat eine bildliche Vorstellung gehabt hat, wie sie Spitta und Schweitzer annehmen (was auch mir ganz sicher zu sein scheint), dann war diese malerische Idee bestimmend für die Anlage des Satzes im großen. Alle Stimmen singen vereint den Choral (ein derartiges Chorunisono aller vier Stimmen ist bei Bach etwas außergewöhnliches und macht es schon dadurch wahrscheinlich, daß Bach sich dabei "etwas gedacht" hat) und behaupten sich gegen ein vielstimmig bewegtes Orchester. Soweit ist Bach Maler. Von jetzt ab, bei der Ausführung dieses Vorwurfs, ist er aber nur noch Musiker, und stellt in seinen Orchesterfigurationen keine Leiber von anstürmenden Teufeln, noch sonst etwas vor, sondern figuriert diesen Satz mit seiner ganz gewaltigen Kunst, um damit der unbeweglichen Einheit des Chors eine möglichst packende (man könnte sagen dramatische, wenn das Wort nicht sofort wieder falsche Vorstellungen weckte!) Vielheit gegenüberzustellen. Dann ist der choralmotivische Anfang kein "Signal", sondern aus formal-musikalischen Gründen, wie sie allein jetzt noch gelten, durch Choralmotive eingeleitete Zwischenspiele an den Zeilenschlüssen des Chors. Daß sie Bach immer im unisono einführt, zeigt, wie markant er diesen Eintritt und wie deutlich er die Gliederung des ganzen Satzes haben wollte. Es wäre ein verhängnißvoller Irrtum, wenn man Bachs Musik in diesem Sinn als Programmusik hören wollte, wie Schweitzer es bei diesem Beispiel möchte. Man würde sie zugleich verkennen und degradieren, das Beste, das Größte in ihr nicht sehen. Gerade das wäre eine Hintenansetzung alles dessen, was ihre ungeheure moralische Wirkung auf unser Jahrhundert ausmacht, ihrer grandiosen Einheitlichkeit und Geschlossenheit rein musikalischer Art, die es im eben behandelten Beispiel sogar fertig bringt, die malerische Idee eines Gegensatzes so zu bändigen, daß ein Musikstück von absoluter Einheit der Stimmung daraus gebildet wird.
Hat man nun erst begonnen zu zweifeln, so begegnen einem auf Schritt und Tritt Fälle, in denen Bach offenkundig nicht nach dem Programm des Textes, sondern dem höheren der Musik entschieden hat. Ich meine dabei namentlich diejenigen Choralbearbeitungen, sei es nun in Eingangssätzen von Kantaten oder in Choralvorspielen für Orgel, in denen der Ausdruck der Musik dem des Textes nicht zu entsprechen scheint, weil jener für Bach nur da maßgebend war, wo er sich mit dem musikalischen Inhalt deckte. Tat er das nicht, dann war für Bach das musikalische, nicht das textliche ausschlaggebend. Ein kleines Erlebnis aus meiner Studienzeit bei Straube: Ich spielte das kleine, jedem Organisten bekannte Choralvorspiel aus dem fünften Band der Petersausgabe "Es ist das Heil uns kommen her". Ich frug, in welcher Stärke und in welchem Charakter das gespielt werden solle. "Das kommt auf den Text an, lassen Sie einmal sehen". Er las den moralisierenden ersten Vers: "Es ist das Heil uns kommen her, aus lauter Heil und Gnade, die Werke helfen nimmermehr", usw. "Demnach also etwa mezzoforte, mäßiges Tempo, ach, spielen Sie's forte!" Damit war etwa kurz das ausgedrückt, was ich oben auszuführen suchte. Ausschlaggebend ist nicht die Stimmung des Textes, sondern höher steht die Stimmung der Melodie, und die ist in diesem Fall über jeden Zweifel erhaben, freudig, triumphierend. Man könnte einwenden, daß Bach gar nicht die erste Strophe, sondern eine der folgenden, oder den Text "Sei Lob und Ehr' dem höchsten Gut" gemeint habe. Das gäbe letzten Endes eine Raterei, und ich kann nicht annehmen, daß eine Musik damit steht oder fällt, daß es mir gelingt, die Beziehung zu ihrer Unterlage richtig oder unrichtig erraten zu haben. Was mir die Musik nicht selbst sagt, kann mir auch ein Text nicht sagen. Das ist ein Leitsatz, der wohl für die ganze Musik gilt, mit Ausnahme der reinen Programmusik; und die gibt es für mich nur in der einen Form: als Illustration zu sichtbaren Bühnenvorgängen. Vokalmusik schlechthin rechne ich nicht zur Programmusik, denn dabei erhebt sich die Musik über den Text sowohl in der Selbständigkeit der musikalischen Form eines Liedes oder Chores, wie in der größeren Allgemeinheit des Stimmungsausdrucks. Wenn nun Bach einer Choralmelodie je nach ihrer Stellung, nach ihrem Text, einen ganz verschiedenen Ausdruck beilegt und das durch Wahl der Tonart, der Begleitung, der Harmonik mit unverkennbarer Deutlichkeit ausdrückt, so ist auch da für mich der Prüfstein, wie weit ich diesen Anregungen folgen will, lediglich die Musik selbst. Z. B. gerade in dem Choral "Sei Lob und Ehr" dem höchsten Gut" (B. W. Jahrg. XIII, Seite 148) auf die Worte "der allen Jammer stillt" piano zu singen, nur weil es dem Text zu entsprechen scheint, halte ich für schwach. Hätte aber Bach den "Jammer" durch Chromatik oder sonstwie auszudrücken versucht, wäre es nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar notwendig, das in der Ausführung zu beachten. Aber ich will keine Anweisungen geben, sondern lediglich zum Nachdenken anregen, und bin jedem dankbar, der mir seine abweichende Ansicht darüber begründet. Hinzufügen darf ich vielleicht noch, daß ich in dem trefflichen und bedeutenden Buche August Halms "Von zwei Kulturen der Musik" mit Bezug auf Beethoven und die übliche poetisierende Erklärungsweise seiner Werke das deutlich ausgesprochen fand, was mir bei Bach als langsam dämmernde Erkenntnis gekommen war, nachdem ich mehrere Jahre in der "malerischen" Auffassung seines Stils das einzige Heil gesehen hatte, nur daß der stilistische Unterschied von Bach und Beethoven so bedeutend ist, daß man die musikalische Analyse etwa der D-moll-Sonate op. 31 durch Halm, nicht ohne weiteres auf Bach übertragen darf. Um so schöner aber, wenn es gelänge, auf verschiedenen Wegen zum selben Ziel zu kommen!
Quelle:
Deutsche Tonkünstler-Zeitung
No. 310 Berlin, 5. November 1916. XIV. Jahrg.