1929 · Artikulation und Phrasierung
Deutsche Tonkünstlerzeitung
Vor zwanzig oder dreißig Jahren wußte kein Musiker etwas von Artikulation: alle dahin gehörenden Fragen, die es natürlich damals auch schon gab, wurden von dem weiten Mantel des Begriffs Phrasierung zugedeckt; die Geiger sagten zutreffender Weise meist Strichart. Dann rollte Hugo Riemann das Problem auf: aber als erster Pionier im Dickicht so vieler, noch unerforschter Dinge verirrte er sich, und an seinen "Phrasierungsausgaben" können wir heute wenig mehr als dem Mut, sie herauszugeben, bewundern. Dann kam (1917) Theodor Wiehmayer; kühl und klar wies er in seiner "Musikalischen Rhythmik und Metrik" Riemanns leidenschaftliche Irrtümer nach, begrenzte als erster die "Phrasierung" auf die musikalische "Phrase", also auf die musikalische Satzgliederung, während Riemann mit ihr weiter bis zum musikalischen Wortzusammenhang, bis zur Motivgliederung vorzustoßen versucht hatte. Nun war Klarheit und Ordnung geschaffen, aber diese neue Welt war noch leer: das Leben innerhalb der musikalischen Phrase blieb nach wie vor geheimnisvoll. Zwar schien Wiehmayers Buch dem dankenden Verstand alles aufs schönste erklärt zu haben, aber der musikalische Instinkt lehnte sich an nicht wenigen Stellen auf und sah Untiefen, die durch Planken zugedeckt waren. Daher versuchte der Verfasser in seiner "Musikalischen Artikulation, besonders bei Job. Seb. Bach" (1924; erst im Verlag C. F. Schultheiß, jetzt im Bärenreiterverlag) die Probleme von der anderen Seite, von der Seite der Artikulation her anzupacken, die sowohl von Wiehmayer, als besonders von Riemann zu sehr vernachlässigt worden war. Inzwischen hat sich nun, wie ich mit Genugtuung festgestellt habe, der Begriff "Artikulation" wieder Heimatberechtigung in der Musikliteratur errungen; aber viel bleibt immer noch zu tun, denn es sind keine "akademischen" Fragen, sondern Dinge, die den Musiker in jedem Takt, den er spielt, ganz persönlich angehen, so daß ich gerne der Aufforderung der Schriftleitung nachkomme, mich über dieses Thema zu äußern, - natürlich nicht so, daß ich einen kurzen Auszug meines Buchs versuchen würde, zu geben, sondern daß ich von dem was ich inzwischen zugelernt habe, einiges wiedergeben möchte. Das betrifft besonders das Verhältnis von Phrasierung und Artikulation. Ich muß da aber doch zuerst die Begriffe nochmals genauer umreißen, wie ich sie verstehe: Phrasierung (übereinstimmend mit Wiehmayer) als die Lehre davon, wie musikalische Phrasen zusammenhängen, sich (in unregelmäßigen Fällen) gegenseitig überschneiden, verschränken, verketten usw. Unter "Phrase" versteht Wiehmayer eine Tonfolge, die einen Anfang und ein Ende für sich hat, und eine leicht übersehbare Größe (a. a. O., S. 84). Dieser Definition möchte ich heute etwas zufügen: so, wie es in der Sprache keinen Satz gibt ohne Verbum, so in der Musik keine Phrase ohne einen harmonischen Vorgang. Also: eine Tonfolge im gebrochenen c-dur-Akkord ist keine Phrase, auch wenn sie einen deutlichen Anfang und Ende hat und leicht übersehbar ist. Vielmehr, daß etwas geschieht, daß der Satz einen "Inhalt" hat, wird, wie in der Sprache durch die Verbalkonstruktion, so in der Musik einzig durch die Harmonik bewirkt, meist in Form einer (vollständigen oder unvollständigen) Cadenz. Die "Phrasierung" geschieht nun, im Normalfall, durch musikalische Interpunktion, die früher im Notenbild überhaupt nicht ausgedruckt wurde, die übrigens auch jetzt nur in einigen instruktiven Ausgaben (Wiehmayers bekannte Ausgaben mit den Trennungsstrichelchen, der Interpunktionsausgabe des Wiener Jakob Fischer mit einem Versuch, die Interpunktionen der Sprache genauer auf das Notenbild zu übertragen) angegeben ist, wo man dem Schüler glaubt, eine Eselsbrücke bauen zu müssen, während der intuitiv begabte Musiker ihrer nicht bedarf. Auch hier möchte ich eine Erweiterung anbringen, die seither bei Wiehmayer und mir fehlte: man kann auch ohne abzusetzen, rein dynamisch phrasieren, nicht nur auf der Orgel und im Orchester durch Hinzutreten oder Abstoßen von Stimmen, sondern selbst auf dem Klavier. Bei Fugen, die man des inneren Ausdrucks wegen sempre legato spielt, also etwa bei der es-moll-Fuge des wohlt. Klaviers (1. Teil) ist das sogar die einzige Möglichkeit, zu phrasieren, ohne die Artikulation zu stören. Sodann sind von mir damals die Fälle nicht berücksichtigt worden, in denen eine Phrasierung durch die lange Dauer der abschließenden Note sozusagen von selbst entsteht:
Auch bei vollkommener legato-Ausführung hört man hier einen Einschnitt vor den letzten drei Achteln. Ebenso ist es mit großen Intervallschritten; daher ist bei melodisch unauffälligen rhythmisch wenig gegliederten Fortgang der Melodie die Phrasierung durch Trennung ungleich wichtiger:
(wenn man nicht auch in diesem Fall vorzieht, durch Dynamik zu phrasieren).
Beide Beispiele haben nun aber ein weiteres vollkommen deutlich gezeigt, daß der Begriff "Phrasierung" doch auch innerhalb einer Phrase muß noch angewendet werden können: aber nicht, wie es bei Riemann der Fall ist, wo die musikalischen Urzellen noch von der Phrasierung erfaßt werden, sondern ganz einfach als Sinngliederung. Phrasierung ist Sinngliederung. Die sinngemäße Zusammengehörigkeit im zweiten Beispiel (Umkehrung des Themas) wird immer bestehen, in welcher "Auffassung" man im übrigen das Stück spielen mag. Es gibt also (wenige Grenzfälle ausgenommen) fast stets nur eine richtige und eine oder mehrere falsche Phrasierungen, richtig im Sinne von verstandesmäßig beweisbar, also in verbindlicherem Sinn, als man, bei älterer Musik, von richtigem Tempo, richtiger Dynamik sprechen kann. Und damit habe ich nun vielleicht den Gegensatz von Phrasierung und Artikulation klar hingestellt: Artikulation ist, wo sie nicht vorgezeichnet ist, stets Auffassungssache, ist fast nie verstandesmäßig beweisbar. Phrasierung versteht sich für einen begabten Musiker von selbst, um Artikulation kann man sich leidenschaftlich streiten, und wenn einer den andern fragt: "wie phrasieren Sie dieses Thema?" so meint er immer: "wie artikulieren Sie es?" Ueber den Sinn der Artikulation als primäres musikalisches Ausdrucksgebiet, über die geistige Haltung des legato, des staccato usw. habe ich in meinem Buch ausführlich gesprochen; hier will ich nur das Verhältnis zur Phrasierung ins Auge fassen: auch die Artikulation beschränkt sich ja nicht auf fortwährendes legato einerseits oder sempre staccato andererseits, sondern schafft durch Verbindung beider Arten gleichfalls Zusammenfassungen oder Trennungen, die nun aber ganz anders wirken und verstanden werden müssen, als die durch Phrasierung entstehenden Einschnitte, nämlich nicht als Sinngliederung, sondern als Ausdrucksgliederung, wenn das Wort erlaubt ist. Nun richtet sich normalerweise der Ausdruck nach dem Sinn, ordnet sich ihm unter, aber es kommen genug Fälle in der Musik vor, in denen der übermächtige Ausdruck sich an die erste Stelle setzt und den Sinn überwältigt, wie in jedem stark empfindenden Menschen die Sphäre des Unbewußten bisweilen stärker ist als die des Bewußtseins. Schon Wiehmayer führt (a.a.O. S. 183 188) solche Fälle an, in denen die Artikulation der verstandesmäßigen Motivbildung widerspricht oder zu widersprechen scheint. Solche Fälle liegen aber nicht vor, wenn Schluß und Anfang zusammenfallen, was viel häufiger ist, als seither erkannt zu sein scheint; so ist z. B. in den von Wiehmayer zitierten Beispiel:
die Trennung nicht, wie Wiehmayer will, nach dem Viertel c1 zu denken, sondern c2 ist zugleich Schluß der alten und Anfang der neuen Phrase, etwa so:
Im Finalthema der Eroica handelt es sich aber ganz deutlich um eine Confliktsbildung, in der die Artikulation den Sieg behält:
Die Cäsur im zweiten Takt nach d2, im viertes nach es2, die man wahrscheinlich setzen würde, wenn das Thema ganz unbezeichnet wäre (leider gibt es ja heute noch Ausgaben großer Verlage, in denen Beethoven so "verbessert" worden ist!), ist durch die Artikulation nicht nur überschlagen, sondern es wird durch sie ein neuer, gegenteiliger Zusammenhang geschaffen. Hier ist nun die nur dem sehr fein fühlenden Musiker bemerkbare, fließende Grenze von Phrasierung und Artikulation. Die Frage müßte lauten: bekommt das Thema durch Beethovens Artikulation einen ganz neuen gedanklichen (d. h. in der Sprache der Musik: motivischen) Sinn, oder nur einen besonderen Ausdruck? Sie ist verstandesmäßig nicht zu entscheiden, da die Sprache der Musik nicht über fest abgegrenzte Begriffe verfügt, wie die Wortsprache. Trotzdem wir eine fleißige und tüchtige junge Musikwissenschaft haben, sind diese innersten Geheimnisse der Musik heute noch unentschleiert und werden es wohl bleiben, denn es sind Bezirke, die nicht mehr dem Wissenschaftler, sondern einzig dem Künstler zugänglich sind.
Quelle:
Deutsche Tonkünstlerzeitung
27. Jahrgang, Berlin, 5. Februar 1929, Nr. 492