1923 · Ein Wort zur Verständigung

Die Musikantengilde

Ich zähle mich zu den Freunden dieser Zeitschrift, trotzdem ich im "andern Lager" mich befinde, nämlich im Lager der Berufsmusiker, gegen deren "Musikbetrieb" von seiten einer idealistischen Jugend neuerdings Sturm gelaufen wird. Und so lese ich die "Musikantengilde" mit mehr Anteilnahme, als die anderen Fach-Musikzeitungen, die ich gezwungen bin zu lesen, und besonders auf den langen, ermüdenden Eisenbahnfahrten einer amerikanischen Konzertreise habe ich mehr Muße und Anreiz, die Hefte zu studieren, als in der Heimat. Aber man liest dann auch mit schärferer Kritik; und über so manches, was mich zum Widerspruch reizt, versuche ich mir klar zu werden, und es auf eine Formel zu bringen.

Da die Jugend, die hinter der "Musikantengilde" steht, von einer grundsätzlich andern Auffassung der Musik ausgeht, als die ist, die sie im heutigen Musikbetrieb verwirklicht sieht, so möchte ich die Frage bei der Wurzel packen und mit dem folgenden Gedanken zu eigenem Nach- und Weiterdenken anregen.

Fast in jeder Nummer der Zeitschrift finde ich eine Fehdeansage gegen die "gefühlsmäßige" Auffassung der Musik. August Halm (Februar-Heft 1922) beklagt geradezu, daß die Adagios Beethovens seit langem als ein Fokus von Gemütsbewegungen und Gefühlsschwingungen betrachtet werden; ich frage mich nun mit einiger Verwunderung, was denn die Musik überhaupt anderes sein kann? Ist nicht alle Kunst, und die Musik am reinsten und stärksten, nur eine Sichtbarmachung seelischer Vorgänge? Ist nicht das rein Formale der Musik, das, was aus den eigensten Gesetzen heraus entstanden ist, sinnlos, wenn es nicht seine Gestaltung von der Seele des Künstlers empfangen hat? Das, was wir nach der Ansicht mancher Halmianer "ungebührlicherweise in die Musik hineinlegen", ist nach meiner Auffassung dasjenige, was die Musik erst zur Musik macht.

Vielleicht kann ich diesen Standpunkt deutlicher bezeichnen, wenn ich hier die Hauptgedanken eines Vortrags über Pfitzners Ästhetik der musikalischen Impotenz, den ich in der Akademischen Gesellschaft Stuttgart gehalten habe, kurz darlege (mit Ausschaltung von allem nur auf Pfitzner Bezüglichen):

Es gibt Musik, die, rein musikalisch angesehen, ausgezeichnet ist (z. B. Mendelssohn), die uns heute aber fast keinen Eindruck mehr macht. Es gibt andere Musik, die gleichzeitig den Eindruck von Genialität und musikalischer Unzulänglichkeit macht, z. B. Berlioz. Wenn wir nun überhaupt den verwegenen Versuch machen wollen, in die Geheimnisse des Musikalisch-Schöpferischen hineinzuleuchten, so müssen wir mit zwei getrennten Komplexen rechnen.

Der erste ist die seelische Disposition des Künstlers, und gilt gleichermaßen für alle Künste. Die Vorbedingung allen künstlerischen Gestaltens ist ein seelisches Erleben von ungewöhnlicher Tiefe und Stärke. Das klingt selbstverständlich, wird aber von vielen geleugnet, die sagen, man müsse "Mensch und Künstler kennen". Sie weisen auf Beispiele hin, wo das Leben von berühmten Künstlern auf dem Niveau der Alltagsmenschen (oder tiefer!) verlaufen sei. Darauf ist zu sagen, daß ein seelisch weiches und tiefes Leben sich sehr wohl in der äußeren Form eines anspruchslosen bürgerlichen abspielen kann, daß aber niemals, gar niemals, ein innerlich unbedeutender Mensch ein bedeutender Künstler gewesen ist. Der Künstler ist begnadet vor der Menge der Menschen, er empfindet alles stärker, tiefer, eigenartiger; aber damit ist noch nicht gesagt, daß er diesen inneren Erlebnissen Ausdruck verleihen kann. Sondern zu dieser ersten Disposition die ich den A-Komplex heißen möchte muß eine zweite treten: die rätselhafte, nicht weiter erklärbare Gabe, diese seelischen Erlebnisse in dem unendlichen Reichtum musikalischer Formen auszusprechen, das "Kompositionstalent". Das ist der B-Komplex. Verfolgt man nun diesen Gedanken in der Praxis, so kommt man zu den überraschendsten Resultaten: man findet, daß über alle Verschiedenheiten der Stilperioden, über alle geschäftlichen und persönlichen Faktoren hinweg bei dem einen Teil der Komponisten der A-Komplex, bei dem anderen der B-Komplex der stärkere ist: es gibt ausgezeichnete Musik, hinter der nichts steckt, bei der B groß, A klein ist, die deswegen von den Fachleuten in der Fachkritik bewundert wird; bis sie nach ein paar Jahrzehnten wegen Lebensunfähigkeit des A-Komplexes stirbt; es gibt andere, deren B-Komplex dem strengen musikalischen Urteil nicht standhalten kann (vieles von Hugo Wolf z. B.), die aber durch ihren A-Komplex ein ganzes Schock besser gemachter Kompositionen überdauert. Wer einen reichen A-Komplex ohne B besitzt, gehört zu den glücklichen, begnadeten Menschen, die um die Göttlichkeit des Daseins wissen, die, ohne selbst Künstler zu sein, die Künstler verstehen; das sind die Menschen, für die Goethe gedichtet und Beethoven komponiert hat. Wer B besitzt ohne A, der wird wahrscheinlich als Komponist eine hohe opus-Zahl erreichen, es "fällt ihm immer was ein"; aber was ihm einfällt, ist ganz bedeutungslos, so gut es rein musikalisch sein mag, weil es die Gedanken eines Durchschnittsmenschen sind (Rheinberger).

Erst das Produkt A mal B man verzeihe die Geschmacklosigkeit dieser mathematischen Formulierung, aber sie ist am klarsten und einfachsten macht einen großen Komponisten, wobei aber A der wichtigere, ausschlaggebende Faktor ist. Darum ist Beethoven für unsere Zeit immer noch der größte Komponist, weil wir keinen anderen Musiker kennen, der ein Seelenleben von solcher Tiefe und Intensität gehabt hätte; der innere Reichtum der letzten fünf Klaviersonaten, der letzten Quartette z. B., ist so groß, daß er heute, nach hundert Jahren, erst wenigen Menschen bekannt ist. Auch B ist bei ihm riesengroß, wenngleich nicht so wie bei Mozart, der wohl der "musikalischste" Mensch aller Zeiten gewesen ist. Trotzdem stellen wir ihn aber als Gesamterscheinung unter Beethoven, weil sein A-Komplex (der übrigens im ganzen 19. Jahrhundert unterschätzt worden ist) nicht so groß und frei wie der Beethovens ist. Mendelssohn ragt in B fast in die Nähe Mozarts, sein A dagegen verkleinert ihn zu einem Stern dritter Größe. Wie viele interessante Anwendungen ließen sich noch ziehen (Händel, Bach, Schumann, Berlioz usw.), aber ich will nur zwei der neueren Zeit herausgreifen, deren Antagonismus sich auf diese Weise ganz zwingend erklärt: Brahms und Bruckner.

Woran liegt es denn, daß der Stern von Brahms, der noch vor zwanzig Jahren alle andern am deutschen Musikhimmel überstrahlte, unaufhaltsam und rasch im Erbleichen begriffen ist? Was ist der Grund, daß der Stern Bruckners, der so lange fast unsichtbar am Firmament stand, immer stärker und heller leuchtet?

Brahms hat durch die wunderbar vollendete Faktur seiner Kompositionen (also durch den B-Komplex) den unbestrittenen eines großen musikalischen Meisters bekommen; aber wie steht es mit dem A? Ich war acht Jahre begeisterter Brahmsianer, aber eines Tages kam das Erwachen: alle diese Musik, die ich so geliebt hatte, mutete mich plötzlich konventionell, inhaltlos an: A wurde als zu leicht befunden! Und da Tausende heute so empfinden, so geht es mit Brahms abwärts, vielleicht bis zu einem Punkt ganz ungerechter Beurteilung.

Nun das Gegenbeispiel: Bruckner. Was war denn der Grund, daß die Fachmusiker jahrzehntelang nicht glauben wollten, daß Bruckner ein großer Meister sei? Weil sie in ihrer großen Mehrzahl*) nur B zu beurteilen vermochten. Und das läßt manche Angriffspunkte zu, wenn man A zuvor nicht verstanden hat: die ganz entspannte Form der einzelnen Sätze (daher ihre "zu große" Länge), die Gleichartigkeit aller 9 Symphonien, die starken Wagnerschen Einflüsse usw.; eine kleine Gruppe Menschen war aber da, die verstand, daß Bruckners A-Komplex so tief und rein, und anders alle als zeitgenössische "bürgerliche" Musik war, das glühende Empfindungsleben eines Christen und zugleich Pantheisten, eine unerhörte Reinheit und Lauterkeit der Seele , daß Bruckner dadurch, trotzdem ein Dutzend Musiker ihm in B überlegen waren, die stärkste musikalische Gesamtpersönlichkeit wurde, die wir (vielleicht Wagner**) ausgenommen) seit Beethoven gehabt haben.

Nun aber ist Bruckners A durch Welten getrennt von Beethovens A. Daher verstehe ich Halm nicht, wenn er beide vergleicht, Bruckner über Beethoven stellt. Er dürfte höchstens sagen: Meiner Natur ist Bruckner verwandter.

Der ganze Kampf um die Musik, in dem die Musikantengilde so tapfer ihren Mann stellt, ist ein Kampf um die A-Komplexe. Die Gefahr ist, daß das Fachmusikantentum nur die B-Komplexe sieht (das ist heute noch so wie vor fünfzig Jahren); das Dilettantentum im besten Sinne muß darum immer wieder auf die Überlegenheit von A hinweisen. Aber wenn Sie davor warnen, in Bachs Inventionen, in Beethovens Adagios etwas "hineinzulegen", was nicht drin ist, dann hüten Sie sich, zu sagen, es liege überhaupt nichts drin, es sei "reine Musik". Das gibt es nicht, ausgenommen etwa in Harmonieaufgaben. Aber Sie haben das Recht, eine Musik zu verlangen, deren A-Komplexe den Ihrigen verwandt sind, und das ist bei dem überwiegenden Teil der heute komponierten (oder gestern komponierten und heute aufgeführten) Musik in der Tat nicht der Fall. "Wir kommen nicht mehr mit", klagt Halm. Aber vielleicht ist die Kluft gar nicht so groß, wenn nur von beiden Seiten her gearbeitet wird, sie zu überbrücken? Gegen Männerchor-Trivialität Sturm zu laufen, ist heute nicht mehr nötig, das Liedertafelwesen ist tot, wenn es gleich noch in Hunderten von Vereinen weiterzubestehen scheint , aber frage sich einmal jeder, ob die Abkehr von der heutigen Musik, die begeisterte Pflege alter Musik, die oft kritiklose Überschätzung der Chorliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts (es ist damals so viel Schund geschrieben worden wie im 19. Jahrhundert), nicht unbewußt ein Sichhinwegtäuschen von der Gegenwart bedeutet? Die Zeit ist furchtbar, muß da nicht auch ihr Ausdruck in der Kunst furchtbar sein? In diese furchtbare Zeit hinein klingt der reine, helle Ton einer neuen Jugend; wir hören ihn im Leben und in der Kunst, und wir möchten, daß er verwachse bis zu einem vollen Glockenklang. Aber dann darf diese Jugend nicht beiseite stehen, eine Koterie bilden, und den heutigen Musikbetrieb in Konservatorien und Konzertsälen nur "detestabel" finden, sie muß zu den Musikern kommen und die Musiker müssen zu ihr kommen. Möchten diese Zeilen helfen, den Weg zu ebnen!

*) Als gute Musikanten, aber zwar nicht schlechte jedoch zu unbedeutende Menschen.
**) Bei Wagner ist B über jeder Kritik, aber der A-Komplex ist sehr kompliziert und ungleichartig zusammengesetzt




Quelle:
Die Musikantengilde
Blätter zur Erneuerung aus dem Geiste der Jugend
1. Jahr, 15. August 1923, Heft 8