1925 · Gedanken zur neueren Ästhetik
Neue Musik-Zeitung
Noch nie sind die Beziehungen zwischen Ästhetik und Musik besonders freundschaftlich gewesen. Der Musiker sieht immer noch im Ästhetiker einen Menschen, der sich anmaßt, vorzuschreiben, was man tun und lassen müsse, um den von der Wissenschaft der Ästhetik aufgestellten Regeln über das Schöne, das Erhabene usw. zu genügen, der aber gleichzeitig gestehen müsse, daß er von der Musik als Kunst wenig oder nichts verstehe; der Ästhetiker andererseits wird ehrlicherweise zugeben müssen, daß er dem schaffenden Künstler nichts, und dem nachschaffenden nicht viel zu sagen hat, zum mindesten nichts, was er nicht schon intuitiv weiß. Am schärfsten hat diese Ablehnung der Ästhetik Max Reger ausgesprochen: "wenn's an Ästhetiker sehen, den schlagen's tot" und im Grunde ihres Herzens denken wahrscheinlich die meisten Musiker heute noch ebenso! Auch im Lager der Dilettanten herrscht vielfach eine ähnliche Stimmung, und man kann daher ganze Jahrgänge von Musikzeitungen wälzen, ohne irgendwo der theoretischen Ästhetik zu begegnen.
Daß man sich dagegen sträubt, einen ästhetischen Eindruck, der den ganzen Menschen erfüllt, sich in ein Bündel psychologischer Einzelfragen zergliedern zu lassen, lebendiges Fühlen in abstraktes Wissen zu verwandeln, ist besonders bei künstlerisch sehr empfänglichen und feinfühligen Menschen ohne weiteres zu verstehen. Die Ästhetik ist als Wissenschaft der Kunst gegenüber in keiner beneidenswerten Lage. Was diese spielend gibt, muß jene mühsam Schritt für Schritt nacharbeiten. Ich würde es deshalb auch für ganz normal und richtig halten, daß ein künstlerisch stark empfindender junger Mensch kein Interesse für Ästhetik hat. Mir selbst ist es so gegangen. Aber es gibt von Goethe einen Ausspruch, der die bedingungslosen Vernichter der Ästhetik doch stutzig machen könnte: "Die Kunst bleibt Kunst, und wer sie nicht durchgedacht, der darf sich keinen Künstler nennen." Man weiß, wieviel Zeit Goethe selbst auf dieses Nach- und Durchdenken verwandt hat!
Es ist bekanntlich ein Vorwurf, der immer und immer wieder gegen die Musik erhoben wird, sie sei eine bloße Kunst des Spiels der Empfindungen, sie führe zu einer unklaren Gefühlsduselei, bei der nichts herauskomme; Wolzogen im "Kraftmair" wollte dafür den Ausdruck "Wagalawnia" eingeführt wissen. Kommt das aber nicht zu einem guten Teil daher, daß der musikgenießende Mensch viel zu häufig bei einem unklaren, verschwommenen Genuß stehen bleibt, daß von allen Künstlern gerade die Musiker ihre Kunst am seltensten wirklich durchdenken? Liegt nicht eine ungeheure Gefahr in der Mühelosigkeit, mit der sich ein musiktreibender Mensch musikalische Genüsse jederzeit und im Übermaß verschaffen kann? Steht nicht im "Faust" ein Satz von nur drei Worten, aber gewichtig wie ein Donnerschlag: "Genießen macht gemein"?! Dieser Gefahr wirkt bei der Musik ein Moment entgegen, das sicher von den Wenigsten in dieser Bedeutung erkannt worden ist: die Technik. Das elende, täglich sich wiederholende Sich-abmühen um die Technik (sei es des Spielens oder des Komponierens) ist das natürliche Gegengewicht gegen die Gefahren eines einseitigen Musikgenusses. (Darum tritt die völlige Verworfenheit erst da ein, wo auch das noch wegfällt: beim Radio und beim Grammophon. Wohin dieses bloß passive Musikgenießen-wollen führt, zeigt als Musterbeispiel der heutige Stand der amerikanischen Musikkultur.) Bei diesem technischen Erarbeiten der Musik kommt es bei den meisten Musikern auch bis zu einem gewissen Grade zu einem Durchdenken. Aber wieviel Fragen bleiben dann noch ungelöst, wie oft versagt der Musiker, wenn er mit andern Künstlern in idealen Wettbewerb treten soll (Oper, Oratorium!), wenn die bloße "Technik" nicht ausreicht! Darum wird ein Künstler, je höher er in seinem Verantwortlichkeitsgefühl steigt, destomehr seine Kunst durchgedacht haben müssen; das hat Brahms ebenso getan wie Wagner, Schumann wie Berlioz. Solche Genies bedürfen der wissenschaftlichen Ästhetik nicht, vielmehr schaffen sie ihr neue Regeln; aber unter den übrigen Menschen sollten diejenigen, die überhaupt einmal auf philosophische Fragestellungen gekommen sind, dadurch auch auf die Ästhetik, als ein Teilgebiet der Philosophie, geführt werden.
Hier erhebt sich schon eine Streitfrage: der Philosophie? Nicht vielmehr der Psychologie? Auf der ganzen Linie hat ja nach dem Zusammenbruch der nachkantischen spekulativen Systeme auch die mit ihnen verknüpfte Ästhetik, die "Ästhetik von oben", einen überstürzten Rückzug antreten und einer vorsichtigeren Behandlung nach den Methoden der experimentellen Psychologie weichen müssen. Damit hat sie aber vollends die Verbindung mit dem gebildeten Laienpublikum verloren. Von Schopenhauers Gedanken über Kunst, auch wenn ihre metaphysische Verknüpfung bloß Spekulation ist, hat noch heute der Leser etwas; von einer Zergliederung der Bewußtseinsvorgänge beim ästhetischen Genuß erfährt er so wenig eine Förderung, als er die physiologischen Vorgänge des Gehens kennen muß, um einen Spaziergang zu machen. So ist man heute der rein psychologischen Methode schon etwas müde geworden; man gibt sie nicht auf, aber man versucht, über sie hinauszukommen.
Von zwei Werken ist da zu sprechen: das große, dreibändige System der Ästhetik (1905 1914) von Johannes Volkelt stellt einen gewissen Abschluß der psychologischen Methode dar, führt aber in seinem Schlußteil auch schon darüber hinaus; Theodor A. Meyers "Ästhetik" (1923)*1] ist vielleicht der erste Schritt auf dem neuen Wege.
Fragen wir nun, was im besonderen die Musik diesen Forschern verdankt.
Auf den ersten Blick scheint es: nicht viel. Es ist ganz auffallend, wie die Ästhetik ihre Beispiele, ihre Fachausdrücke fast nur von der bildenden Kunst her nimmt; in der Tat ist ja der Gesichtssinn für die "Wahrnehmung" der äußeren Welt der wichtigste. Ein kleinerer Teil wird der Dichtkunst gewidmet, besonders dem Drama und der Lesepoesie die Musik wird meist nur der Vollständigkeit halber miterwähnt. Darin zeigt sich die merkwürdige Kluft, die seit etwa hundertfünfzig Jahren die Musik von der übrigen Kultur trennt: man kann musikalisch sein, ohne gebildet zu sein, und man kann gebildet sein, ohne musikalisch zu sein. Es ist aber vielleicht eines der wichtigsten Merkmale der heutigen Entwicklung, daß die Musik mit aller Kraft strebt, aus dieser unheilvollen Isolierung wieder herauszukommen und daß sich ihr von der anderen Seite her helfende Hände entgegenstrecken. Darum bedarf auch die Musik heute nicht so sehr einer besonderen Musikästhetik, sondern des Anschlusses an die allgemeine Ästhetik: was für alle Künste gilt, muß auch für sie gelten. Gerade, weil sie die am schwersten mit Begriffen und Definitionen faßbare Kunst ist, können die Schwesterkünste ihr zu Hilfe kommen. Ich denke da besonders an die ästhetische Grundfrage des Verhältnisses von Inhalt und Form. Die rein psychologische Ästhetik hat das Verdienst, die Untrennbarkeit beider Begriffe nachgewiesen zu haben, und hat damit dem alten Streit von Gehalts- und Form-Ästhetik ein Ende gemacht. Gleichzeitig aber hat sie die Grenzen beider verwischt und unter dieser Unklarheit hat besonders die Musik zu leiden. So haben z. B. in dem berühmten Streit Pfitzner-Bekker die beiden Gegner beständig aneinander vorbeigeredet: wenn Bekker von der dichterischen Idee sprach, so meinte er etwas Inhaltliches, d. h. vor der musikalischen Formung Liegendes; wenn Pfitzner dagegen sagte, daß die musikalische Idee keine zwei Töne miteinander verbinden könne, daß dazu der "Einfall" notwendig sei, so meinte er damit den Moment der musikalischen Formung.
Es ist nun das große Verdienst Theodor A. Meyers, der an der Stuttgarter Technischen Hochschule den Lehrstuhl Fr. Theodor Vischers inne hat, diese Grundunterscheidungen wieder ins rechte Licht gestellt zu haben. Seine "Ästhetik", die zudem den Vorzug hat, in einem klaren, verständlichen Deutsch geschrieben zu sein, baut sich auf diesem Gegensatz vom Inhaltschönen und Formschönen auf. ("Schön" ist bei Meyer gleichgesetzt mit ästhetisch wirksam.) Sehr glücklich, scheint mir die Definition des Inhaltsschönen als "gesteigertes Leben". Vielleicht ist es keine Anmaßung von uns Musikern, wenn wir glauben, daß unter allen Künsten die Musik der höchsten Steigerung des Lebens fähig ist. Welch ein Weg von Kant, bei dem die Musik, als eine Kunst des bloßen Spiels der Empfindungen auf der tiefsten Stufe der Rangordnung steht, bis hierher! Erst von hier aus läßt sich die Überzeugung auch ästhetisch begründen, die jeder wahre Musiker von seiner Kunst hat: daß sie sein eigentliches Leben darstelle, zu dem das sogenannte tägliche Leben nur als eine Unterstufe gelten kann im Gegensatz zur Ansicht des Banausen (die in den oberen Schichten nicht weniger zu Hause ist als in den unteren) vom Ernst der "Wirklichkeit" im Gegensatz zur Kunst. Nein, lieber Mitbürger, das "wirkliche Leben" besteht nicht im Essen, Trinken, Telephonieren, Straßenbahnfahren, und die Kunst ist nicht ein müßiges Spiel der Phantasie, zu dem man heute begreiflicherweise nicht mehr so viel Zeit hat wie früher nein, die Wirklichkeit ist auf der Seite der Kunst: was ist denn z. B. vom Jahr 1822 übrig geblieben? Nichts als die Sonate Op. 111 von Beethoven. In diesem Kampf um den Wirklichkeitswert der Kunst, den wir Musiker wohl unser ganzes Leben lang führen müssen, bekommen wir nun in der neueren Ästhetik einen Bundesgenossen, den wir nicht unterschätzen wollen.
Der Begriff "Form" leidet, wie Meyer mit Recht sagt, an einer ungemeinen Vieldeutigkeit. Er wird bald ganz weit, bald eng gefaßt. Alles Klangliche in der Musik gehört zur Form, als Gegensatz zum Inhalt, und erst daraus werden die einzelnen Formgebiete, Melodie, Harmonie, Rhythmus, auch Tempo, Dynamik usw. abgegrenzt. Daß in der Musik bald das Inhaltliche (was "hinter den Klängen" liegt), bald das Formale besonders ausgeprägt sein kann, scheint mir eine Erkenntnis zu sein, durch die endlose Streitereien in der Musik vermieden werden könnten. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Brahms und Bruckner. Ich habe mich nach langjähriger unbedingter Brahms-Gefolgschaft enttäuscht von Brahms abgewandt, weil mich das Inhaltliche nicht mehr befriedigt. Das hindert mich aber nicht, die formale Meisterschaft (formal hier immer im weitesten Sinn genommen) von Werken, wie die G dur-Violinsonate, die I. Symphonie und vieles andere zu sehen und daran immer noch hohen Genuß zu haben. Bei Bruckner erkenne ich eine inhaltliche Größe und Weite, die ihn hoch über das 19. Jahrhundert hinaushebt, dagegen einen formalen Ausdruck dieses Inhalts, der nicht ebenso hoch steht, und der Angriffspunkte bietet. Wenn heute für und gegen Bruckner gestritten wird, so wird fast in allen Fällen vom einen der Inhalt verteidigt, vom andern die Form angegriffen, d. h. man redet auch hier aneinander vorbei. Hier also könnte die Ästhetik Nutzen stiften. Wenn ich dafür als einen verständnisvollen Führer die neue Ästhetik von Th. Meyer angelegentlich empfehle, so möchte ich doch zum Schluß noch ein Beispiel anführen, bei dem mir Volkelt eine Erklärung gegeben hat, die ich in der Musikliteratur nicht gefunden hatte: eine Deutung und zugleich bedingte Rechtfertigung der Programmusik. Nur im Idealfall sind Form und Gehalt im Gleichgewicht, es kann aber ebensowohl unverarbeiteter Gehalt da sein (z. B. in reflektierender, anschauungsarmer Lyrik), wie unverarbeitbarer, "zu viel Gehalt": so kann die Bildnismalerei niemals einen so oder so heißenden Menschen darstellen, sondern man braucht eine Unterschrift, "Bildnis des Herrn N."; der Bildhauer kann den sittlichen Charakter Bismarcks nur in allgemeinster Weise ausdrücken, alles andere müssen wir dazu wissen (wo dieses Wissen fehlt, z. B. bei Denkmälern in fremden Ländern, ist der künstlerische Genuß in der Regel sehr herabgemindert); ebenso leidet die Programmmusik unter einem nicht darstellbaren Vorstellungsüberschuß. Aber ist nicht in diesem Fall der Ästhetiker der Weitherzigere, Duldsamere, der sie zu erklären versucht, gegenüber dem Praktiker, der sie, nur seinem Gefühl folgend, in Grund und Boden verdammt?
So könnte eine Beschäftigung mit Ästhetik leicht das entgegengesetzte Resultat haben: nicht zur Pedanterie und Verknöcherung zu führen, sondern zu größerer Klarheit und Übersicht, und damit zu einem reicheren Erleben. Nein, es wäre zum mindesten undankbar, wenn man einen Ästhetiker sieht, ihn totzuschlagen.
*1] Verlag Ferd. Enke, Stuttgart
Quelle:
Neue Musikzeitung
46. Jahrgang 1925, 1. Februar-Heft