1930 · Musik in Schwaben

Württemberg

Vor etwa zehn Jahren, als es noch den "Schwäbischen Bund" gab, habe ich in dieser Monatsschrift über das Thema "Gibt es eine schwäbische Musik?" in verneinendem Sinn geschrieben: es gibt, von Silcher und seiner Umwelt (Auberlen, Hetsch) abgesehen, keine ihrem Wesen nach schwäbische Musik, keine Musik, die zu der Landschaft Schwabens und Frankens so eng gehören würde, wie etwa die Lyrik Eduard Mörikes; auch allgemein, rein statistisch betrachtet, hat Württemberg in der deutschen Musikgeschichte eine auffallend geringe Rolle gespielt: keiner der großen deutschen Tonmeister ist Schwabe gewesen, - und das ist doch gewiß auffallend, da niemand die künstlerische Begabung eines Stammes in Abrede stellt, aus dem so viele Dichter und Denker, auch einige Maler hervorgegangen sind; warum aber keine Musiker? Ich versuchte, diese Tatsache mit der geographischen Abgeschiedenheit unseres Landes und dem Mangel an alter musikalischer Kultur, besonders der Städte, der Kirche und des Hofes zu erklären, - wobei ich wohl weiß, daß die Stuttgarter Hofkapelle im 16. Jahrhundert und das Herzogliche Hoftheater im 18. Jahrhundert berühmt gewesen sind; auch der thesaurus musicae im Heilbronner Gymnasium zeugt von hoher, alter, noch vorreformatorischer musikalischer Kultur. Aber schon die Geschichte der Stuttgarter Stiftsmusik, wie sie August Bopp-Urach beschrieben hat, ist kein Ruhmesblatt für Württemberg, wenn man bedenkt, daß es sich da um die erste Kirche des Landes handelt, und wenn man sie mit außerwürttembergischen Städten, etwa Augsburg oder Nürnberg, vergleicht. Noch dürftiger ist die Geschichte der weltlichen bürgerlichen Musik in Württemberg vom 17. bis Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Blüte des Theaters und Balletts im 18. Jahrhundert war teuer erkauft durch Gagen an Ausländer, deren Betrag bei weitem den Etat des armen Ländchen überschritt. Nach den Napoleonischen Kriegen sank denn auch im bürgerlich denkenden und sparenden 19. Jahrhundert das Hoftheater zu ziemlicher Bedeutungslosigkeit herab; erst nach 1870 setzte ein langsamer, gegen Ende des Jahrhunderts dann ein rascher Aufschwung ein, der die Stuttgarter Theater mit in die erste Reihe der großen subventionierten deutschen Bühnen stellte. Eine kurze Krisenzeit nach dem Krieg ist rasch überwunden worden und heute stehen Oper und Schauspiel unter energischer und zielsicherer Leitung in Blüte und erfreuen sich eines anerkennenswert guten Besuchs. Über die Bedeutung der Landestheater für das ganze Land zu schreiben, würde einen ganzen Aufsatz beanspruchen; hier sei nur erwähnt, daß die Leitung in Reklame, Werbung von Mitgliedern für die Theatergemeinde, verbilligten Karten an Studierende und Schüler, Freikarten an unbemittelte Künstler, Einladungen zu Uraufführungen, heute modern großzügig vorgeht. Daß eine zweite, private Bühne, das Schauspielhaus, sich neben den Landestheatern halten kann, ist erst möglich, seit Stuttgart Großstadt geworden ist (es ist so seit ein paar Jahren!); frühere Versuche das Apollo-Theater in der Heusteigstraße mußten an der konservativen Haltung des Stuttgarter Bürgers scheitern. Dagegen könnte die Sommerbühne des Wilhelmatheaters erst dann wirklich blühen, wenn es gelänge, Cannstatt einen Teil seiner früheren Bedeutung als Badestadt wiederzugewinnen; rechnet man Wilhelma, Rosenstein, die Mineralbäder Leuze und Neuner zusammen, so liegen da Zukunftsmöglichkeiten, die hier nur angedeutet werden können.

Wenn nun im folgenden vom schwäbischen Musikleben und seiner Struktur die Rede sein soll, so muß man sich zunächst fragen, was im 19. Jahrhundert für Stuttgart und das Land musikalisch wichtig gewesen ist? Da sind zu nennen: die vor hundert Jahren landauf und landab gegründeten Liedertafeln und später auch gemischte Chöre (z. B. in Stuttgart der Verein für klassische Kirchenmusik, in Tübingen die akademische Liedertafel, sowie die Kirchengesangvereine) und die 1857 erfolgte Gründung des Stuttgarter Konservatoriums für Musik. Die schwäbischen Männerchöre sind im 19. Jahrhundert wohl die wichtigsten Träger einer schwäbischen Volksmusik gewesen; einigen von ihnen, z. B. dem Stuttgarter Liederkranz mit seinen Populären Konzerten, und der Ulmer Liedertafel, ist es sogar gelungen, im Konzertleben größerer Städte bestimmenden Einfluß zu gewinnen. Im übrigen darf man diese unzähligen Vereine nicht vom rein musikalischen Standpunkt aus ansehen, wenn man gerecht sein will; sie dienten auch der Liebe zur Heimat und der Männergeselligkeit, an deren Geschlossenheit alles Flehen der Musiker, doch auch bei gemischten Chören mitzutun, abprallen mußte. Seit es aber Gewerkschaften, soziale Frage, Arbeiterchöre gibt, fühlen sich die bürgerlichen Vereine, die in der guten alten Zeit mit der Gemütlichkeit des schwäbischen Wirtshauses untrennbar verbunden gewesen waren, mehr und mehr in Verteidigungsstellung gedrängt und werden in den nächsten Jahrzehnten vielleicht ernste Existenzkämpfe durchzumachen haben. Das Konservatorium für Musik hat vorübergehend Stuttgart einen musikalischen Ruf bis England und Amerika gebracht: als der Finger-Drill der Lebertschen Klavierschule Weltgeltung besaß. Heute ist die Württ. Hochschule für Musik am Urbansplatz als Hochschule Nachfolgerin der früheren "Künstlerschule" des Konservatoriums, und trotz eines Lehrerkollegiums mit einer stattlichen Zahl berühmter Namen hat sie noch nicht wieder den Zuzug von Schülern außerhalb Württembergs und Deutschlands, den sie erwarten dürfte; aus der früheren Dilettantenschule erwuchs das erfolgreich und modern geleitete Konservatorium für Musik im Herdweg.

Bedenkt man, daß im ganzen Land, abgesehen vielleicht von den größten Städten, die Musikpflege in den Händen der Lehrer lag und vielfach noch liegt, so wird klar, welch wichtige Rolle die Lehrerseminare für die musikalische Kultur des Landes spielten. Vereinigte doch der Lehrer meist den Organisten, Leiter des Kirchenchores, des Liederkranzes und den privaten wie den Schulmusiklehrer in seiner Person. Daß mit steigenden Ansprüchen alle diese Stellungen nicht nebenamtlich in einer Hand bleiben konnten, ist klar. So ist in größeren Orten vielfach die Leitung der Chorvereine, zum Teil auch schon der Organistendienst an Fachmusiker übergegangen; die fachliche Ausbildung der Schulmusiker liegt seit zwei Jahren in den Händen der Abteilung für Kirchen- und Schulmusik an der Stuttgarter Musikhochschule, die Volksschullehrern eine viersemestrige Ausbildung gewährt; Württemberg ist dem Beispiel Preußens mit seinen hochgesteckten Forderungen bis jetzt nur zögernd und vorsichtig gefolgt. An der Abteilung für Kirchenmusik hat sich leider die katholische Seite bis jetzt nicht beteiligt, so daß nur protestantische Organisten und Chorleiter dort ausgebildet werden, und für diese fehlt es im sparsamen Württemberg bis jetzt leider an halbwegs ausreichend bezahlten Stellungen. Förderung der Schulmusik und der Kirchenmusik sind vielleicht die wichtigsten öffentlich-musikalischen Aufgaben Württembergs in den nächsten Jahren, denn Theater, Konzertvereine, Chöre stehen in langjährigen festen Verhältnissen (wenn auch nicht ohne Sorge für die Zukunft), in Kirche und Schule aber hat Württemberg einen beträchtlichen Vorsprung anderer deutscher Länder einzuholen.

Mit Absicht nenne ich bei dieser Uebersicht über das schwäbische Musikleben den Faktor zuletzt, den man sonst zuerst oder ausschließlich zu nennen pflegt: das öffentliche Konzertwesen. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, in dem, was auf dem Podium des Konzertsaals von fremden oder einheimischen Notabilitäten musiziert und am nächsten Tag in der Zeitung rezensiert wird, bestehe das Musikleben einer Stadt. Wäre das so, dann hätten alle deutschen Städte mit gleicher Einwohnerzahl das gleiche Musikleben. Aber so ist es höchstens vom Standpunkt des reisenden Virtuosen, also einer immer mehr aussterbenden Gattung, aus. In Wirklichkeit hat jede Stadt ihr besonderes musikalisches Leben, zu dessen Kennzeichnung man etwa Fragen folgender Art stellen müßte: Was für musikalische Vereine gibt es? Chorvereine, aber auch allgemein musikalische Vereine, die Konzerte finanzieren? Sind Volksbildungsvereine da, die musikalische Arbeit leisten? Ist ein leistungsfähiger Kirchenchor oder ein Oratorienverein da, der Chorwerke aufführt? Existiert ein Liebhaberorchester, das nur in Bläsern verstärkt zu werden braucht, oder muß ein ganzes Berufsorchester, Militär oder Zivil, von auswärts kommen? Sind ausreichende Säle mit Konzertflügel für Solistenkonzerte da? Können namhafte Solisten von auswärts auf eigene Rechnung kommen? Überläßt man das Konzertleben dem natürlichen Ausgleich von Angebot und Nachfrage, oder wird der Zufluß künstlich und heilsam geregelt? Ist die lokale Kritik sachverständig und unabhängig? (Wo es an diesem Punkt fehlt, ist eine Erziehung des Publikums so gut wie ausgeschlossen.) Sind Jugendbünde da, die musikalisch-öffentlich etwas leisten? Diese Fragenreihe, die noch fortgesetzt werden könnte, gäbe, beantwortet, wenigstens die Umrisse des öffentlichen Musiklebens einer Stadt. Man würde dann auf die verschiedenartigsten Verhältnisse stoßen: auf Orte, in denen ein musikalisch fähiger, organisatorisch begabter Kopf die musikalische Leitung hat und von einem kleinen Kreis opferbereiter Mäcene und einem großen, einer urteilsfähigen Hörerschaft, unterstützt wird, - der idealste Fall, aber er kommt vor! -; es gibt aber auch Fälle, wo eine hochgebildete Fabrikanten-Aristokratie der Einwohnerschaft nur das Beste bietet, ohne auf viel Gegenliebe zu stoßen; vielleicht weil das Geschenk zu sehr "von oben herab" kommt; es gibt Städte, in denen sich die Bürgerschaft so gut organisiert hat, daß sie städtische oder andere Hilfe kaum braucht; es gibt Orte, in denen idealistische Lehrer-Musiker, ohne Unterstützung materieller und ideeller Art zu finden, ihre Kräfte in einem aussichtslosen Kampf um gute Musik aufreiben; es gibt andere Orte, in denen das alles fehlt und folgerichtig "nichts los ist", - alle solche Verhältnisse kenne ich aus eigener Anschauung, werde mich aber hüten, Namen zu nennen. Ein besonderes Gepräge hat das Musikleben in Heilbronn (Singkranz, Konzertverein), Ulm (Liedertafel), Tübingen (Museum, Akademische Konzerte und Konzerte des Musikinstituts der Universität); das Musikleben von Eßlingen und Ludwigsburg leidet neuerdings an der zu großen Nähe und leichten Erreichbarkeit von Stuttgart. Das Musikleben der Hauptstadt selbst hat in den letzten dreißig Jahren natürlich Wandlungen durchgemacht, ohne aber seine Eigenart zu verlieren. (Nebenbei gesagt: an der ungenügenden Berücksichtigung der Eigenart sowohl des hauptstädtischen wie des provinzialen Musiklebens ging vor einigen Jahren der Württ. Konzertbund zugrunde, der mit bester Absicht ins Leben gerufen worden war und in den wenigen Jahren seines Bestehens, besonders in der Inflation, sich wirkliche Verdienste erworben hatte.) Noch um 1900 herum trug das Stuttgarter Musikleben den geschlossenen Charakter einer größeren Provinzstadt; im Konzertsaal kannte einer den andern. Daß damals aber der Konzertbesuch besser gewesen sei, als heute unter dem teuflischen Einfluß von Jazz, Rundfunk und Schallplatte, ist ein frommes Märchen. Im Gegenteil. Damals hatte Stuttgart etwas weniger als eine Viertelmillion Einwohner, und an Symphoniekonzerten (fremde Orchester, wie Kaim-Orchester mitgerechnet) etwa 12 bis 15 jährlich, mit zum Teil sehr mäßigem Besuch (die Abonnementskonzerte noch im Königsbausaal, der nur etwa 800 Besucher faßte). Heute haben wir (Hauptproben eingerechnet) 20 Konzerte des Landesorchesters, dazu kommen die rasch zu Ansehen gelangten Konzerte des Philharmonischen Orchesters, fremde Orchester usw., mit zusammen über 40 Abenden, d. h. auf den Kopf der Bevölkerung umgerechnet, hat sich der Besuch der großen Konzerte mehr als verdoppelt. Dies nur als Beispiel, wie gedankenlos Schlagworte wie das vom Konzert als einer sterbenden Form der Musikausübung nachgesprochen werden. Natürlich liegen beim Solistenkonzert die Verhältnisse weniger günstig, aber auch nicht viel schlechter als vor dreißig Jahren. Hatten damals Reisenauer, d"Albert, Sarasate volle Säle, so heute die Onegin, Morini, Schlusnus, Pauer und Kempff. Es ist berechtigt, in einer Zeit, die an technische Höchstleistungen auf allen Gebieten sich gewöhnt hat, daß das Virtuosentum nur noch in seiner faszinierendsten Erscheinung Eindruck macht und bezahlt wird. Für gute Kammermusik ist in Stuttgart immer Boden gewesen; daß das schwäbische Publikum Wolf und Bruckner gegenüber empfänglicher gewesen ist als der Norden, sei hier ebenfalls noch rühmend vermerkt. Mit Reklame allein läßt sich auch heute noch in Stuttgart kein Künstler durchsetzen, auch kein großer; das Publikum ist zurückhaltender und vorsichtiger als in anderen großen Städten, aber anhänglich, wenn es einen Künstler erst schätzen und lieben gelernt hat. Die Tageskritik über das hauptstädtische Musikleben verfolgt jeder Schwabe, besonders in den Landstädten, mit gespannter Aufmerksamkeit und weiß oft noch nach Monaten, was über dem oder jenen damals "drin"gestanden hat; außerhalb der schwarz-roten Grenzpfähle findet sie aber nicht viel Beachtung, und eine Stuttgarter Kritik gilt in Berlin kaum mehr als eine von Karlsruhe oder von Nürnberg. Auch in den führenden deutschen Musikzeitungen liest man nur sehr knappe Berichte von Stuttgart, dessen Kurs an der allgemeinen deutschen Musikbörse also nicht so hoch steht, als man annehmen dürfte: aus keinem andern Grund, als weil die Entfernung Stuttgart Berlin 652 Kilometer = 12 Schnellzugstunden beträgt, und das Interesse der Metropole für die Provinz (das sind wir) mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt. Aber bedeutet das irgend etwas gegen unser Schwabenland? Ich meine im Gegenteil, es spricht eher dafür, nämlich, daß wir ganz gut für uns und ohne das, was in Musikzeitungen über uns steht, auskommen können.

Es gibt also, wenn auch vielleicht keine schwäbische Musik, so doch eine bodenständige Musik in Schwaben, und von ihr wollte ich hier berichten. Ich habe natürlich in diesem allgemeinsten Ueberblick vieles weggelassen, was ich hätte erwähnen können, und mit Absicht fast keine Namen genannt, sondern nur eine allgemeine Topographie des schwäbischen Musiklebens gegeben, und ich freue mich, meiner damaligen, im wesentlichen negativen Betrachtung im "Schwäbischen Bund" heute in dem schmucken Heft der "Württemberg" eine, wie ich hoffe, positive Ergänzung gegeben zu haben.





Quelle:
Württemberg, Mai 1930