1920 · Gibt es eine schwäbische Musik?

Der Schwäbische Bund

Wenn im "Schwäbischen Bund" auch von Musik die Rede sein soll, so darf erwartet werden, daß reine Fachfragen hier nicht behandelt werden, sondern den Musikzeitungen überlassen bleiben, dagegen die Grenzgebiete, an denen die Musik mit der allgemeinen geistigen Kultur zusammenhängt, einer Betrachtung unterzogen werden.

Und da ist es gleich die allgemeinste der aufzuwerfenden möglichen Fragen, die mich nicht mehr losgelassen hat: Gibt es denn überhaupt eine schwäbische Musik?

Daß es ein schwäbisches Musikleben gibt, darüber brauche ich keine Worte zu verlieren: es wird bei uns so viel Musik verübt wie nur irgendwo im deutschen Vaterlande, aber was ist an diesem Musikbetrieb schwäbisch? Unsere Musikinstitute, unsere Konzerte, ihre Besucher unterscheiden sich in keinem wesentlichen Punkt von dem anderer deutscher Groß- und Kleinstädte, und in ihnen könnte sich auch eine besondere Eigenart nicht ausdrücken, denn sie sind überall unter dem gleichen Zwang einer immer mehr mechanisierten Welt entstanden.

Und fragen wir die Geschichte über die Zeit vor dieser Umprägung und Uniformierung Europas, in der die einzelnen Stämme Deutschlands ihren Sondercharakter in allen Lebensäußerungen deutlich bewahrt hatten, dann stehen wir vor der überraschenden und etwas blamablen Tatsache, daß es eine musikalische Vergangenheit Schwabens gar nicht gibt! Keiner der großen deutschen Komponisten Deutschlands der letzten vier Jahrhunderte: ich nenne Heinrich Isaac, Heinrich Finck, Ludwig Senfl, Hans Leo Hasler (fünfzehntes bis sechzehntes Jahrhundert), Prätorius, Schein, Scheidt, Schütz, Froberger, Pachelbel, Buxtehude (siebzehntes Jahrhundert), Händel, Bach, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven (achtzehntes Jahrhundert), war Schwabe, und nur wenige von ihnen haben flüchtige Beziehungen zu seiner Hauptstadt gehabt. Nicht viel besser sieht es im neunzehnten Jahrhundert aus: Weber, Löwe, Mendelssohn, Schubert, Schumann, Brahms, Wagner, Hugo Wolf, Bruckner, auch unter ihnen ist kein Schwabe, und fast keiner (außer Weber und Hugo Wolf) ist mit Schwaben überhaupt in Fühlung gekommen. Ebenso mager ist die Ausbeute an reproduktiver Musik. Schwaben hat wenige berühmte Virtuosen, Sänger, Kapellmeister sein eigen genannt, denn in der Blütezeit des Stuttgarter Hoftheaters (im achtzehnten Jahrhundert) führte der Neapolitaner Jomelli das Zepter und ergötzten italienische Primadonnen mit ihrer Kehlfertigkeit und französische Tänzer mit ihrer Beinvirtuosität den Hof, und auf die musikalischen Zustände Stuttgarts in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts werfen Hans von Bülows bissige Bemerkungen in seinen Briefen und Schriften kein sehr erfreuliches Licht. Am ärmsten gegenüber der reichen Tradition des protestantischen Thüringen, Sachsen, Preußen und der katholischen Länder am Rhein und in Österreich steht Schwaben in der Kirchenmusik da, - diese Armut geht ihm bis auf die heutige Zeit nach. Aber trotz der raschen Blüte des Konservatoriums in der Epoche Leberts hat sich auch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das öffentliche Musikleben bei uns eher langsamer als im Reich entwickelt.

Bei der reichen künstlerischen Veranlagung des schwäbischen Stammes, die auch von Norddeutschland widerspruchslos anerkannt wird, ist dies alles gewiß auffallend. Die musikalische Veranlagung war ebensogut da wie auf jedem andern Gebiet der Kunst, aber sie trat nicht in Erscheinung oder erst sehr spät und auch letzt noch auffallend schwach. Die Vorbedingungen fehlten allzulange: das vorwiegend ländliche, vom Verkehr abgelegene Württemberg hatte zu wenig reiche patrizische Stadtbevölkerung, als daß diese eine musikalische Kultur hätten schaffen und fortpflanzen können; vom Hof war eine konsequente großzügige Unterstützung der Musik nicht zu erwarten, und der Verlauf der Reformation in Süddeutschland hatte die Kirchenmusik auf das bescheidenste Maß, den von der Gemeinde gesungenen Choral, zurückgedrängt.

Ist dieses Fehlen der schwäbischen Eigenart in der deutschen Musik nun ein Unglück zu nennen? Ist es überhaupt zu bemerken? Wenn ja, dann müßte also auch an der Musik Schumanns oder Wagners ein spezifisch sächsischer, an der Bachs ein Thüringer Zug zu bemerken sein und das wird ohne starke Einschränkungen niemand behaupten wollen. Gewiß sind die allgemeinen kulturellen Merkmale eines Stammes auch in seiner Musik wiederzufinden, aber mehr als ihre Schwesterkünste greift die Musik über die Grenzen von Stämmen, Ländern und Völkern hinaus. Unmöglich, der Musik nationale Grenzen zu setzen. Gewiß ist Wagner ein deutscher und Rossini ein italienischer Komponist; macht man sich aber einmal klar, wie etwa in Händel deutsche, italienische und englische Musikkultur, in Liszt ungarische, deutsche und französische, in Chopin polnische, französische und deutsche sich amalgamiert haben, dann versteht man, daß noch viel weniger innerhalb des deutschen Volkes eine Stammeseigenart sich gesondert musikalisch ausprägen konnte. Verhältnismäßig am stärksten natürlich in der Gattung, die überhaupt dem Volksempfinden am nächsten steht: dem Volkslied; da haben wir Schwaben durch Silcher unsere Volksliedpoesien in reiner und edler musikalischer Prägung wieder erhalten. Aber ist es nicht merkwürdig, daß in der hohen Musik unseren Dichtern Schiller, Uhland, Kerner, Mörike noch kein Ebenbürtiger erstanden ist?

Daß Schwaben, nachdem es so lange unberührter Boden gewesen war, dem deutschen Volke noch ein paar große Komponisten schenken wird, ist ein fester Glaube von mir (Die Frage, ob August Halm dazu zu rechnen sei, möchte ich hier unerörtert lassen). Aber auch bis jetzt hat es auf seine Weise zur Musikgeschichte einen Beitrag gegeben, und zwar, wie es sich für einen richtigen Schwaben geziemt, abseits der breiten Landstraße, auf einem krummen Wiesenweg.

Wer hat denn die Seele unserer schwäbischen Heimat als erster eingefangen und uns in wundersamen Versen dargeboten? Nicht Schiller, der seiner Heimat zürnend den Rücken kehrte, auch nicht Uhland und Kerner, sondern erst der herrliche, gottbegnadete Landpfarrer Eduard Mörike. In allen Ländern deutscher Zunge mag man ihn lieben und verstehen, für den Schwaben kommt das beseligende Gefühl dazu, daß es sein eigenster Besitz ist, der in diesen Versen lebt. Und die Musik, mit der sie getränkt sind, hat in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts der junge steiermärkische Musikant Hugo Wolf zum Tönen gebracht, den sein Lieblingsdichter so bezaubert hatte, daß er nicht anders konnte, als in Dichters Lande gehen, und dort hat er seine treuesten Freunde gefunden eine Treue, wie sie der Schwabe nur an ihm Wesensverwandte zu vergeben hat die den unbekannten Komponisten auf den Schild hoben und ihn in einem zähen, unbeirrbaren Kampf gegen die allgemeine musikalische Meinung durchsetzten. Zu einer Zeit, da die offizielle Kritik ihn noch ignorierte oder bestenfalls bekämpfte, da in der Reichshauptstadt sicherlich nicht viele Musiker waren, die den Namen Hugo Wolf überhaupt kannten, da lagen seine Liederbände auf den Klavieren schwäbischer Pfarrhäuser und wurden trotz ihrer angeblichen Unsangbarkeit und schwierigen Klavierbegleitung mit Eifer gesungen. So waren es (neben andern treuen Freunden) doch in der Hauptsache Schwaben und Dilettanten, die dem neuen Klassiker des Lieds zum Ruhm verhalfen; Schwaben mußten es sein, weil Wolf in den besten seiner Mörikelieder (die ich weit über alle übrigen Wolflieder stelle, dank ihrer einzigartigen Verschmelzung von Wort und Ton) als erster die zärtliche Schönheit Schwabens musikalisch gebannt hatte, und Dilettanten, weil in einer Zeit, in der in erschreckendem Umfang Musik nur für Musiker gemacht, aufgeführt, überholt und wieder weggeworfen wird, ohne daß etwas von ihr im Volk haften bliebe, nur der Dilettant noch das Urteil für die geistige Höhe einer Musik sich bewahren konnte. Daher ist dieser selbe Kreis, der sich für Wolf einsetzte, auch von Anfang an für einen andern Großen eingetreten, der ebensowenig wie Wolf rein musikalisch verstanden werden konnte, Anton Bruckner. Eine kleine Minderheit war es, die diesen größten Symphoniker unserer Zeit gegen den widerwilligen Einspruch von mehr als vier Fünfteln der offiziellen musikalischen Welt im letzten Vierteljahrhundert durchgesetzt hat, nicht als ob diese vier Fünftel nun bekehrt wären (das ist nur ein kleiner Teil von ihnen), aber sie finden nicht mehr den Mut zur offenen Gegnerschaft. Es wäre unbillig, vom Durchschnittsmusiker, der in heutiger Zeit fast ausnahmslos mit der Aufnahme von Musik so überladen wird, daß er nichts mehr verdauen kann, sondern nur noch mit den Geschmacksnerven unterscheidet (wobei die am schärfsten gewürzte Kost dann am ehesten noch mundet), zu verlangen, daß er für die außerhalb des rein Musikalischen stehende Größe und Schönheit Brucknerscher Musik, die im Ethischen (der schwächsten Seite der meisten Musiker!) zu suchen ist, Verständnis habe; das ist Sache des gebildeten Dilettantentums. Was der Musiker schafft, gehört vor ein größeres Forum als das seiner Kollegen: das Urteil des Volks verkörpert sich in dem unsichtbaren Senat seiner besten nicht berufsmäßigen Liebhaber und Kenner, schade, daß es keine Geschichte gibt, aus der man ihren Einfluß in der Musik nachweisen könnte, denn in den seltensten Fällen sind die zarten, der Öffentlichkeit abgewandten Verästelungen dieses musikalischen Gemeinschaftsgeistes noch nachträglich aufzufinden. Vielleicht würde auch das Verdienst um Hugo Wolf und Bruckner, das der schwäbische Dilettantismus hat, nach einem Menschenalter schon in Vergessen geraten, wenn es nicht in so vielen Dokumenten aus Wolfs Leben hinreichend (wenngleich natürlich längst nicht vollständig) niedergelegt wäre; und diese treuen Vorkämpfer verdienen es, daß ihnen in einer schwäbischen Zeitschrift ein besonderes Lorbeerreislein gewunden werde, solange der schwäbische Tondichter der Zukunft noch nicht erschienen ist, dem wir dann mit Freuden einen vollen Lorbeerkranz zu Füßen legen werden.



Gibt es eine schwäbische Musik?
Versuch einer Richtigstellung
Von Willy Siegele

In einer der heiligen Nächte waren wir länger denn sonst beim Quartettspielen zusammengesessen. Den Geigenkasten unterm Arm, eilte ich durch Stuttgarts Altstadt nach Hause. Eben ertönte vom Stiftskirchenturm herab das Silberglöckchen. Die Geisterstunde begann. Als ich rasch um die Ecke bog, stand vor mir ein großer, starker Mann. Die ganze Gestalt war in eine Wolke Alkoholgeruch gehüllt. Eine große rote Nase leuchtete mir aus dem aufgedunsenen Gesicht entgegen.

"Schubart!" entfuhr es mir.
"Daß Er mich kennt!" tönt es in tiefem Baß entgegen.
Bald hatte sich, ausgehend von meinem Geigenkasten, ein Gespräch über die Musik entwickelt.
"Seid arme Tropfen mit kleinem Spatzenhirn", meinte er.
"Wieso das?"
"Hat Er gelesen, was Hermann Keller im schwäbischen Bund' (1. Jahrgang, 2. Halbjahr, Seite 417 ff.) über schwäbische Musik geschrieben?"
"Ja freilich."
"Hat Er das Zeug nicht gleich in die hinterste Ecke geschmissen?"
"Das nicht. Mir schien doch lesenswert, was Keller über die schwäbischen Dilettanten sagt, die Hugo Wolf, dem neuen Klassiker des Lieds, zum Ruhm verhalfen, die für einen andern Großen eingetreten, Anton Bruckner."
"Lesenswert, weil es euch schmeichelte."
"Sei's drum! Ihr setztet, wie's Euch Cicero gelehrt, die captatio benevolentiae an den Anfang, Keller eben an das Ende seiner Ausführungen. Hat aber Keller nicht recht, wenn er sagt: Unmöglich, der Musik nationale Grenzen zu setzen? Wie könnte sonst Euer Hirtenlied aus den musikalischen Rhapsodien nach hundertfünfzig Jahren wieder als schlesisches Volkslied durch die Lande flattern?"
"Ja, ja. Einverstanden. Was sagt Er aber dazu, daß es eine musikalische Vergangenheit Schwabens gar nicht gäbe?"
"Keller begründet es doch: Die Vorbedingungen für die Entwicklung der musikalischen Veranlagung fehlten allzulange. Württemberg, vom Verkehr abgelegen, vorwiegend ländliche, zu wenig reiche, patrizische Stadtbevölkerung, keine konsequente großzügige Unterstützung durch den Hof usw."
"Ist ein gelehriger Schüler, aber mit seinem Spatzenhirn auch zu leichtgläubig. Freilich, woher solltet ihr's auch besser wissen? Wir droben in unserem Musikantenhimmel haben all die Kerl beisammen, da lernt man sie eher kennen, als wenn man's aus den Büchern zusammensuchen muß, saure Arbeit.
"Und wen wüßtest Ihr da?"
"Hat Er schon etwas gehört von den Klöstern in St. Gallen und Reichenau, von den Herzögen von Württemberg in Stuttgart, von Ulmer Patriziern, von unserem Karl Eugen?"
"Wohl, wohl, das hat's alles gegeben. Vorbedingungen für die Entwicklung der musikalischen Veranlagung werden das aber nicht gewesen sein, sonst hätte wohl Keller anders geschrieben."
"Hartgesottner Sünder. So muß ich Ihm halt Namen und Tatsachen nennen."
"Ja, nur sie beweisen und bekehren."

"Und Er glaubte an bloße Worte, an Geschwätz. Also: Les Er nach, was Walafried Strabo erzählt von der Pflege der Instrumentalmusik im Kloster Reichenau, von dem Musikmeister Tatto. In St. Gallen drüben saß zur gleichen Zeit Tuotilo, der Erfinder der Tropen, die, auch Prosen genannt, erst durch Beschluß des Tridentinum aus dem Meßgesang der katholischen Kirche verbannt wurden, Notker Balbulus, dessen "Media vita" Ihr ja heute noch singt, und dem die Sequenz ihre klassische Formvollendung verdankt, dessen Kompositionsweise ein Berno und Hermann von Reichenau dann weiterbildeten. Wie die Sequenzdichtung von Alemannien aus durch die Welt dringt, immer mehr die Form des Lieds erhält und eine Vorstufe des deutschen Kirchenlieds wird, das muß Er sich schon selbst zusammensuchen."

"Ihr habt recht: Saure Arbeit, solch alles sich aus den Büchern zusammenzusuchen. Einer freilich muß es machen. Ob aber jeden der glückliche Zufall auf solch Wesentliches führt? Eine Quelle des deutschen Kirchenlieds in Schwaben, das läßt sich hören. Wenn aber Keller über schwäbische Musik schreibt und dies nicht erwähnt, so braucht man doch wohl das Zeug nicht gleich in die hinterste Ecke schmeißen. Hier mag einmal der Zufall seine unglückliche Seite gezeigt haben."

"Sei's so. Der glückliche Zufall hat aber dem schwäbischen Musikgeschichtler in die Staatssammlung vaterländischer Altertümer jenen Prunktisch hineingestellt, in dessen grüngestrichene Eichenumrahmung Messingplatten mit Noten eingelassen sind. Tret Er nur einmal vor ihn hin und laß sich zuerst von ihm an seinen ältesten, uns bekannten Bruder erinnern. Auf Burg Kreuzenstein in Niederösterreich steht der viereckige Liedertisch von 1575, den einst Franz Graf von Pocci, der ausgezeichnete Illustrator, der liebenswürdige Dichter, der feingebildete Musiker, besessen. Das auf ihm angebrachte Lied habe ich erst diesen Sommer wieder halbwegs Waldenbuch und Bebenhausen im Schönbuch zur Laute singen hören. Gehört sich auch so. Keinem Geringeren verdanken wir den Text als Herzog Ulrich von Württemberg, der selbst Komponist gewesen und als Erster eine größere Kantorei in Stuttgart gründete. Kennt ja doch nicht die schöne Geschichte von der Entstehung des Sangs. Hör Er! Ulrich bekam 1511 Sabina von Bayern zum Weib. Sein Herz aber gehörte Elisabeth von Brandenburg, die bei ihrer Tante, der Witwe Eberhards des Jüngeren, zu Nürtingen lebte. Daher er zum öftern sommerszeit nach dem Nachtessen mit einem Trommeter, der ein sehr guter Zinkenbläser gewesen, dorthin geritten und ihr ein Hofrecht hat machen lassen", erzählt der Chronist, Balthasar Mütschelin, Vogt zu Nürtingen. Damals sang Ulrich dann wohl auch sein Gedicht:

Ich schwing mein Horn ins Jammertal,
Mein Freud ist mir verschwunden.
Ich hab' gejagt, muß abelon.
Das Wild läuft vor den Hunden.
Ein edel Tier in diesem Feld
Hatt' ich mir auserkoren.
Das schied von mir, als ich es meld.
Mein Jagen ist verloren.

Kommt Ihm sonderbar für, seh Er sich Johannes Brahms op. 41 und 43 an, der hat's Ihm mundgerecht gemacht.

Was der Tisch selbst sagt? Das Musikleben am Stuttgarter Hofe in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts steigt vor uns auf. Musikbeziehungen zwischen den Höfen Bayerns, an dem ein Orlando Lasso wirkt, und Württembergs werden sichtbar. Ludwig Daser, der seit 1552 der Münchener Kapelle vorgestanden, wird 1572 durch Herzog Ludwig nach Stuttgart geholt. Im Februar 1564 überbringt Orlando persönlich Gesänge an Herzog Christoph, schickt nachher Sänger und Instrumente. Eine Blütezeit erlebt die Stuttgarter Kapelle unter Herzog Ludwig, der selbst Orgel und Clavichord spielt. Eifersucht entsteht zwischen dem Hof in München und Stuttgart, da es sich darum handelt, Kräfte ersten Ranges für die Kapellen anzuwerben. Herzog Albrecht befürchtet, Stuttgart möchte einen Florentiner Sänger, den er sich zu verpflichten strebt, gewinnen. Stuttgart neben München, dessen musikalische Bedeutung und Vergangenheit niemand anzutasten wagt. Freilich, in München wird an Akademien und Hochschulen geforscht und gearbeitet, in Stuttgart aber begnügt man sich zu sagen: Es fehlte eine großzügige Unterstützung der Musik durch den Hof.

Und dann seh ich den Tisch am Ort seiner Bestimmung, im Stuttgarter Lusthaus, an dessen Ruinen im Schloßgarten Er halt auch vorbeirennt. Um den glänzenden Hoffesten, bei denen die Tonkunst nicht fehlte, eine würdige Umgebung zu schaffen, führt Herzog Ludwig durch seinen Baumeister Georg Beer das Lusthaus auf. Im März 1584 treibt er eigenhändig den ersten Pfahl zum Fundament des Hauses ein, 1593 steht es fertig da. Nehm Er den Riß zur Hand und schau Er sich zu beiden Langseiten des großen Festsaales die Zimmer an, in denen die Musik verdeckt aufgestellt wurde. Im Stuttgarter Lusthaus ist zum erstenmal in Deutschland das Prinzip des verdeckten Orchesters angewendet worden, und die Chronik vom Lusthaus erwähnt ausdrücklich die ,verborgene Musica". Die Wandlung in den musikalischen Zeitverhältnissen um 1600, von der Kirche in die Welt, vom Vokalen zum Instrumentalen, war wohl an keinem Hofe so deutlich zu fühlen wie am Stuttgarter. Der 6. November 1603 bildete einen Höhepunkt in der Wirksamkeit der Stuttgarter Kapelle. Herzog Friedrich wird durch eine Gesandtschaft König Jakobs der englische Hosenbandorden überreicht. Bei diesem Anlaß findet ein Wettkonzert mit englischen Musikern statt, die im Gefolge der Schauspielertruppe des John Fheer gekommen waren. Schwaben ging aus dem Kampf mit der hohen Kunst des englischen Instrumentalspiels als Sieger hervor."

Schubart schöpfte Atem. Ich benützte die Gelegenheit, zu erwidern: "Daß Stuttgart keine musikalische Vergangenheit gehabt, den Glauben habt Ihr mir ja nun allerdings zerstört, geradeso wie den, es habe in Stuttgart an einer Unterstützung der Musik durch den Hof gefehlt. Aber Stuttgart ist nicht Schwaben. Und was für Stuttgart zutrifft, muß noch lange nicht für ganz Schwaben gelten. Da mag also Keller immerhin noch recht haben, ausgenommen freilich Stuttgart, für das Ihr mich eines Besseren belehrt habt."

"Ungläubiger Thomas. Daß doch meine Zeitgenossen mir soviel geglaubt hätten, wie Er den seinigen. Scheint mir fast, will mich gar nicht mehr gelten lassen. Muß euch freilich immer vor den Augen herumtanzen, viel Geschrei machen, Schnittlauch auf allen Suppen spielen, dann glaubt ihr einem und haltet euch für überzeugt. Er wird nicht verlangen wollen, daß ich Ihm jetzt ein Privatissimum lese über die Musikgeschichte eines jeglichen schwäbischen Orts. Hör Er aber, wie's in Ulm aussah.

Daß Stuttgart eine musikalische Vergangenheit gehabt, das hab' ich ihm lang und breits erzählt. Von Nürnberg, Augsburg, Straßburg weiß Er's wohl schon. Ulm freilich liegt im Schwabenland. Grund genug zu sagen, daß da nichts los gewesen sei. Hier hat aber sogar der Rat der Stadt sich der Musik angenommen, was man zum Beispiel von Nürnberg nicht sagen kann. Er war stets bemüht, nicht nur tüchtige, sondern nach Möglichkeit hervorragende Musikanten nach Ulm zu ziehen. Ein Vergleich der Gehälter der Musiker in andern Städten mit denen, die in Ulm bezahlt wurden, wird sicher nicht ungünstig für Ulm ausfallen. Was die Zahl der Stadtmusikanten betrifft, so hielt Ulm immer gleichen Schritt mit Augsburg, ja bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges auch mit Nürnberg. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts reichte das musikalische Leben Ulms an das von Augsburg und Straßburg recht nahe heran.

Und daß die Ulmer nicht bloß in ihren Mauem sitzen geblieben wären, sondern auch hinauszogen und dort geschätzt wurden, davon könnte ich Ihm allerhand erzählen. Genug das eine: Anno l609 wirkten bei der Vermählungsfeier des Herzogs Johann Friedrich von Württemberg mit einer brandenburgischen Prinzessin in Stuttgart die Ulmer Stadtmusikanten mit. Und sie legten wohl Ehre ein, denn drei Jahre darauf begehrte Markgraf Joachim Ernst von Brandenburg sie zu seiner Hochzeit. Überhaupt fand ein reger musikalischer Verkehr von Ulm nach auswärts und von auswärts nach Ulm statt. Der Sohn Adam des Stuttgarter Hoforganisten Steigleder, der auf Kosten des Herzogs Ludwig von Württemberg in Rom Musik studiert hatte, kommt 1595 als Organist nach Ulm, sein Sohn Hans Alrich zieht wieder als Stiftsorganist nach Stuttgart. Der Vater des bekannten Stuttgarter Hofkapellmeisters und Komponisten Theodor Schwarzkopf ist der Ulmer Stadtpfeifer Georg Reinhardt Schwarzkopf, der 1692 seinem Sohn nach Stuttgart folgt. Drei Söhne des Ulmer Organisten Johann Kleinknecht, der 1701 5 in Venedig Musik studierte, sind in der Musikgeschichte des Ansbach=Bayreuther Hofes rühmlich bekannt. Den ältesten dieser, Johann Wolfgang, finden wir auch eine Zeitlang in der Stuttgarter Hofkapelle.

Soviel vom öffentlichen Musikleben. Aber auch privatim wurde viel Musik gemacht. Das Collegium musicum, so von etlichen Liebhabern der Instrumentalmusik angestellt worden, hielt sich bis tief ins achtzehnte Jahrhundert hinein. Dann sehe Er sich einmal die Schermarsche Bibliothek an, die das Ulmer Münster beherbergt. Hier findet Er, wenigstens für das sechzehnte Jahrhundert, eine nicht unbeträchtliche Musikaliensammlung. Die Drucke enthalten viele deutsche Gesänge, die auf eine recht eifrige Pflege des deutschen Liedes hinweisen. Die geschriebenen Lautentabulaturen zeigen heutigen Tags noch die Spuren emsigen Gebrauchs.

Daß man stets auf dem laufenden war und wußte, was in der weiten Welt draußen vor sich geht, sieht Er an dem auffallend frühen Gebrauch der Violinen in Ulm. Johann Pheng verwendet in seinem dreichörigen Hymenäus auf die Hochzeit des Junkers Egolf Schermar mit Helene Baldingerin am 5. August 1628 schon Violinen. In den beiden Opern ,L"Euridice" von Giulio Caccini und Jacopo Peri (Florenz 1600) gibt's noch keine Violinen. Erst 1607 finden wir sie in Claudio Monteverdis ,Orfeo' zum erstenmal. Zwanzig Jahre später waren sie in Ulm schon heimisch."

"Daser, Steigleder, Schwarzkopf, Kleinknecht, Pheng: das scheinen mir alles keine welterschütternden Namen. So bleibt Kellers Satz zu Recht bestehen: Keiner der großen deutschen Komponisten der letzten vier Jahrhunderte war Schwabe."

"Da muß Er sich nun zuerst einmal die Tatsache klarmachen, daß in den Zeiten, von denen ich gesprochen, Originalität nicht als Vorzug, eher als das Gegenteil galt. Jeder Meister war zwar bestrebt, seine Vorgänger zu übertreffen, aber dennoch unter Einhaltung einer ganz bestimmten Richtung. Erst spät fängt man an, am Schaffenden etwas zu schätzen, wofür man vordem kein Organ hatte: die Originalität. So darf Er unter diesen Leuten gar keine welterschütternden Namen suchen. Und wenn Er gerade ein paar bekanntere hören will, laß Er sich sagen, daß Hans Leo Haßler von 1605 bis 1608 in Ulm saß, daß Froberger in Schwaben, in Stuttgart seine erste Jugend verlebte."

"Wie kommt es aber, daß man von unseren schwäbischen Musikern nichts hört?"

"Was weiß ich, warum eure Madrigalvereinigungen nicht auch einmal einen Leonhard Lechner singen, warum man einem immer nur Corellische Trio=Sonaten vorlegt und nicht die eines Sebastian Anton Scherer."

"Man weiß noch zu wenig von den alten Herren. Damit mögt Ihr recht haben. Wie aber sieht's mit der schwäbischen Musik aus in der Zeit, die noch in der Erinnerung unserer Großeltern lebt?"

"Wie's in Schwaben damals in Punkto der Musik aussah, weiß Er nicht? Les Er nach, wie hoch Kretzschmar (einer, der's wissen muß) die schwäbischen Liederkomponisten vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts in seiner ,Geschichte des neuen deutschen Liedes' wertet. Stolz solltet ihr sein darauf, welch wertvollen Beitrag zur Geschichte der Ballade und des Liedes unser Schwaben mit seinen Liedern tatsächlich geleistet hat. Derweilen stellt ihr euer Licht unter den Scheffel. Geschieht euch gerade recht, wenn's euch nicht besser geht, die ihr eure Väter so achtet. Abeilles Lieder stehen zwar heute noch in Schulliederbüchern, ohne daß man wüßte, daß er ein Schwabe gewesen. Seinen Klavierkompositionen zollte ein Karl Maria von Weber volle Anerkennung. Zumsteegs Balladen wurden seinerzeit im ganzen musikalischen Deutschland bekannt, ja sie fanden sogar den Weg in das Klavierzimmer des k. k. Konvikts in Wien, wo ein Franz Schubert sie mit Begeisterung spielte und sang. Daß derselbe Zumsteegs Komposition von Schillers ,Erwartung" zu den Liedern zählte, in denen er tagelang schwelgen könnte, das durftet ihr Modernen vergessen. Die Ehren der Anerkennung, die Goethe persönlich Zumsteeg aussprach, will ich nicht zu hoch schätzen. Daß Otto Scherzers weltliche gemischte Chöre sich vollkommen ebenbürtig dem Schönsten anreihen, was nach Robert Schumann auf dem Gebiet des gemischten a-cappella-Gesanges geschaffen worden ist, daß er mit seinen Liedern in der ersten Reihe der deutschen Liederkomponisten nach Robert Franz steht, das wollt ihr nicht mehr wissen. Muß ich noch sagen, daß der Vater des Weserlieds (,Hier hab' ich so manches liebe Mal "), das sich einst so großer kaiserlicher Huld rühmen durfte, ein Schwabe gewesen, daß Gustav Pressels Arbeit über die ungarische Zigeunermusik sogar die Aufmerksamkeit eines Franz Liszt erregte? Und von den Lebenden mag's genügen, Sigfrid Karg-Elert zu nennen, von dem freilich die wenigsten Schwaben wissen, daß er ihr Landsmann ist. Auf August Halm weist ja Keller selbst hin. In Amerika drüben sitzt Eugen Haile - - -"

Nun fror es mich aber allgemach an die Füße. Um ein Ende zu machen, siel ich Schubart ins Wort: "Ich muß Euch dankbar sein für Eure Belehrung. Vielleicht haben wir aber den Kellerschen Witz gar nicht gemerkt. Wenn es unmöglich ist, der Musik nationale Grenzen zu setzen, wie Keller sagt, und was Ihr ja selber zugegeben habt, dann kann es schließlich auch gar keine schwäbische Musik geben, so daß sich Keller durch die Wahl der Überschrift einen Freibrief verschafft hätte. Musik in Schwaben und Musik von Schwaben, das gab's. Das habt Ihr mir bewiesen."

Mit einem fürchterlichen Fluch: "Elender Wortklauber, daß dich der Teufel hole!" war Schubart verschwunden. Dumpf schlug es vom Stiftskirchenturm herab ein Uhr. Die Geisterstunde war vorüber.

Mir brummte der Schädel. Die Nacht konnte ich keine Ruhe finden. Was Schubart alles erzählt hatte, ging mir durch den Kopf. Daraufhin mußte ich mir Kellers Aufsatz doch noch einmal genauer ansehen. Ich las ihn von vorne nach hinten und von hinten nach vorne durch. Immer stolperte ich über ein paar Worte: "Es ist eine überraschende, etwas blamable Tatsache - - -."



Epilog
(Quasi Recitativo, ma in tempo)
Von Hermann Keller

Beide nächtliche Gestalten waren verschwunden, langsam erhob ich mich hinter dem Schillerdenkmal, wo ich zusammengekauert das grimmige Gespräch mit angehört hatte. Die Alkoholwolke hatte sich verzogen, ich griff mir an den Kopf, der schmerzte. Spatzenhirne hatte er uns in seiner göttlichen Grobheit genannt ach, wenn sich unsereiner nur auch gelegentlich so ungeniert ausdrücken dürfte! Es täte oft so wohl! Nachdenklich trat ich den Heimweg an, dem Bopser zu, und meine Schritte hallten in den einsamen Straßen von den hohen Häuserwänden wider. Alter Schubart, für deine musikalischen Gedanken habe ich stets eine Schwäche gehabt, trotzdem man sagt, sie seien nicht methodisch genug, wenn nur alle neueren methodischen Arbeiten so viel Geist hätten wie deine Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, die heute leider fast niemand mehr liest; aber ich glaube, Sachlichkeit war nie deine starke Seite. Hast du dich nicht vielleicht etwas vorschnell geärgert über den armen Tropf, der die musikalische Vergangenheit seiner Heimat so wenig zu kennen und zu beachten schien? Zwar bist du nicht der einzige, der meinen kleinen Aufsatz mit einem Angriff beehrt hat, aber so schweres Geschütz wie der hat sonst keiner gegen mich aufgefahren.

Ich hatte die Stadt hinter mir gelassen und stieg durch Gärten und Weinberge meiner einsamen Klause zu. Es war eine sternhelle Nacht, ich wandte mich um und genoß wieder das zauberhafte Bild der unter mir liegenden Stadt (halt! raunt mir eben eine innere Stimme zu keine captatio benevolentiae, das könnte dir übel vermerkt werden), und von der hellen Lichterreihe der Ludwigsburger Bahn am Horizont schweiften meine Blicke nach links, wo hinter dem niedrigen Kriegsberg deutlich die Umrisse des Aspergs sichtbar wurden. Unglücklicher, genialischer Musikant! Ich soll mit dir rechten? Aber es muß sein, denn so schief kann ich deine "Richtigstellung" nicht stehen lassen, um unserer beiden willen nicht, und um der Sache willen erst recht nicht. Glaubst du mir nicht, daß ich außer mir wäre vor Freude, wenn meine schwäbische Heimat in der Musikgeschichte eine Rolle spielte? Es brauchten nicht einmal Meister ersten oder zweiten Ranges zu sein, die in ihr geboren wären oder gewirkt hätten, ich wäre schon zufrieden, wenn, ohne große Namen, zu irgendeiner Zeit ein schwäbisches (d. h. nicht lateinisches oder italienisches) Musikleben bestanden hätte, von dem ein Meister Anregung empfangen hätte, so wie man z. B. bei Joh. Seb. Bach den Einfluß Böhms in Lüneburg, Pachelbels in Erfurt, Reinkens in Hamburg, und vor allem Buxtehudes in Lübeck nachzuweisen pflegt, oder wie fünfzig Jahre später die Mannheimer Schule die Wiener Klassiker befruchtet hat. Aber selbst davon kann ich nichts finden, und was du an Gegenbeweisen aus der musikalischen Vergangenheit Schwabens zusammensuchst, beweist mir bloß die Richtigkeit meiner damals aufgestellten Behauptung, daß in den letzten vier Jahrhunderten (und weiter zurück reicht die praktische Musikgeschichte nicht für die meisten Menschen kaum halb so weit) kein bedeutender deutscher Musiker Schwaben angehört hat, und nur wenige von ihnen Beziehungen meist flüchtiger Art zu seiner Hauptstadt gehabt haben. Dein Partner hält mir vor, daß selbst ein Orlando di Lasso von München aus ein paar Tage in Stuttgart gewesen sei, nein, so bescheiden bin ich nicht, diese Tatsache in majorem gloriam patriae zu buchen, ebensowenig wie die paar Jahre Frobergers oder Hans Leo Haslers. Bleiben wir beim sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert: wie viele deutsche Musiker, selbst aus dem äußersten Norden (Lübeck!), sind von 1600 ab nach Italien gezogen, um dort zu lernen, umgekehrt dann später Italiener gegen hohe Honorare an deutsche Fürstenhöfe; liegt es nun nicht in erster Linie an der Abgelegenheit Württembergs, daß Augsburg, Nürnberg, München davon soviel mehr profitierten als Stuttgart? Und dann: wir hatten keinen Fugger, der einem Hasler ein Stipendium nach Venedig geben konnte freilich auch keinen Hasler. Daß die Stuttgarter fürstliche Kapelle damals gut war, will ich gerne glauben, denn das gehörte wesentlich mit zur höfischen Repräsentation. Aber wo sind die Denkmäler schwäbischer Tonkunst, die wir nach dem Vorbild der Denkmäler der Tonkunst in Bayern in 18 Foliobänden herausgeben sollen, sind sie nur aus Bescheidenheit oder Saumseligkeit noch nicht erschienen? Das höfische Musikleben Stuttgarts erreicht seinen Höhepunkt, den München im sechzehnten Jahrhundert mit Orlando di Lasso gehabt hat, erst viel später unter Jommelli in den Jahren 1754 68. Dort ein Niederländer, hier ein Italiener! Bekanntlich hat Jommelli in seinen fünfzehn Stuttgarter Jahren so viel von deutscher Musik angenommen, daß er durchfiel, als er wieder in seine neapolitanische Heimat zurückkehrte. Sein Requiem habe ich einmal an der Orgel begleitet, es ist eine anmutige Mischung von deutschem Ernst und italienischer Schönheit. Vielleicht ist das Deutsche darin spezifisch schwäbisch? Ich wage das nicht zu entscheiden.

Aber das Musikleben Schwabens war ja nicht auf den Hof beschränkt. Man könnte Bopps Geschichte der Stuttgarter Stiftsmusik für die geistliche Musik heranziehen. Aber da würde unsre Armut erst recht offenbar gegenüber den mittel- und norddeutschen Kantoreien, den Kantaten und Passionen Leipzigs und anderer Städte, den hochangesehenen Organistenstellungen, kurz der ganzen breiten und großen Entwicklung, die in dem einen Manne Joh. Seb. Bach gipfelt. Auch da sind es wieder die äußeren Verhältnisse, die der Kirchenmusik in Mittel- und Norddeutschland mit Motette, Kantate und reicher Liturgie einen wesentlichen Raum im Gottesdienst sicherten, im Gegensatz zum musikalisch schmucklosen Predigtgottesdienst bei uns. Immerhin mag man aber den Stuttgarter Hofprediger Lukas Osiander erwähnen, der 1586 als erster den Versuch unternahm, in den vierstimmigen Choralsätzen die Melodie vom Tenor (wie noch zu Luthers Zeit üblich) in den Sopran zu legen.

Ich war stehengeblieben und versuchte, mir das jagdliche Liebeslied Herzog Ulrichs zurückzurufen, das Schubarts Geist so arg verketzert zitiert hatte, daß ich fast in meinem Versteck aufgefahren wäre:

Ich schell mein Horn ins Jammers Ton,
mein Freud' ist mir verschwunden,
ich hab' gejagt ohn' Abelon,
es lauft noch vor den Hunden
ein edels Gwild
in diesem Gfild,
als ich's hätt' auserkoren,
es scheucht ab mir,
als ich es spür,
mein Jagen ist verloren.

Meister Ludwig Senfl in München hat es edel und einfach vertont dreihundert Jahre vor Brahms , mit dem Gedicht allein konnt ich mich nie recht befreunden: der Vergleich seines Liebeswerbens mit einer Hetzjagd lag einem passionierten Jäger damals eben näher als einem Schreibtischmenschen von heute. Aber einen schwäbischen Madrigalisten (den einzigen mir bekannten) habt Ihr vergessen anzuführen, Meister Schubart: den Haller Erasmus Widmann (1572 1634), Präzeptor in Weikersheim und später in Rothenburg, dessen köstliches Trinklied "Zu Miltenberg am Main" mit den besten Chorliedern des sechzehnten Jahrhunderts ins Volksliederbuch der Edition Peters (das sogenannte Kaiserliederbuch) aufgenommen wurde. Habt Ihr ihn als Franken angesehen, oder war es "unglücklicher Zufall"?

Und in Ulm? Da gab es die reiche patrizische Bürgerschaft, und was kam bei diesen günstigen Vorbedingungen heraus? Die Kammersonaten Sebastian Anton Scherers, brave Musik, aber trocken und ohne jeden Schwung, und die wagt Ihr neben Corelli zu nennen, einem der größten Meister der Instrumentalmusik aller Zeiten?! Auch mir kommt's nicht auf die Namen an man findet in alten Chorbüchern hin und wieder entzückende Sätze von im übrigen ganz unbekannten Meistern aber auf das, was hinter ihnen steht, ihre Musik. Wer sich mehr mit älterer Musik abgibt, der kennt die Freude, die man erlebt, wenn sich aus einer Stilepoche allmählich die Persönlichkeiten herauslösen und sich unmerklich die Genies von den Talenten, und diese von den bloßen Mitläufern abheben. Buxtehude, Schütz, Schein waren Genies; Tunder, Böhm, Froberger, Muffat Talente; J. G. Walther, Scherer Mitläufer; oder unter den deutschen Madrigalisten kann man Isaac und Hasler unter die Genies, Lechner, Finck, Senfl zu den Talenten zählen zahllos sind gerade in der Epoche die bloßen Mitläufer.

Und in neuerer Zeit? Da darf man Silcher vielleicht zu den genialen Musikern rechnen, wenn auch nur auf einem ganz kleinen Gebiet, Zumsteeg und vielleicht noch Lindpaintner zu den Talenten, aber Hetsch, Scherzer und die andern, die in dem trefflich ausgewählten Schwäbischen Liederbuch (Verlag des Schwäbischen Albvereins) stehen, haben sie mehr als nur Lokalinteresse (*)? Und gar mit Pressels Schmarren von "Weserlied" sollte man kaum den Raum einer schwäbischen Zeitschrift, geschweige die schwäbische Musikgeschichte belasten. Karg-Elert? Gewiß eine bedeutsame Erscheinung; aber darf man die Kunst dieses in Leipzig lebenden Tonkünstlers, der mit Schönberg, Debussy und Reger Zusammenhänge hat, als schwäbisch bezeichnen? Doch so wenig, als die Musik Regers bayrisch ist.

Ich war auf der Bopserhöhe angekommen. Dunkel und schweigend lag der Wald vor mir, seitwärts durch die entlaubten Bäume über die jetzt tief unten liegende Stadt hinweg zogen sich in sanfter Kontur die Hügelwellen, die Stuttgart einschließen. Wie ganz anders und südlicher als die mitteldeutsche Landschaft, die ich bei Weimar auch kennen und lieben gelernt hatte freilich, nach Oberitalien haben wir auch kaum weiter als nach Thüringen. Wo ist die Musik, die zu dieser Landschaft gehört, wie Mörikes Gedichte zu ihr gehören? Gibt es sie, hat es sie gegeben? Ich ließ meine Gedanken noch einmal zurücklaufen: trotz reicher künstlerischer Stammesveranlagung ist Schwaben bis jetzt in der Musik noch fast jungfräulicher Boden geblieben. Wäre es nicht besser, nach den Ursachen dieser merkwürdigen Erscheinung zu suchen, statt durch Aufzählung einiger musikalischen Ereignisse der Vergangenheit sie bestreiten zu wollen, und gar die Klostermusik von St. Gallen und der Reichenau vor tausend Jahren zur Rettung der musikalischen Vergangenheit Schwabens heranzuziehen?

Vielleicht hat Busoni recht, und die Tonkunst steht erst in ihren ersten Anfängen, und wir vermögen noch nicht einmal zu ahnen, wohin sie ihren Flug nehmen wird. Dann wird es ihr auch vielleicht gelingen, die Seele der Landschaft für sich einzufangen. Wie wenig davon hat uns seither die Musik ausgedrückt! Hugo Wolf und Schubert mehr als Beethoven, dieser mehr als Mozart aber wie schwach sind diese Werte in der modernen Musik vertreten! Ist sie darum meist so freudlos? Sollte nicht ein innigeres Leben mit der Natur ihrer Heimat den Musikern innere Ruhe und Heiterkeit bringen können, was sie beides fast ganz verloren zu haben scheinen? Täusche ich mich, oder ist das der Weg in das Zukunftsland der schwäbischen Musik?

Unter solchen Gedanken schloß ich meine Gartenpforte auf...



(*) Eine andere Kritik meines damaligen Aufsatzes möchte den Eßlinger Christian Finck als den schwäbischen Komponisten bezeichnet wissen.





Quelle:
Der Schwäbische Bund
1. Jahrgang 1919/20 (II) (und späteres Heft)