1929 · Bachkultus und Bachpflege

Musik und Kirche

Wir treiben heute, und schon seit einer Reihe von Jahren einen Kultus mit dem Namen und dem Werk Johann Sebastian Bachs; was uns fehlt, ist eine selbstverständliche Pflege dessen, was uns von Bach heute noch lebendig ist.

Der Bachkultus wird in großem Stil zelebriert: durch die jährlichen großen Bachfeste der Neuen Bachgesellschaft, sie bedeuten sozusagen das Hochamt, mit Repräsention jeder Art, Empfängen durch städtische Behörden, Festaufführungen der großen Werke, mit Programmbüchern und Zeitungsberichten nach allen Teilen Deutschlands und Notizen nach dem Ausland; als sozusagen kanonische Schriften dieses Kultus haben wir neben den großen offiziellen Biographien die jährlich erscheinenden Bachjahrbücher, in denen die Wissenschaft beisteuert, Bachs Bild wenigstens in kleinen Zügen zu vervollständigen (mehr kann schon gar nicht mehr getan werden) und seine nächste Umgebung zu beleuchten aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um Bachs willen; im Unterricht ist Bach längst der Eckstein geworden, der das ganze praktische und theoretische Lehrgebäude tragen muß; keine Prüfungsordnung kommt aus, ohne die Inventionen (zur Aufnahme), das Wohltemperierte Klavier (zum Abgang in der Mittelstufe) und seine Solosonaten (in der Oberstufe) zu verlangen; ein Organist oder ein Chor, der einen Bach-Abend gibt, kann im voraus einer respektvollen Behandlung durch die Zeitungen, ja sogar (was mehr wert ist) eines guten Besuchs versichert sein, und so weiter , das ist es, was ich mit Bachkultus meine. Die gemeinsame Voraussetzung für alle diese Gegebenheiten ist die, daß Bach durch einmütigen Beschluß der Musikwelt als zu den Göttern versetzt gilt, daß er dem menschlichen Urteil entzogen ist, und es sich nur noch darum handeln kann, seine Musik auszulegen, für ihn Mission zu treiben, und von Zeit zu Zeit in eindrucksvollen Festen seine Größe der großen Menge darzuzeigen.
Nun wird niemand mir etwas so Törichtes zumuten wollen, daß ich mich über diese Weltgeltung Bachs und die ungeheure Macht, die seine Musik heute ausübt, nicht freuen, oder sogar mich positiv dagegen wenden würde. Ich möchte aber gegenüber einer vielfach schon gedankenlos, weil selbstverständlich gewordenen Verhimmelung Bachs einige Gedanken anderer Art zum Mit- und Nachdenken aussprechen. Ich mache den Vorschlag, sich einmal vorzustellen (oder wenigstens den Versuch dazu zu machen) was eintreten würde, wenn über kein Konzert mehr irgendeine Besprechung oder Kritik in einer Zeitung oder Zeitschrift käme, und wenn ein Jahr lang alle aufgeführte Musik ohne Namensnennung des Komponisten gespielt würde? Der erste Fall würde eine völlige Reinigung unserer Konzertsäle von allen nur der Kritik wegen, also aus persönlichem (berechtigtem oder unberechtigtem) Geltungstrieb gegebenen Konzerte zur Folge haben; schade, daß das nicht durchgeführt wird, denn es wäre in der Tat durchführbar. Der zweite angenommene Fall aber würde eine völlige Ratlosigkeit des ganzen Publikums, der Fachleute ebenso, wie der Laien, zur Folge haben. Man würde völlig unberühmte Werke, Kompositionen von Autoren dritten Rangs, schön finden, und eine ganze Reihe von Werken der großen Klassiker in vielen Fällen ablehnen oder nur sehr mäßig finden: Und man hatte Recht! Es ist ganz unglaublich, in welchem Grad diese großen Namen, wie Bach, Mozart, Beethoven alles Licht auf sich ziehen und ihre Umgebung im eigentlichsten Wortsinn in Schatten stellen. So ganz wird einem das erst klar, wenn es sich in irgendeinem Fall um die Frage der Echtheit oder Unechtheit handelt. Dasselbe Werk, das, solange die Echtheit ganz außer Zweifel steht, den Stempel eines Meisterwerks trägt, wird brüchig und schlecht, sobald die legitime Herkunft angezweifelt wird. Wie warm ist Spittas Bewunderung der acht kleinen Präludien und Fugen für Orgel, die er für echt hält, während andere nicht annehmen können, daß die stümperhaften, von Fehlern strotzenden Versuche von Bach sein könnten? Wollte jemand an diesem Punkte den Grenzübertritt vom Bachkultus zur Bachpflege vollziehen, so wäre ihm Johannes Schreyers erbarmungslose (für mein Gefühl zu weit gehende) Kritik an Dutzenden von ihm bezweifelter, aber sonst allgemein für echt gehaltener Werke Bachs zum Studium zu empfehlen (Beiträge zur Bachkritik). Aber möge immerhin der zehnte Teil oder noch mehr von Bachs Werken unecht sein, er bleibt immer noch riesengroß, und wirft seinen Schatten auf seine ganze Umgebung. Ich finde es nicht so schlimm, wenn man schwachen Werken Respekt erzeugt, in dem guten Glauben, sie seien von Bach, als wenn geniale Werke als solche nicht erkannt und anerkannt werden, weil ihnen der Stempel J. S. Bach fehlt. Es gibt eine Triosonate in d-moll, die Max Seiffert aus einem Thüringer Manuskriptbande 1904 (im Jahrbuch der Musikbibliothek Peters) veröffentlicht hat; sie trägt wohl den Namen Bachs, aber die Autorschaft ist unsicher; für mich ist sie fast sicher, weil ich niemanden weiß, dem ich ein so geniales Werk zutrauen würde, als eben J. S. Bach (auch an Einzelheiten erkenne ich in der Musik seine Handschrift); aber trotzdem diese Sonate bedeutender ist, als ein Dutzend von Triosonaten aus Riemanns Collegium Musicum zusammengenommen, hat sich bis jetzt niemand für sie interessiert, weder Verleger noch Kritik. Und ist es erlaubt, davon zu sprechen, in welcher Weise der größte Klavierkomponist des 18. Jahrhunderts, nämlich Domenico Scarlatti, durch den zweitgrößten, nämlich Johann Sebastian Bach, verdunkelt, ja in Deutschland wenigstens nahezu ausgeschaltet wird? Oder daß es Orgeltrios von Krebs gibt, die so schön wie die Johann Sebastians sind, daß sie aber fast von niemandem gespielt werden, weil sie eben nicht von Bach sind? Oder, daß Bachs Söhne, die doch bedeutende Komponisten waren, heute durchgehends noch unterschätzt werden, weil sie eben die Söhne ihres Vaters sind? Daß niemand z. B. das großartige, doppelchörige "Heilig" von Philipp Emanuel aufführen will, wahrend die unbedeutendsten Kirchenkantaten (es gibt auch solche) Johann Sebastians stets ihre Interpreten und ein geduldiges Publikum finden?

Das sind die notwendigen Nebenerscheinungen, die mit jedem Kultus verbunden sind, nämlich das Aussetzen jeder Kritik, ebenso wie es auf politischem Gebiet z. B. mit dem Kultus war, der den früheren regierenden Kaisern willig dargebracht wurde. Immerhin aber machen sich jetzt auch auf musikalischem Gebiet Zeichen eines Umschwungs (die einen werden sagen: endlich, die andern: leider) bemerkbar. Im Beethoven-Jahr 1927 war ganz deutlich eine Auflehnung dagegen zu erkennen, diesen Heros der deutschen Musik nur dadurch zu feiern, daß man Wolken von Weihrauch zu ihm emporsteigen ließ: im Gegenteil, man verlangte eine Revision des romantischen Kolossalbilds, man wollte schärfere, menschlichere Züge sehen. Auch gegen die letzten Bachfeste (besonders gegen München 1927 und Kassel 1928) ist eine starke, kritische Bewegung entstanden. Aber all diesen großen Festen gegenüber, wie Regerfest, Beethovenfest, Händelfest, Bachfest, bekommt man manchmal eine feindliche Einstellung und zitiert Goethes Prometheus: "Was kündest du für Feste mir? Sie lieb' ich nicht, des echten Mannes wahre Feier ist die Tat".
Was für eine Tat fordern wir aber von einer wahren Bachpflege? Sicherlich keinen größeren Raum für Bach im Unterricht. Da müßten wir im Gegenteil für eine Entlastung Bachs zu Gunsten der übrigen sogenannten Alten Meister des Klavierspiels eintreten. Und ebensowenig brauchen wir noch mehr Konzertaufführungen von Kirchenkantaten, die ohne Zusammenhang mit Gottesdienst und Kirchenjahr immer wie entwurzelt dastehen. Am allerwenigsten brauchen wir Aufführungen von Bachs Kammermusik- und Orchesterwerken (diese etwa in großer Streicherbesetzung und Konzertflügel statt Cembalo) in Sälen mit über tausend Plätzen, vielmehr könnte gerade diese Musik: die Brandenburgischen, die Violin- und Klavierkonzerte als Kammermusik in ganz kleiner, oft solisiischer Besetzung in viel höherem Maß dem häuslichen Musizieren oder dem Musik machen vor dreißig oder vierzig Hörern dienen, als es seither geschieht; weil aber diese ganze Musik als Orchestermusik in den Verlagsverzeichnissen lauft, wird sie vom Kammermusikspieler meist gar nicht in Betracht gezogen.
Ferner denke ich an die Choralbearbeitungen Bachs für Orgel; sie gehören zu den am wenigsten bekannten und verstandenen, dabei zu den gedankentiefsten Schöpfungen Bachs. Der Weg zu ihrem Verständnis geht über das Verständnis des Chorals, dessen Einkleidung der Hörer unmöglich erkennen kann ohne den Leitfaden der Melodie, und dessen kontrapunktische Verarbeitung ohne Kenntnis des ganzen Liedes nicht erfaßt werden kann. Ich habe daher in einem Vorabend zum Kasseler deutschen Bachfest einen ganzen Abend dem "Orgelbüchlein" gewidmet, dessen Choräle nicht nur von mir gespielt, sondern von der Kasseler Singgemeinde gesungen worden sind. Wenn ich dabei auf meine neue Ausgabe des Orgelbüchleins mit Texten und Choralsätzen, und die Sonderausgabe der Choralsätze für Chöre (im Bärenreiter-Verlag) hinweise, so wird man mir das hoffentlich in diesem Zusammenhang nicht allzusehr als eine oratio pro domo auslegen.
Noch notwendiger wäre ein solches Verfahren übrigens bei den großen Choralvorspielen, etwa bei den drei Kyrie-Kompositionen (Peters VII, 39) den beiden Bearbeitungen von "An Wasserstüssen Babylon" und anderen Herrlichkeiten. Auch diese Bachpflege läßt sich in kleinem Kreis und ohne den ganzen Apparat eines öffentlichen Konzerts treiben. Vielleicht ist es auch nicht unnötig, auszusprechen, daß die französischen und englischen Suiten, die Partiten, ja selbst die 48 Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers mehr zur Gemütsergötzung wofür Bach sie ausdrücklich bestimmt hat, wofür sie aber sehr oft nicht benutzt werden wie als Lehrstoff für die Klavierstunde verwendet werden sollten. Wenn wir vom deutschen Musikleben sprechen, begehen wir so leicht den Fehler, nur an den Teil zu denken, der sich in der Öffentlichkeit abspielt, der durch Konzertprogramme, Kritiken, Musikbriefe u. a. nachgewiesen werden kann. Vielleicht aber ist, wie die Frau, von der man nicht spricht, die Musik die beste, über die man nichts liest? Dann möchten diese Zeilen dafür werben, daß der Anteil der Kunst Johann Sebastian Bachs an dieser zweiten Art von Musik recht groß sein möge.

Quelle:
Musik und Kirche 1929, S. 160 - 163