1929 · Orgelchoräle (Württ. Choralbuch)
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
509 Vor= und Nachspiele zu 156 Chorälen des Württ. Choralbuchs
(XV u. 518 Seiten, 2 Bände, herausgegeben vom Württ. Lehrerunterstützungsverein, J. P. Metzlers Verlag, 1928. Preis gebunden 32 Mark.)
Besprochen von Dr. Hermann Keller.
Seit langem sehnlich erwartet, ist nun die neue amtliche Sammlung von Vor= und Nachspielen zum Württ. Choralbuch erschienen. Sie wird auf zehn oder mehr Jahre hinaus das gottesdienstliche Orgelspiel in den meisten Kirchen unseres Landes entscheidend beeinflussen, die beiden gut ausgestatteten, dauerhaft und geschmackvoll gebundenen Bände werden auf den meisten Orgelbänken in Stadt= und Landgemeinden anzutreffen sein und viel benützt werden; das rechtfertigt eine ausführlichere Besprechung, als sie bei privaten Veröffentlichungen von Choralvorspielen angebracht wäre, die trotz lohnender Rezensionen meist ja doch nur wenig gekauft werden.
Dieses neue württ. Orgelchoralbuch hat zwei Vorgänger gehabt. Das 1896 erschienene, von Prof. Heinrich Lang herausgegebene Orgelalbum, das schon vor Erscheinen des neuen württ. Choralbuches (1912) vergriffen war, und das 1851 von Kocher, Silcher und Frech zum Gebrauch in der Kirche und in den Seminaren herausgegebene Orgelspielbuch, das eine Art Orgelschule und Vorspielbuch zugleich sein wollte und übrigens auf einem beachtenswert hohen Niveau stand. Der Niedergang des kirchlichen Orgelspiels wirkte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollends aus, wofür die meisten gegen Ende des Jahrhunderts herausgegebenen Vorspielbücher traurig=beredte Zeugnisse sind: denkbar nieder in dem geistigen wie in den technischen Anforderungen, schulmeisterlich pedantisch die Art der Imitation, weichlich und gleichzeitig beschränkt die Harmonik mit ihren vielen Septakkorden und ihren stereotypen chromatischen Durchgängen. Sicherlich war das württembergische Orgelalbum keines der schlechtesten, dafür bürgt schon der Name des trefflichen Heinrich Lang, aber er mußte eben auch mit dem damals Gegebenen rechnen. Erst unmittelbar darauf begann der Wiederaufstieg der Orgelkunst, nicht nur durch die Wiedererweckung der alten Meister, sondern auch durch neue Bahnen in der Komposition, in der ausdrucksvolleren Wiedergabe von Orgelwerken und im Orgelbau: man braucht nur an die beiden Namen Max Reger und Karl Straube und ihre Schule zu erinnern, ohne damit die vielen anderen Mitstrebenden zu vergessen. Nun ist diese Bewegung zum Stillstand gekommen und durch eine neue abgelöst worden, die z. B. durch die Prätorius=Orgel in Freiburg i. Br. (1926) und Freiberg i. S. (1927) schlagwortartig bezeichnet werden kann: Verwerfung des modernen ausdrucksvollen, nuancierenden Orgelklangs, Forderung der Rückkehr zum alten, überpersönlichen, hoheitsvollen Klang der Barockorgel.
In diese Zeit also fällt die eben erfolgte Herausgabe der Orgelchoräle, die lange vorbereitet, aber durch Krieg und Inflation verzögert worden war. Der Württ. Lehrerunterstützungsverein, der finanziell die Verantwortung trug (wie früher schon beim "Orgelalbum"), beauftragte damit die Seminarmusiklehrer Studienräte Kunz (Nürtingen), Nagel (Eßlingen) und Prof. Schäffer (Heilbronn) sowie die Kirchenmusikdirektoren M. Mezger und A. Strebel. Die Endredaktion hatte Martin Mezger. Diese fünf Männer hatten wahrlich keine leichte Aufgabe. Sie waren sich klar darüber, daß "es galt, aus einer gewissen Enge herauszukommen" (Vorwort, S. V), daß den berechtigten Forderungen der Gegenwart Rechnung getragen werden müsse, aber sie sahen andererseits auch deutlich, daß es ihnen nicht möglich sein würde, ganze Arbeit zu leisten, sondern daß ihre Arbeit "nur einen Kompromiß darstellen kann zwischen dem geschichtlich Gewordenen und den neuen Bestrebungen auf dem Gebiet des kirchlichen Orgelspiels".
Der Fleiß und die Gewissenhaftigkeit, mit der demnach alle überhaupt nur erreichbaren Vorspielsammlungen auf Brauchbares hin durchgesehen wurden, die Zähigkeit, mit der um geschützte Werke (d. h. solche, deren Urheber noch nicht 30 Jahre tot sind) ein Kampf mit den Verlegern geführt wurde, kurz, die ganze, sehr große Mühe der Herausgabe zweier solcher Bände müssen rückhaltlos und dankbar anerkannt werden. Gegenüber 88 Chorälen des "Orgelalbums" sind zu 156 Chorälen des neuen Choralbuchs Vorspiele aufgenommen worden und die gebräuchlicheren Choräle wurden mit mehreren Vorspielen (bis zu zehn) versehen.
Ehe wir nun zu einer Besprechung im einzelnen übergehen, noch ein Wort über den Titel: "Orgelchoräle" (nicht Orgelvorspiele). Es ist in den letzten beiden Jahrzehnten mehrfach, auch vom Verfasser dieser Zeilen, darauf hingewiesen worden, daß die sog. Choralvorspiele Bachs (und seiner Vorgänger) eigentlich Orgelchoräle sind, d. h. keine Vorspiele auf einen Choral, den dann die Gemeinde singt, sondern eine (oft sehr komplizierte) künstlerische Form des Chorals selbst, damals benutzt zum abwechselnden Vortrag eines Chorals durch Orgel und Gemeinde, zum Abendmahlspiel, auch nur zum Studium, während die eigentlichen "Vorspiele" am Anfang des Gottesdienstes sehr kurz waren, und zum Anfang der Liturgie (einer Motette des Chores), nicht zum Gemeindechoral führten. Heute ist das alles ganz anders, zumal in Württemberg und Baden, wo es keine Liturgie gibt: da muß das Vorspiel auf den Gemeindechoral hinführen und gleichzeitig mit seiner Stimmung den ganzen Gottesdienst einleiten. Zu diesem Zweck brauchen wir dringend Vorspiele im eigentlichen Sinne, keine "Orgelchoräle", daher wäre für die vorliegenden der Titel "Choralvorspiele" richtiger gewesen. Die Bezeichnung "Orgelchoräle" findet ihre teilweise Rechtfertigung in dem Bestreben (Vorwort, S. V), auch für liturgische und kirchenmusikalische Feiern Stoff zu bieten.
Nun zur Beurteilung des Inhalts im einzelnen. Dabei muß man sich immer vor Augen halten, welche Beschränkung die Herausgeber sich auferlegen mußten, nur leichte, höchstens mittelschwere Stücke aufzunehmen. Übrigens ist trotzdem der Schwierigkeitsgrad im Durchschnitt beträchtlich höher als im "Orgelalbum", und schon darin sieht man eine aufsteigende Linie von 1896 bis 1928. Man sieht sie aber auch, wie man füglich erwarten durfte, im Inhalt, über den wir am besten einen Ueberblick bekommen, wenn wir einteilen
A) in vor=bachische Meister; aufgenommen wurden 38 Vorspiele,
B) Bach, seine Zeitgenossen und Schüler; zus. 51 Vorspiele,
C) das neunzehnte Jahrhundert; 343 Vorspiele,
D) Gegenwart; 77 Vorspiele.
Daß nicht mehr Stücke aus der klassischen Zeit der deutschen Orgelkunst aufgenommen wurden, liegt wohl daran, daß die meisten Choräle, zu denen diese Meister so zahlreiche Kompositionen geliefert haben, heute bei uns nicht mehr in Gebrauch sind. Aehnlich ist es mit Bach; was irgendwie dafür brauchbar war, wurde aufgenommen (mit einzelnen Transpositionen, z. B. "Heut triumphieret Gottes Sohn" von g=moll nach fis=moll, kann ich mich nicht befreunden). Neben Bach ist mit 11 Stücken Joh. Gottfr. Walther (1685 1748) vertreten, Bachs Weimarer Kollege, ein fruchtbarer, tüchtiger Musiker, erfindungsreich, wenn auch ohne Tiefe. Spärlich sind Bachs Schüler vertreten, man merkt das allmähliche Erlöschen der Tradition.
Und nun zum 19. Jahrhundert, das mit 343 Stücken den Löwenanteil behält. Da ist es für mich sehr schwer, gerecht und unparteiisch zu urteilen, weil ich diese Literatur durchgehends nicht schätze, und höchstens mich auf den Standpunkt stellen könnte, daß sie nun eben einmal da ist. Und andererseits muß gesagt werden: die fünf Herausgeber wurzeln als Freunde und engere Kollegen Heinrich Langs ganz in eben diesem 19. Jahrhundert. Daher kommt es wohl, daß die zwei Bände nicht einen in die Zukunft weisenden, sondern einen Vergangenheit und Gegenwart pietätvoll verbindenden Charakter haben. Aber vielleicht wird eben deswegen auch bei einem künftigen Orgelvorspielbuch im Vorwort wieder stehen: es galt, aus einer gewissen Enge vollends herauszukommen ?
Unter diesen 343 Orgelchorälen ist unsere engere Heimat natürlich am stärksten vertreten und so gibt die Sammlung zugleich einen nicht uninteressanten Querschnitt durch das schwäbische Musikleben; zwei Zentren kann man unterscheiden: das Konservatorium für Musik (Faißt, Lang, Seyerlen), und die Seminare (Fink, Burkhardt u. a.). Versucht man, eine ungefähre qualitative Rangordnung aufzustellen, so bilden vielleicht die unterste Stufe die 13 Vorspiele von W. Brühl (früher Organist der Garnisonkirche Stuttgart), die nur dürftige Spuren von Geist aufweisen; auch von den 23 Vorspielen des Herausgebers des badischen Orgelalbums, A. Barner, ist sehr vieles (nicht alles) nicht mehr als verstaubter Tonsatz. Seyerlens 18 Vorspiele sind wohl pedantisch, aber doch z. T. tüchtig gearbeitet; höher steht Faißt, aber durchweg unter dem Niveau seiner Chorkompositionen. Von Heinrich Lang sind 40 Vorspiele aufgenommen worden; viele davon haben sich schon bei ihrem ersten Erscheinen im "Orgelalbum" fest eingebürgert. Wer sich die außerordentliche Improvisationskunst Langs vergegenwärtigt, wird von manchen dieser Arbeiten enttäuscht sein; gleichwohl spricht aus allen eine von Herzen kommende Frömmigkeit. Von lebenden schwäbischen Kollegen sind mit mehreren Werken vertreten M. Koch, E. Kunz, W. Nagel, A. Schäffer und A. Strebel; von bayerischen Tonsetzern E. Oechsler und J. Zahn, von norddeutschen G. und E. Flügel, R. Frenzel, G. Merkel, K. Piutti. Es würde zu weit führen, auf alle einzugehen; Gelungenes, Inspiriertes, steht da neben Durchschnittlichem, - ist doch keine Aufgabe in der Kunst schwerer, als bei niedrigen technischen Ansprüchen inhaltlich hohen zu genügen, und mancher, der über derartige Arbeiten die Nase rümpft, wäre nicht fähig, selbst Besseres zu machen. Mit einer solchen Kritik wäre aber auch der Sache selbst herzlich wenig gedient; vielmehr möchte ich zusammenfassend sagen: Fast all diesen Arbeiten merkt man an, daß sie aus einem harmonielehrmäßigen, nicht aber aus contrapunktischem Denken und Empfinden heraus gewachsen sind. Sie entstammen der Zeit der Harmonielehren von Richter, Bußler, Judassohn und anderen; bezeichnend für diese Epoche ist Judassohns Lehrbuch eines Kontrapunkts, der sich ganz aus der Harmonielehre entwickelt, also eines innerlich entkräfteten Kontrapunkts. Zum zweiten merkt man, daß uns Vorbilder fehlen, an die man sich halten könnte, Vorbilder, wie sie einem strebsamen Kompositionsschüler in der Form der Fuge, der Sonate, des Rondos, der Variation in überaus großer Zahl zu Gebote stehen. Denn, das muß man sich immer wieder vor Augen halten: aus der klassischen Zeit haben wir wohl Orgelchoräle und Choralvariationen, aber fast keine Choralvorspiele. Zudem wird und muß unsere Zeit andere Formen verlangen, als die des 17. und 18. Jahrhunderts; z. B. eine melismatische Umschreibung der Melodie (wie bei Bach "O Mensch, bewein dein Sünde groß") versteht heute nur noch eine kleine Zahl von Kennern, selbst c. f. im Baß wird heute von einem größeren Publikum nicht mehr verstanden. Dafür stellen wir heute größere Ansprüche als diese vergangenen Jahrhunderte in harmonischer, rhythmischer, dynamischer Beziehung; aber gerade auch in diesen Punkten sind die meisten Choralvorspiele des 19. Jahrhunderts erstaunlich phantasielos: ihre Harmonik ist die des nachromantischen kleinen Genrestücks, die Bewegung ist meist monoton in Vierteln und einigen Achteln, die Dynamik beschränkt sich meist auf ein mittleres Forte oder ein durchgängiges Piano, und die Klangfarbenmöglichkeiten der Orgel werden fast gar nicht in Betracht gezogen. Ich will damit nicht einem "stimmungsvollen" romantischen Registrieren das Wort reden, aber noch weniger dem seitherigen Indifferentismus. Man muß sich immer vor Augen halten, daß die Vorarbeiten zu den "Orgelchorälen" schon zehn Jahre oder länger zurückreichen, und daß die neue Bewegung erst in diesem Jahrzehnt eingesetzt hat. Von diesem neuen Geist zeugen die 77 Choralvorspiele, die nach meiner (chronologisch nicht ganz strengen) Abgrenzung das 20. Jahrhundert vertreten: Max Reger ist erfreulicherweise (er wird erst 1946 frei!) mit acht Orgelchorälen vertreten, die ich übrigens mehr als Studienarbeiten wie als gottesdienstliche Kompositionen schätze, Hans Schink (Backnang) ist mit 22 Beiträgen vertreten, - er ist, als Schüler von Josef Haas, ein besonders glücklicher Vertreter einer gewissen gemäßigt modernen Richtung -, das Hauptinteresse aber beanspruchen wohl die Beiträge von Wilhelm Kempff und Karl Hasse, die beide erst kurz vor Torschluß zur Mitarbeit eingeladen wurden und 15 bzw. 22 Choralvorspiele beigesteuert haben. Beide Komponisten, sonst gewohnt, technisch schwere, ja sehr schwere Musik zu schreiben, haben hier die ihnen auferlegte Verpflichtung zur Einfachheit auf vorbildliche Weise erfüllt; Hasse durch einen nahezu völligen Verzicht auf Chromatik noch mehr als Kempff, dessen Beiträge (z. B. Nr. 1b) wohl das modernste sind, was in den zwei Bänden steht. In unserer technisch so maßlos übersteigerten Zeit ist eine solche, ganz durch die Praxis geforderte Rückkehr zur Einfachheit etwas nicht hoch genug anzuschlagendes, nur darf es nicht bei solchen durch die Gelegenheit gegebenen Augenblicken bleiben; wir müssen die Gebrauchsmusik wieder adeln, oder besser gesagt, da auf der ganzen breiten Linie der Musik die Gebrauchsmusik wieder anfängt, zu Ehren zu kommen: wir müssen auch in der Kirche wieder lernen, an die Gebrauchsmusik die höchsten Anforderungen zu stellen. Wir haben mit dem Singen schon den Anfang gemacht, unsere Chorhefte zeugen davon, aber wann wird dieser Funke auf die Orgelmusik überspringen?
Mit solchen Gedanken nehmen wir Abschied von den "Orgelchorälen" und es bleibt uns nur noch übrig, auf einige Aeußerlichkeiten hinzuweisen. Daß der Anfang jedes Choraltextes oben außen auf der Seite vermerkt ist, dient sehr dem leichten Auffinden und ist dankbar zu begrüßen. Vielleicht wäre es gut, wenn auch die Nummer dabei stünde. Bei mehreren Vorspielen zu einem Choral vermißt man eine logisch (am besten chronologische) Anordnung, z. B. bei Nr. 6, "Allein Gott in der Höh sei Ehr", wo Georg Böhm als letzter steht. (Dies könnte unbeschadet des Hauptgesichtspunkts: ein Umdrehen zu vermeiden, geschehen.) Eine Anzahl Vorspiele, besonders diejenigen mit c. f. auf besonderem Manual, wären leichter zu lesen und zu spielen, wenn der Satz auf drei Systemen dargestellt wäre (es unterblieb wohl aus Raumsparsamkeitsgründen). Daß die oft schulmeisterliche Finger= und Fußsatzbezeichnung des "Orgelalbum" für die neuen Sätze fallen gelassen worden ist (sie steht noch z. B. bei Nr. 15e), ist zu begrüßen. Nr. 1 (Ach Gott und Herr) ist nicht von J. S. Bach (trotzdem es bei Peters und in der großen Bachausgabe steht), sondern von Joh. Gottfr. Walther (s. Vorrede zu D. D. T. 26/27). An Druckfehlern fand ich bis jetzt einige Male im 2. System g= statt f=Schlüssel, und in Nr. 130g, Takt 1, eine fehlende Viertelnote a.
Ich nehme an und hoffe, daß sich noch mehr Stimmen zu den "Orgelchorälen" äußern werden. Eine abschließende Kritik des Werkes wird sich erst nach längerem, grundsätzlichem Kennenlernen, also in einigen Jahren, geben lassen. Aber auch der unmittelbare, frische Eindruck hat etwas für sich; man urteilt absoluter, als nach längerer Gewöhnung. Wie man aber auch später über die Sammlung denken mag: sie vermag neben den vorhandenen (etwa Lubrichs Präludienbuch, um eine der besten zu nennen) in Ehren bestehen und wird als Fundgrube gottesdienstlicher Orgelmusik aus drei Jahrhunderten immer ihren Wert behalten.
Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
1929