1928 · Süddeutsche Tagung f. Musikerziehung
Musikerziehung
GELEITWORT
Die Süddeutsche Tagung für Musikerziehung wurde mit Unterstützung des Württ. Kultusministeriums und der Stadt Stuttgart in Verbindung mit dem Reichsverband deutscher Tonkünstler und Musiklehrer (Landesverband Württemberg), der staatlichen Landesanstalt für Erziehung und Unterricht in Stuttgart, dem Konservatorium für Musik in Stuttgart, dem Verein zur Förderung der Volksbildung in Stuttgart, dem Verein der Gesang- und Musiklehrer an den höheren Schulen Württembergs und dem Württembergischen Bachverein veranstaltet von der Württembergischen Hochschule für Musik.
Allen denjenigen, die halfen, die Tagung vorzubereiten und durchzuführen, sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt.
Der Gedanke, in Stuttgart eine "Süddeutsche Tagung für Musikerziehung" zu veranstalten, entstand in mehreren Köpfen fast zu gleicher Zeit; ausgeführt wurde er unter Förderung des Staates und der Stadt in einmütigem Zusammengehen der Württembergischen Hochschule für Musik mit den oben genannten Verbänden. Es geschah nicht aus Parteilichkeit oder Engherzigkeit, daß der Kreis nicht weiter ausgedehnt wurde, sondern eher aus Bescheidenheit: es hätte uns sonst leicht wie dem Goetheschen Zauberlehrling gehen können. Überhaupt sahen wir nicht ohne Bangen der Tagung entgegen: würden wohl genug und die richtigen Teilnehmer sich einfinden? (es waren dann über vierhundert!) Würde es gelingen, eine so große Hörerschaft zu einer mittätigen Gemeinde zusammenzufassen? Dazu sollten die Singstunden Walther Hensels dienen, mit denen jeder Tag begann, und die in der Tat eine Verbundenheit zwischen den Teilnehmern schufen (nicht zum wenigsten auch zwischen den Vortragenden), die dann wohltätig noch in den nächsten Stunden zu spüren war, ferner der breite Raum, der dem gemeinsamen musikalischen Erleben gewidmet war: die unvergeßliche Aufführung der Kunst der Fuge in der gotischen Stiftskirche, die Abendmusik der Stuttgarter Jugendbünde in der Leonhardskirche, von der ein Teilnehmer schrieb: "Aus der Gottesferne des irdischen Tages auf einen Höhepunkt überströmender Freude führend, und in Bitte, Anbetung und Abendfrieden still verklingend, so meinen wir's!" Und schließlich der festlich-fröhliche Ausklang mit Cembalo und Kammermusik im Festsaal des Schlosses Solitude, des Musikabends des Konservatoriums und der Vorträge der Madrigalvereinigung Hugo Holles nicht zu vergessen! Das war wohl ein starkes Gegengewicht gegen die Vorträge, deren übermäßige Zahl (und Dauer!) auf den Tagungen der letzten Jahre (1) mit Recht immer mehr den geduldigen Hörer ermüdet hatten: wozu sich einen Vortrag anhören, den man besser und ruhiger gedruckt lesen kann? Diesem Fehler suchten wir vor allem zu begegnen durch Beschränkung der Gegenstände, wie der Zahl der Redner, die möglichst nicht hoheitsvoll ex cathedra sprechen, sondern in lebendiger Fühlung mit der Hörerschaft bleiben sollten. Darum sind auch in diesem Bericht die Vorträge nicht wörtlich wiedergegeben, sondern knapper, objektiver gefaßt "eine Rede ist keine Schreibe". Der architektonische Aufbau der Tagung, mit Hans Joachim Mosers Vortrag als Portal, über die Laienbildung, Liebhaberausbildung, Musik in der Schule, Berufsbildung des Musikers zur Behandlung einiger besonders wichtigen musikalischen Zeitfragen ist leicht zu erkennen; die wichtigere Frage nach dem inhaltlichen Wert ziemt uns nicht, selbst zu beantworten. Der Widerhall der Tagung aber war stark, und das gibt uns den Mut, den Tagungsbericht sowohl den Teilnehmern zu nochmaligem ruhig-besinnlichen Durcharbeiten vorzulegen, als auch Nicht-Teilnehmern einen Einblick in die behandelten Stoffgebiete zu gewähren. Das Beste, was nur aus der lebendigen Verbundenheit von Mensch zu Mensch hervorgeht, kann ein gedruckter Bericht natürlich nie vermitteln. Etwas wird aber dabei dem aufmerksamen Leser auffallen: daß die Tagung nicht von einem einheitlichen Geist getragen war, daß vielmehr vielfach fortschrittliche und konservative Tendenzen ohne Ausgleich nebeneinanderstanden. Das ist ein ehrliches Abbild der Gegenwart und ist auch gut so: weder liegt alles Heil im Fortschritt, noch in der Bewahrung klassischer Tradition. Der Ausgleich beider braucht nicht in der einzelnen Persönlichkeit stattzufinden, wenn nur das Verständnis für den Andersdenkenden da ist, und Erziehung zu einem solchen Geltenlassen ist vielleicht nicht die unwichtigste Aufgabe einer Musiktagung.
Unsere schwäbische Heimat hat keinen ganz großen Musiker hervorgebracht, das Musikleben Stuttgarts verläuft vielleicht äußerlich stiller als das von Leipzig oder Frankfurt, und doch ist Schwaben einer der musikalischsten Landstriche Deutschlands und seine Bewohner lassen sich ihr eigenes musikalisches Urteil nicht leicht von außen vorschreiben und sind auch manchmal schon (z. B. bei Bruckner, Hugo Wolf) hellhöriger gewesen als die draußen im Reich. Aber Organisation war seither nicht unsre starke Seite, daher mag es als ein gutes Zeichen für die Zukunft gelten, daß sieben Verbände reibungslos diese Tagung vorbereiteten und durchführten! Möge eine zweite umfassendere Tagung 1930 zeigen, was wir aus der ersten gelernt haben!
Hermann Keller
(1) Auf dem Kongreß für Musikwissenschaft in Leipzig 1925 waren gegen 110 Referate angemeldet.
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GEDANKEN ZU EINER REFORM DES MUSIKTHEORETISCHEN UNTERRICHTS
Von Hermann Keller
Von jeher ist die Forderung nach einer Reform des Theorieunterrichts erhoben worden und immer wird sie erhoben werden, denn gerade dieser Unterricht kann ohne ein gewisses festes System nicht gegeben werden; beständig und unmerklich aber verändert sich die musikalische Praxis und ihre Anforderungen an den theoretischen Unterricht, so daß immer von Zeit zu Zeit der Abstand zwischen der vorauseilenden Praxis und der zurückbleibenden Theorie als Spannung fühlbar, und manchmal peinlich fühlbar wird. "Was man gelernt hatte, das konnte man nicht brauchen, und was man brauchen konnte, das hatte man nicht gelernt" dieses sarkastisch zugespitzte Urteil, das Max Steinitzer vor etwa fünfundzwanzig Jahren ausgesprochen hat, hätten damals wohl viele Musiker unterschrieben. Heute ist es in vielem besser geworden, wir stehen mitten in einer Reform drin, die aber ihrem Wesen nach niemals abgeschlossen sein kann, sondern der durch die immerwährende Veränderung der Musik immer neue Aufgaben gestellt werden. Da der Unterricht seinen Stoff nicht beliebig vermehren kann, ohne den Lernenden zu überlasten und zu langweilen, so muß mit jedem Neuen, das dazukommt, etwas Altes entweder fallen, oder kürzer, summarischer ausgedrückt werden; wir haben heute z. B. kein Verständnis mehr für die pedantische Ausführlichkeit, mit der wasserklare Selbstverständlichkeiten in den seinerzeit tonangebenden Harmonielehren von Lobe, Jadassohn, Richter, Bußler und anderen ausgedrückt sind. Andererseits sind diese Grundlagen auch nicht zu entbehren, und die Experimente der neuesten Musik können vom Standpunkt des Theoretikers aus bis jetzt nur als äußerste Grenzfälle der seitherigen Musik vorsichtig bewertet werden; atonale Harmonielehre gibt es bis jetzt nur dem Titel nach (die Konstruktionen von Herbert Eimert und Alois Haba stehen in der Luft, d. h. sind noch auf kein allgemeineres Empfinden gegründet, was doch Lebensbedingung für jede musiktheoretische Lehre ist). Überhaupt wird es bei einer Reform des Theorieunterrichts weniger darauf ankommen, die Harmonielehre bis zur sogenannten modernen Musik auszubauen (Reger, Strauß, ev. noch Debussy) das ist verhältnismäßig leicht, wenn die Grundlagen solid sind, sondern den Theorieunterricht von einer gewissen Einseitigkeit, aus der bei mittelmäßigen Lehrern manchmal geradezu Verbohrtheit werden konnte, zu befreien und in innigere Verbindung mit der Praxis zu bringen. Fast allenthalben besteht heute noch eine stillschweigende oder ausgesprochene Gegensätzlichkeit zwischen Hauptfach und den theoretischen Fächern: jeder Fachlehrer beklagt sich, daß der Schüler nicht genug Zeit zum Üben habe, ja es gibt junge Musiker, die aus diesem Grund lieber privat als auf einer Musikhochschule studieren, und andererseits führen die Vertreter der Pflichtfächer einen beständigen Kampf um die Anerkennung ihrer Ansprüche.
Es gibt zweierlei Arten von Pflichtfächern: solche, bei denen der Einzelne sein Interesse der Allgemeinheit unterordnet, also hauptsächlich die Beteiligung an Chor und Orchester, besonders zu größeren Aufführungen. Erinnert man sich, in welchem Maße diese Stunden früher geschwänzt zu werden pflegten, wie z. B. Joachim in Berlin mit drakonischen Strafandrohungen die Beteiligung erzwingen mußte (die Geiger behaupteten, sie verderben ihren Strich durch Orchesterspielen), dann ist klar, um wie viel besser das heute geworden ist; das soziale Gefühl ist heute stärker und die Zahl der Stipendienempfänger größer als früher. Die zweite Art der Pflichtfächer, von der hier allein die Rede sein soll, sind die Bildungsfächer, deren Nutzen für den Schüler nicht so auf der Hand liegt, wie bei seinen Leistungen im Hauptfach: "Wenn ich später einmal irgendwo als Konzertmeister Probe spielen muß, so fragt niemand danach, ob ich auch Rhythmik und Metrik gehabt habe" das ist ein Argument, das sich nicht so ohne weiteres widerlegen läßt.
Wie sehr die Zahl der Bildungsfächer gestiegen ist, sieht man auf den ersten Blick: Früher war Theorieunterricht gleichbedeutend mit Harmonielehre und Kontrapunkt, daneben gab es noch einen dürftigen Musikgeschichtsunterricht heute gibt es allgemeine Musiklehre, Gehörbildung, Musikdiktat, Tonsatz, Formenlehre, Rhythmik und Metrik, allgemeine Musikgeschichte, Stilkunde, Ästhetik und Psychologie der Musik, Pädagogik, kurz einen Reichtum von Gegenständen, der für eine Universität ausreichen würde, und bei dessen gründlicher und gewissenhafter Durcharbeitung allerdings für das Hauptfach (oder, wie von dieser Einstellung her schon vorgeschlagen worden ist zu sagen, das "Sonderfach") nicht genug Zeit und Kraft übrigbleiben kann. Aber das wäre noch nicht das Schlimmste, denn meist sind die Lehrer einsichtig genug, in ihren Forderungen etwas herunterzugehen, um dem Schüler keine dauernde Überarbeitung zuzumuten. Das Schlimmere ist, daß die künstlerische Empfänglichkeit durch ein zu starkes Gegengewicht von wissenschaftlicher Behandlung leicht in verhängnisvoller Weise geschädigt werden kann. Jeder erlebt ja in sich immer wieder diesen Zusammenprall des künstlerischen und des wissenschaftlichen Menschen, den Gegensatz zwischen intuitivem und begrifflichem Erfassen der ganzen Wirklichkeit, die uns umgibt; aber wir laufen Gefahr, auf unserer intuitiven Seite immer mehr zu verarmen. Wir nehmen es als echte Deutsche mit der Bildung bitter ernst, und zwar mit der durch Examenskenntnisse beweisbaren Bildung. Würden wir diesen Weg noch weiter gehen, so müßten wir bei völliger Sterilität enden. Aber schon seit mehreren Jahren hat, wenigstens bei uns in Stuttgart (sicher auch anderwärts, aber davon weiß ich zu wenig), eine Gegenbewegung eingesetzt, deren noch ziemlich ferne Ziele vielleicht so formuliert werden können:
1. Die theoretischen Fächer müssen in möglichst engem Zusammenhang mit dem Hauptfach stehen und ihre gegenseitige Abschließung und Isolierung aufgeben.
2. Der Unterricht in diesen Fächern soll nicht Kenntnisse, sondern (was viel mehr ist) ein Können vermitteln; er soll daher nicht die Form der Universitätsvorlesung, sondern des Werkstättenunterrichts, der seminaristischen Übung haben.
Die neue pädagogische Richtung der letzten Jahre hat den Instrumentalunterricht nur wenig verändert: eine Etude von Chopin lernt man heute nicht viel anders als zur Zeit Reisenauers oder des Komponisten, nur daß man heute versucht, mit moderner Analyse tiefer in die Bewegungsvorgänge hineinzuleuchten und dadurch das, was alle großen Künstler instinktiv gewußt haben, näher an die Oberfläche des Bewußtseins zu bringen. Dieser Teil des Musikstudiums ist vollkommen konzentrisch und es braucht keine Viertelstunde verloren zu gehen, denn der Stoff wird ganz greifbar (mit den Händen und mit dem Geist zugleich) angepackt. Wie groß aber ist der Umweg, den die theoretischen Fächer um die Musik machen! Daß Beethovens D-moll-Sonate mit einem Sextakkord anfange, erfährt der Schüler aus der Harmonielehre, d. h. er erfährt dort, was ein Sextakkord ist und wird in den meisten Fällen die Nutzanwendung aus eigener Initiative machen müssen; was Sonatenform ist, erfährt er aus der Formenlehre, wer Beethoven war, aus der Musikgeschichte, und was er sich möglicherweise bei dieser Sonate gedacht habe, darüber kann er die widerstreitenden Meinungen von Paul Bekker und August Halm nachlesen. Das ist ja alles ganz schön "fehlt eben leider nur das geistige Band"; die Arbeit, es zu finden, laden wir dem Schüler auf, und ist es da ein Wunder, wenn er es oft nicht findet, wenn er oft nicht weiß, in welcher Weise z. B. die Satzregeln des vierstimmigen Satzes mit dem freien Klaviersatz Beethovens zusammenstimmen? Darum wäre der Idealfall, der leider bis jetzt selten zu verwirklichen ist, daß der praktische und der theoretische Unterricht möglichst in der Hand eines Lehrers liegen soll. Höchstleistungen lassen sich zwar nur durch ein Spezialistentum erzielen, aber es sind isolierte, unlebendige Leistungen, und wir suchen heute wieder auf allen Gebieten des Lebens den ganzen Menschen und das ganze Kunstwerk. Ich bin daher nicht dafür, eine möglichst hohe Allgemeinbildung beim Musiker anzustreben (es tut z. B. nichts, wenn er für die bildenden Künste kein Verständnis hat), sondern er braucht, um selbst wieder ausstrahlen zu können, eine möglichst gesammelte Bildung, wie sie z. B. Bachs Zeit noch besessen hat, wie sie aber im 19. Jahrhundert immer mehr verloren ging. Als Mendelssohn 1843 das Leipziger Konservatorium gründete, da wurde zum erstenmal der "Theorieunterricht" eingeführt und damit die Kluft geschaffen, an deren Beseitigung wir heute arbeiten. Wie trocken und unfruchtbar dieser Unterricht oft war, ist sattsam bekannt; man arbeitete die Übungsbeispiele des Lehrbuchs in vierstimmigem Satze aus, und die Aufgabe war richtig, wenn sie keine Quinten- und Oktavenparallelen enthielt. Am Stuttgarter Konservatorium arbeitete man früher jahrzehntelang nach einer Methode (Akkordlehre), bei der nach dreijährigem Studium noch kein Durchgang, kein Vorhalt, keine Modulation behandelt war; also Dinge, die ein vierjähriges Kind schon in einem Kinderlied musikalisch begreifen kann. Ähnlich wie in Stuttgart lagen die Verhältnisse an vielen Orten (z. B. in Leipzig), und ist es da ein Wunder, wenn die Schüler einen solchen Unterricht, der sie drei Jahre lang auf einer Elementarstufe festgehalten hatte, für nutzlos, trocken und pedantisch erklärten? Den fleißigen unter ihnen, die jahrelang Hunderte von Harmonieaufgaben in unverdrossenem Fleiße lösten und schließlich Gefallen daran fanden, drohte aber eine andere, fast tragisch zu nennende Gefahr: ihre Phantasie war dem theoretischen Ballast nicht gewachsen und wurde flügellahm. Ich habe mehrere solche Fälle miterlebt und glaube, daß diese Gefahr in ihrem ganzen Umfang heute noch gar nicht erkannt ist; man lese aber einmal das vernichtende (und berechtigte) Urteil, das Friedrich Klose über Bruckners Theorieunterricht fällt, oder im Briefwechsel zwischen Brahms und Clara Schumann eine schmerzlich sarkastische Bemerkung von Brahms über seine erneuten kontrapunktischen Studien, daß er mehr könne, als er zum Komponieren brauche (und wie scharf trifft Brahms damit sich selbst an seiner schwächsten Stelle!), dann wird man verstehen, was ich meine. Übrigens nicht nur der Schüler, sondern auch der Lehrer kann Schaden nehmen: noch kein Komponist hat ungestraft jahraus jahrein Theorieunterricht gegeben. Zwei Hauptfehler des alten Theorieunterrichts springen sofort in die Augen: er begann zu spät. Es ist ein Unding, daß jemand, der eine Nocturne von Chopin spielt, in der Theorie Dreiklang und Septakkord als noch unbekannte, schwierig aufzufassende Dinge erleben soll. An diesem Mißverhältnis trägt der Privatunterricht Schuld, in dem für andere Dinge meist keine Zeit ist; wie aber im Elementarunterricht spielend der theoretische mit verbunden werden kann, das haben ja auf dieser Tagung die Ausführungen von Scherber und Adler gezeigt. Jedenfalls aber ist die theoretische Vorbildung der meisten in eine Musikerhochschule eintretenden jungen Leute heute noch zu gering; das Pariser Konservatorium, das allgemeine Musiklehre, Gehörbildung, Musikdiktat u. a. in einem Vorkurs absolvieren läßt, den der Zögling zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr durchmacht, könnte uns ein Vorbild sein. Der zweite Hauptfehler war, daß früher die Theorieaufgaben sozusagen mathematisch errechnet und fehlerlos ins Heft eingetragen werden konnten; am Instrument wurde nie gearbeitet, wo es in Prüfungen doch verlangt wurde, versagten die Schüler kläglich. Was müßte aber ein Schüler im Theorieunterricht lernen? Er sollte durch ihn, kurz gesagt, musikalischer werden, d. h. seine latente musikalische Begabung müßte geweckt, gefestigt und erweitert werden. Auf der unteren Stufe sind Gehörbildung und Musikdiktat (neben allgemeiner Musiklehre) die wichtigsten theoretischen Fächer. Dann würde nach meiner Auffassung ein Jahr genügen, um einen halbwegs begabten Schüler in die tonale Harmonielehre einzuführen, ihm die Gesetze der Tonalität vor allem von Anfang an in der Literatur (in Liedern, Etuden, Sonatinen) zu zeigen und ihm einfachere Melodien aus dem Stegreif am Klavier ausführen zu lassen, aber frei klaviermäßig, nicht in einem zusammengestocherten vierstimmigen Satze. Überhaupt sollte das Arbeiten in das Heft auf dieser Stufe noch zurücktreten vor einem lebendigen Erfassen der harmonischen Grundgesetze. Dafür um so mehr transponieren lassen! Wer leicht und sicher transponiert, hat schon die halbe Harmonielehre begriffen. Daneben sollte die Gehörbildung eine organische Fortsetzung finden durch Übung zur Ausbildung des musikalischen Gedächtnisses. Übungen dieser Art, wie ich sie mit meinen Schülern zu machen pflege, und die ich angelegentlich meinen Kollegen (auch für den Privatunterricht!) empfehlen möchte, bestehen darin, daß dem Schüler eine musikalische Phrase vorgespielt wird, die er nicht (wie beim Musikdiktat) aufzuschreiben, sondern ohne Besinnen am Instrument nachzuspielen hat; dies hat den Vorteil, daß er etwaige Fehler sofort hört und selbst verbessern kann, während sie beim Musikdiktat erst durch die Korrektur des Lehrers offenbar werden; außerdem, daß dieses Verfahren fast keine Zeit erfordert, während man zum Musikdiktat ziemlich viel Zeit braucht, dafür aber allerdings auch Klassenunterricht geben kann. Ist die erste Phrase aufgefaßt, so folgt die nächste in gleicher Weise, hierauf beide zusammen, und so weiter, daß schließlich innerhalb weniger Minuten etwa folgende aus sechs einfachen Phrasen bestehende Melodie vom Schüler auswendig behalten wird:
Nach der Stunde erst hat der Schüler das Gespielte bis zur nächsten Stunde schriftlich zu notieren, wobei manchmal zu beobachten ist, daß er das Thema am Schluß der Stunde vergessen hat, daß es ihm aber nach einem halben Tag wieder fehlerlos einfällt. Ich erwähne nur kurz, daß bei entsprechender Begabung diese Übungen bis zu jedem beliebigen Grad von Schwierigkeit fortgesetzt und gesteigert werden können, und daß ich selbst aus solchen Übungen, z. B. auf Klaviersonaten von Haydn angewandt, großen Nutzen gezogen habe. Sie sind allerdings dann sehr anstrengend und lassen sich kaum über eine viertel bis halbe Stunde fortsetzen.
Das zweite Jahr des Theorieunterrichts gehört der Befestigung und Erweiterung des im ersten Jahre gelernten Stoffes, einerseits durch Analysen der klassischen Meisterwerke, besonders der Klaviersonaten Beethovens, wobei der Schüler Vorhalte, Modulationen usw. nicht nur erkennen, sondern empfinden soll, andererseits einer Fertigkeit im eigentlichen Tonsatz. Bezifferte Bässe soll man so bald wie möglich nicht hauptsächlich schriftlich ausarbeiten lassen, sondern als Generalbaßspiel am Klavier treiben; das ist kaum schwerer und viel interessanter, besonders wenn man, etwa nach Riemanns brauchbarem Katechismus des Generalbaßspiels, zu der klassischen Literatur (Corellis Triosonaten, Händel u. a.) übergeht. Hand in Hand damit kann, fast spielend, eine Einführung in die Formenlehre gehen, wenigstens in die dem Schüler zunächstliegenden Formen der klassischen Sonate und Symphonie. Im dritten Jahre könnten größere Melodien selbständig bearbeitet werden, wie sie etwa die ausgezeichnete Aufgabensammlung von Ferdinand Hiller bietet, wogegen ich das Bearbeiten der trockenen üblichen Lehrbuchmelodien, bei denen auf jede Note der Melodie eine eigene Harmonie zu setzen ist, eher für schädlich halte. Außerdem sollte in diesem Jahre (vielleicht auch schon früher) Partiturspiel betrieben werden, das seither offiziell den Dirigierschülern vorbehalten blieb; aber müßte nicht jeder gebildete Klavierspieler ein Streichquartett von Beethoven, eine Symphonie von Mozart in der Partitur nachlesen können? Die übrigen alten Schlüssel (außer dem Altschlüssel) jedem Theorieschüler beibringen zu wollen, was vielfach gefordert wird, halte ich indessen für eine unnötige Belastung.
An dieser Stelle erhebt sich nun die Frage des Kontrapunktunterrichts. Ich halte es für einen Unfug, ihn jedem Schüler aufzudrängen. Kontrapunktunterricht ist Kompositionsunterricht und nicht der krönende Abschluß eines normalen Lehrgangs der Theorie. Darum sollte der nicht zum Komponisten erzogene Musiker nur so viel vom Kontrapunkt erfahren, als er braucht, um die Meisterwerke der kontrapunktischen Zeit zu verstehen; daß wir aber heute in Deutschland jede Klavierlehrerin im Kontrapunkt prüfen, ist einfach lächerlich (nebenbei bemerkt: wir spielen heute so viel Bach, daß es gar nicht schwer ist, rein aus der Nachahmung heraus eine zweistimmige Invention zu schreiben, aber es ist auch vollkommen überflüssig). Daß auf keinem Gebiet der musikalischen Theorie die Verwirrung und der Gegensatz der Methoden größer ist als beim Kontrapunkt (die Pole sind Fux und Riemann), das sei nur nebenbei erwähnt; (1) jedenfalls ist hier (besonders beim üblichen Lehrgang des strengen Kontrapunkts, der z. B. mich auf Jahre hinaus geradezu gelähmt hat) die Gefahr am größten, daß der Schüler zu viel lernt und durch ein Übermaß von Regeln niedergehalten wird; er sollte aber immer so viel Auftrieb behalten, daß es ihm Freude machen würde, zu entwerfen und an eigenen Versuchen zu lernen, wie das fast alle großen Komponisten getan haben.
Ein sehr wesentlicher Punkt zur Durchführung all dieser Reformvorschläge sei noch kurz angeführt: dem Lehrer muß möglichst viel Freiheit gelassen werden; er darf vor allem in seiner Arbeit nicht durch zu hoch geschraubte oder zu pedantische Examensforderungen eingeengt werden. Heute haben wir allenthalben sehr schwere Examina, bei recht milder Beurteilung (sonst würden neun Zehntel aller Kandidaten durchfallen); besser wären leichtere Prüfungen und strengere Anforderungen; der Idealfall wäre der, daß der Schüler nicht "auf das Examen arbeiten" brauchte, sondern als selbstverständlich in den drei Jahren Unterricht das gelernt hätte, was er können muß. Einen Schüler auf das Examen "vorzubereiten" ist eine Herabwürdigung des Unterrichts, gegen die sich beide Teile, Lehrer und Schüler, wehren sollten.
Wie wird nun der Theorieunterricht der Zukunft aussehen? Sicherlich bei jedem Lehrer verschieden, denn jeder gibt sich selbst in seinem Unterricht, aber Schritt für Schritt wollen wir für einen lebendigen, "praktischen" Theorieunterricht kämpfen, damit unsere Schüler am Schluß ihrer Studienzeit mit einer Umkehrung von Steinitzers Wort sagen können: "Ich habe nichts gelernt, was ich nicht brauchen würde, aber alles was ich brauche, das habe ich auch wirklich gelernt."
(1) Sehr bemerkenswert sind die Gedanken Herman Roths, der strengen Kontrapunkt als Melodielehre vor die Harmonielehre setzen will.
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Quelle:
MUSIKERZIEHUNG
VORTRÄGE, GEHALTEN AUF DER SÜDDEUTSCHEN TAGUNG FÜR MUSIKERZIEHUNG IN STUTTGART
30. MAI BIS 2. JUNI 1928 VON
KARL ADLER / WILLI BEZNER / ERNST BINDER / ALEXANDER EISENMANN / THUSNELDE FETZER / RICHARD GRESS / KARL HASSE / HERMANN KELLER / WILHELM KEMPFF / HANS JOACHIM MOSER / WILLIBALD NAGEL / WOLFGANG PFLEIDERER / PAUL FRIEDRICH SCHERBER / JOSEF WENZ
HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KELLER
IM BÄRENREITER-VERLAG ZU KASSEL
1929
S. 3 4 / 106 111