1925 · A survey of contemporary Music

Neue Musik-Zeitung

Besprechungen Bücher

Cecil Gray; A survey of contemporary Music. 261 S. Oxford 1924.

Ein englisches Buch über zeitgenössische Musik! Das interessiert uns in Deutschland weniger seines sachlichen Inhalts wegen als wegen seiner Stellung zu den Erscheinungen. Wir machen uns hier einen Maßstab zurecht wie ist der drüben? Schon die Auswahl ist bezeichnend: behandelt werden Richard Strauß, Frederik Delius, Elgar, Debussy, Ravel, Stravinsky, Scriabin, Schönberg, Sibelius, Bartok, Busoni, Bernard van Dieren (wer ist das ?) und "Minor Composers", darunter Puccini, Milhaud, Honegger, Kodaly, Holst, Bax (England); eine deutsche Auswahl würde wesentlich anders aussehen. Wer hat dann Recht? Keiner von beiden, jeder bleibt auf sein Gesichtsfeld beschränkt. Aus dem sympathisch und fesselnd geschriebenen Buch seien ein paar Momente festgehalten. Zwei Namen fehlen ganz unbegreiflicherweise: Bruckner und Reger! Wir feiern Bruckner- und Reger-Feste in Deutschland und Österreich, und das Ausland kennt von beiden kaum die Namen! (Auch in Amerika habe ich diese Erfahrung gemacht.) Dagegen wird Delius, den wir in Deutschland nicht eben schmerzlich vermissen, als eine Art romanisches Seitenstück zu Strauß hin gestellt. Strauß, zeitlich der erste, ist nach Gray heute schon außerhalb Deutschlands der am wenigsten aufgeführte moderne Musiker geworden, ist schon endgültig tot. Schönberg wird mit Achtung behandelt, er hat den Weg zum Nordpol der Musik gefunden. Busoni ist am größten in seinen Bearbeitungen, seiner eigenen Musik fehlt der Auftrieb, eine imposant aussehende Flugmaschine, die aber nicht fliegen kann. Sehr glimpflich wird natürlich Elgar behandelt. Debussy ist ähnlich tonangebend für uns, wie Wagner für die letzte Generation. Über das Musikleben in Deutschland meint der Verfasser, daß Strauß als Zauberlehrling eine Überschwemmung angerichtet habe, in deren Fluten das heutige Deutschland zu ersaufen drohe. Ein Ozean von Noten, nirgends Land. Jede Mittelmäßigkeit wird aufgeführt, besprochen, anerkannt, wenn sie sich nur modern gebärdet. Was England zu wenig, hat Deutschland zu viel an Konzerten. Der Gesamteindruck? Daß die deutsche Musik des 18. und 19. Jahrhunderts nach wie vor ihre Weltgeltung behauptet, daß aber die deutsche Musik der Gegenwart außerhalb der Reichsgrenzen in weit geringerem Maß beachtet wird als vor dem Krieg. Ob der Grund dafür nur im politischen Zusammenbruch Deutschlands zu suchen ist (dann werden wir uns davon erholen), oder ob die Gründe tiefer liegen, d. h. ob Deutschland seine Führerstellung in der Musik wirklich verloren hat, das müssen die nächsten Jahrzehnte zeigen.
Dr. H. Keller.



Quelle:
Neue Musikzeitung
46. Jahrgang 1925, 1. Februar-Heft