1930 · Eindrücke vom 18. Deutschen Bachfest

in Kiel

(4. 6. Oktober 1930).

Es ist nicht die Aufgabe der folgenden Zeilen, einen Bericht über das übrigens glänzend verlaufene Kieler Bachfest zu geben; in gewissen Zügen hat jedes Bachfest dieselbe Physiognomie: der Kantatenabend, das Orchesterkonzert, die Kammermusik, eines der großen Werke (in Kiel die H-moll-Messe), Solisten von Namen und Rang: das sind Selbstverständlichkeiten jedes großen Bachfestes. Darüber hinaus aber gab es in Kiel vieles, was dem Fest sein eigenes Gepräge gab: man lernte Neues, Unbekanntes (und trotzdem nichts Wertloses) kennen, und wie Karl Straube in seiner Festrede es aussprach, vielleicht noch nie war auf einem Bachfest der mystische, jenseitige und der diesseitige, "weltliche" Bach so überzeugend anschaulich gemacht worden wie in Kiel. Die großen Katechismus=Orgelchoräle der "Klavier=Uebung" und die szenische Aufführung der humoristischen Kantaten im Theater bildeten wohl die am weitesten entfernten Punkte des überreich besetzten Programms. Im folgenden sollen nun einige Einzelheiten herausgegriffen werden, die vielleicht über den Rahmen eines Konzertberichts hinaus Interesse finden dürften.

Man hörte die achtstimmige Motetten "Fürchte dich nicht" mit einer mit den Chorstimmen gehenden Orchesterbegleitung. Da wurde ganz deutlich, wie wenig Bachs Vokalsatz ein a cappella=Satz ist, auch bei den Motetten nicht, und wie diese Werke erst klingen, wenn sie auf dem festen Boden des Generalbasses stehen. Das heißt nun für die Praxis, daß die vier doppelchörigen Motetten Bachs nicht mehr länger Virtuosenstücke berühmter Chöre zu sein brauchen, wobei man sich beständig wie auf Glatteis befindet, ob die Sänger die Tonreinheit bewahren werden, sondern mit Begleitung nicht schwerer als Kantatenchöre sind. Theoretisch wußte man das schon längst, aber erst hier wurde es Ereignis.

Der Festgottesdienst war reich, ja überreich mit Musik ausgestattet; daß nun aber der Festprediger, Geh. Konsistorialrat Prof. D. Baumgarten=Kiel, auch noch im wesentlichen über Bach predigte, gute und warmherzige Worte, das schien mir, soweit ich mir als Laie ein Urteil erlauben darf, grundsätzlich verfehlt zu sein: je reicher die Musik und Liturgie hervortrat, desto mehr hatte man Sehnsucht, nun in der Predigt zu hören, worauf sich nun dies alles bezieht, und daher hätte ich mir eine Predigt mit rein gedanklichem, aber tiefem Erfassen des Textes gewünscht, in der vielleicht von Bach und Musik gar nicht die Rede gewesen wäre, von Gott hätte gepredigt werden sollen, nicht von Bach! Was der Verlust Smends für die Bachgesellschaft bedeutet, wurde allen schmerzlich klar. Daß natürlich der Gedanke nahe lag, die anwesende Bachgemeinde zu begrüßen, und auch dem weniger musikalischen Kirchenbesucher zu sagen, wer Bach eigentlich war, sei gern zugegeben.

In der "Orgelstunde" kamen die großen Choralvorspiele, die Bach als "Dritter Teil der Klavierübung" herausgab, erstmals auf einem Bachfest im Zusammenhang und mit verbindenden Chorsätzen zum Vortrag. Da der Unterzeichnete selbst der Ausführende war, so steht es ihm nicht an, darüber zu berichten; aber daß es sich um eines der liturgisch wie musikalisch großartigsten Werke Bachs handelt, das darf wohl ausgesprochen werden. Daß es seither in seiner zyklischen Geschlossenheit fast unbeachtet blieb, rührt vielleicht daher, daß sein Inhalt in der Petersschen Ausgabe der Orgelwerke über vier Bände zerstreut war (es ist inzwischen auch bei Peters in Originalgestalt erschienen).

In der Abendmusik hörte man Buxtehudes Oratorium "Das jüngste Gericht". W. Maxton hat das Werk in Uppsala aufgefunden und bearbeitet. Es enthält 81 Nummern und ist ein allegorisches geistliches Drama von der guten und der bösen Seele, der göttlichen Stimme usw., das wohl für uns kaum wieder zum Leben zu erwecken sein wird. Am auffallendsten ist (neben einiger Tonmalerei) die Behandlung der Choräle, die barock ausschweifend, etwa wie Madrigale, mit Seufzern, Pausen usw. ausgeziert sind. Trotz ausgiebiger Striche dauert das Werk noch zwei Stunden; man muß sich also die Lübecker Abendmusiken, zu denen Bach gepilgert ist, als große Konzertaufführungen vorstellen.

Die Aufführung der H-moll=Messe konnte ich nicht mehr hören; ich möchte aber zu der Heußschen Deutung im Programmbuch einiges sagen. Da ist der Messe ein großartiger Plan unterlegt, nach dem die drei Kyriesätze "das Altertum: die in der Erbsünde dahinwandelnde Menschheit, die Verheißung auf den Erlöser und die des Erlösers harrende Menschheit" bedeuten sollen; das "Gloria": "Christi Erscheinen und das Urchristentum", das "Credo", das "Mittelalter" und (im Confiteor) die Reformation darzustellen haben. Das Duett "Et in unum Deum" mit seinen bekannten zwei Phrasierungen desselben Motivs schon von Spitta dogmatisch aufgefaßt, bedeutet bei Heuß "Ketzerverhör", das Incarnatus "Folterung von Ketzern" (!), das Crucifixus den "Feuertod". Man muß im einzelnen nachlesen, wie geistvoll Heuß diese Auslegung stützt aber, so wie es niemand benommen sein soll, daran zu glauben, so möge man dem anders Denkenden die Freiheit lassen, diese Auffassung für sich persönlich abzulehnen. Ich wenigstens kann nie und nimmer mich dazu verstehen, diese innersten und heiligsten Sätze der Messe auch musikalisch anders als auf Jesus zu beziehen. Immerhin gibt die Heußsche Auffassung von neuem Stoff zum Nach= und Durchdenken dieses Riesenwerks.

Auch Max Schneider in seinem Vortrag über "Schrift und Klangsymbolik bei Bach" ging von Außermusikalischem aus, brachte übrigens nicht viel neue Beispiele, aber er stellte jedem frei, darauf Wert zu legen oder nicht, und betonte (was zu betonen heutzutage nicht überflüssig ist), daß das eigentliche Leben der Musik erst hinter diesen Dingen anfange. Vielleicht könnte der gemeinsamen Besprechung solcher grundlegender künstlerischer Fragen auf den künftigen Bachfesten noch mehr Raum gegeben werden; Interesse wäre reichlich dafür vorhanden.

Von den Darbietungen weltlicher Musik erwähne ich die prachtvoll registrierten Goldbergvariationen, von Ramin auf dem zweimanualigen Cembalo gespielt, zum erstenmal also in der Originalfassung, nachdem man sie auf früheren Bachfesten erst auf zwei Klavieren (in Rheinbergers Bearbeitung), dann auf einem Flügel wiedergegeben hatte. Trotzdem aber gelang es mir auch hier nicht, bei den neun kanonischen Variationen zu einem Genuß zu kommen. Der "Humor im Bachschen Geschlecht" hieß eine szenische Aufführung im Theater mit der Kaffee=Kantate, der Bauern=Kantate und einer derb=lustigen Kantate von Joh. Nik. Bach "Der Jenaische Wein= und Bierrufer", zu denen Hans Joachim Moser eine Rahmendichtung "Ein Bachischer Familientag" geschaffen hatte. Hier war nun der sonst etwas steife und pedantische Humor dieser Werke, der im Zeitstil begründet ist, erfreulich gelöst und man hörte mit Vergnügen zu; am Schluß gabs gar noch eine Ueberraschung eigener Art: Bachs einziges erhaltenes Quodlibet, jüngst aufgefunden, wurde uraufgeführt. Es ist eine Kneipzeitung zu der Hochzeit des 20jährigen Bach in Arnstadt, in der er wegen eines Unfalls mit einem Backtrog weidlich durchgehechelt wird. Als der Abend mit diesem Höhepunkt schloß, war es fast Mitternacht; man hatte an diesem Tag neun Stunden Musik gehört!

Trotzdem die Namen der Solisten und Körperschaften, die mitwirkten, hier nicht genannt werden sollen, ist es unmöglich, des Mannes nicht zu gedenken, der mit unermüdlicher Tatkraft all die Gedanken dieses Festes in Wirklichkeit umsetzte: Generalmusikdirektor Prof. Dr. Fritz Stein; auch sein getreuer Adlatus und Organist, Dr. Oskar Deffner, sei nicht vergessen. Als erster Vorsitzender und Nachfolger Smends wurde Reichsgerichtspräsident Simons, als zweiter Vorsitzender Prof. Dr. Max Seiffert gewählt. Das nächste Bachfest wird 1931 in Königsberg stattfinden.
Prof. Dr. Hermann Keller


Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
4. Jahrgang Nr. 5, Dezember 1930