1931 · Christian Fink

und die schwäbische Musik des 19. Jahrhunderts

Gewiß ist jedem von uns, der diese warmherzige und treffliche Würdigung Finks aus der Feder seiner Tochter gelesen hat, das Bild dieses schwäbischen Charakterkopfes lebendig und anschaulich geworden. Wenn nun die Schriftleitung mich gebeten hat, dieses Bild in den größeren Rahmen der deutschen, oder mindestens der schwäbischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts hineinzustellen, so weiß ich, daß das eine schwere, ja heute vielleicht noch unlösbare Aufgabe ist. So genau das 18. und 17. Jahrhundert von der fleißigen Musikwissenschaft nach allen Winkeln durchstöbert worden sind, so wenig wissen wir vom 19. Jahrhundert abseits seiner Hauptströmungen, die durch Namen wie Wagner, Brahms, Bruckner, Wolf u. a. bezeichnet werden, was wissen wir eigentlich von der wirklichen Bedeutung von Silcher? Wir lieben ihn auf dem kleinen Gebiet, auf dem er Einzigartiges geschaffen hat, aber er ist unserer Generation kein Führer mehr zu den Quellen des Volkslieds. Trifft nicht auf all diese Musik der Kleinmeister des 19. Jahrhunderts das Wort von Hanslick zu, daß man von ihr nur sagen könne, daß sie einmal schön gewesen sei? Aber warum sind wir dann gegen die Musik der Kleinmeister des 17. und 18. Jahrhunderts so viel nachsichtiger als gegen die des 19. Jahrhunderts? Wird auch diese Musik eines Tags wieder auferstehen, wie die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts gegen alle Wahrscheinlichkeit eine Wiederbelebung erfahren hat? Oder war es der Fluch dieser oft genialen, zum mindesten mit dem besten Handwerkszeug ausgerüsteten Musiker, in einer Zeit des Niedergangs gelebt zu haben, und von dem allgemeinen Verdammungsurteil über die Zeit mitbetroffen zu werden? Wir haben in den letzten 50 Jahren den Untergang von ehedem glänzenden Namen erlebt, wie z. B. Rheinberger und Raff, was dürften wir dann für Faißt und Fink hoffen?

Darauf ist zu antworten: mindestens ein landschaftliches Interesse. Es scheint so, daß sich doch allmählich etwas wie eine schwäbische Musikgeschichte herauszukristallisieren anfängt. Das Musikwissenschaftliche Institut der Universität Tübingen stellt unter der Redaktion seines Leiters, Prof. Dr. Karl Hasse, eine bedeutsame Herausgabe von Denkmälern der Musik in Württemberg im 16. Jahrhundert in Aussicht, von der in diesen Blättern später auck noch die Rede sein wird; mager sind dann die Jahre 1650 1750 für Württemberg, glänzend die folgenden Jahrzehnte mit der üppigen Hofhaltung Herzog Karl Eugens in Ludwigsburg und Stuttgart und die Nachblüte dieser Epoche mit Zumsteeg und dem kurzen Aufenthalt Webers am Stuttgarter Hoftheater.
Neben dieser, in großen äußeren Verhältnissen lebenden Kunst sehen wir aber vom Ende des 18. Jahrhunderts ab eine bürgerliche Kleinkunst von spezifisch schwäbischer Eigenart in den Schul- und Pfarrhäusern unserer Heimat entstehen: August Bopp, der zu früh verstorbene Uracher Seminarmusiklehrer hat in seinem leider vergriffenen, und einer Neuauflage dringend bedürftigen "Liederbuch aus Schwaben" davon ein ansckauliches Bild gegeben. Es würde zu weit führen, diese Entwicklungslinien hier bis zu Faißt, Fink, Halm und anderen neueren Schwaben zu verfolgen. Deutlich sieht man aber, wie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Schwaben aus seiner Abgeschlossenheit heraustritt und Anschluß an den musikalischen Norden des Vaterlands sucht: Faißt wird auf Mendelssohns Rat Musiker (1844), Fink ist Schüler des Leipziger Konservatoriums. Daß schon um 1500 der Eßlinger Magistrat einem Organisten Urlaub und Stipendium zum Studium in Leipzig gewährt hat (H. J. Moser: Paul Hofhaimer teilt das in dem Kapitel über den Stand der deutschen Orgelkunst im 15. Jahrhundert mit), mag hier beiläufig erwähnt werden. Daß Fink von Leipzig nach Eßlingen zurückgegangen ist, bedeutete für ihn einen "Rückgang" von einer Tragweite, die vielleicht erst wir heute ganz übersehen können: er hätte dank seiner glänzenden Begabung in der deutschen Musikgeschichte eine Rolle spielen können, statt in der schwäbischen; er hätte in beständiger Fühlungnahme mit den führenden Musikern seiner Zeit bleiben können, statt in einer mittleren Stadt Württembergs ohne jeden Maßstab durch Wettbewerb mit Gleichgesinnten und Höherstrebenden sich allmählich zu verbrauchen. Denn daß dieses Leben, trotz äußerer Ehren und Erfolge, nach einem jugendlich stürmischen Anfang allmählich verebbt und versandet ist, daß Fink in den Jahrzehnten seiner Eßlinger Wirksamkeit das in kleiner Münze ausgegeben hat, was er in den Jahren seines Leipziger Aufenthalts im Großen in sich aufgenommen hatte, das zeigt uns sein Lebenslauf deutlich genug.
Aber war es nicht ein Glück für Schwaben, daß es so war? Müssen wir nicht die Treue und Aufopferung in kleinen Verhältnissen, in der täglichen Berufsarbeit höher bewerten, als den Drang des Künstlers in die Ferne, seine Sehnsucht und Unabhängigkeit und Freiheit? Ich weiß es nicht. Brahms wäre einmal fast Thomaskantor in Leipzig geworden; ist es nicht ein Glück, daß er unabhängig geblieben ist und fast sein ganzes Leben ungeteilt seinem Schaffen widmen konnte? Vielleicht war es bei Fink eine für den Schwaben so bezeichnende Mischung von Freiheitsdrang und Ängstlichkeit, die ihn dann schließlich doch wieder in die Heimat zurückgerufen hat. Von den drei schwäbischen Musikern, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die musikalische Erziehung unseres "Ländles" am meisten getan haben: Immanuel Faißt, Christian Fink und Heinrich Lang, habe ich die beiden ersten nicht mehr persönlich gekannt, bin aber zwei Jahre Schüler von Lang gewesen, und glaubte bei ihm dieselbe eigentümliche Mischung von Freiheit und Aengstlichkeit zu sehen, die zur Folge gehabt hat, daß so viele treffliche schwäbische Begabungen in ihrer Wirksamkeit nicht über die Grenzen der Heimat hinaus gelangt sind. Vielleicht ist es darum gut gewesen, daß diesen spezifisch schwäbischen Erziehern eine Reihe von Nicht-Schwaben beigegeben war, die den Zusammenhang mit der größeren musikalischen Welt herstellten: ich denke da an die berühmten Namen unter den Lehrern des Kgl. Konservatoriums für Musik und an die ersten Kapellmeister des Hoftheaters und der Hofkapelle.

Die schwäbische Musik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht ganz unter dem Einfluß der gemütvollen, aber in ihrer bürgerlichen Selbstgenügsamkeit allzusehr von den Quellen des Lebens und der Kunst abgeschlossenen nachromantischen Hausmusik, wohl kannte und schätzte man Bach und Händel, aber die Hausgötter waren Mendelssohn und Schumann, und zwar nicht der Schumann der großen, romantischen Klavierwerke, sondern der Kompoinst von "Der Rose Pilgerfahrt".
Auf keinem Gebiet mußte dieser Stil mehr versagen, als in der Orgel; darum ist fast nichts von all dem vielen, was in Deutschland unter dem Einfluß von Mendelssohns Orgelsonaten geschrieben worden ist, lebensfähig geblieben. Die heutige starke Renaissance der Orgelmusik steht ja bekanntlich in stärkstem Gegensatz zu der Orgelmusik des 19. Jahrhunderts, vor einigen Jahren sagte mir in einer kleinen schwäbischen Stadt ein Musikfreund: "Ich verstehe, daß Sie nicht mehr Faißt und Lang spielen, aber für Fink müßten Sie eintreten, in dessen Orgelwerken ein großer Zug zu finden ist, wie bei den andern allen nicht." Ich war beschämt, nichts von Fink zu kennen, und versprach, das nachzuholen. Ich fand bestätigt, daß Fink zweifellos das stärkste Temperament von den dreien ist, daß seine Tonsprache sich in der Tat nicht in allen, aber doch in einem Teil seiner Werke sich über das Niveau nachromantischen Epigonentums erhebt und daß besonders seine ersten Werke den Eindruck eines jugendlichen Sturms und Drangs machen, nicht unähnlich der Haltung der ersten Sonaten des jungen Brahms. Wie groß das kontrapunktische Können von Fink gewesen ist, zeigen besonders seine Orgeltrios. Auffallend gering ist aber seine innere Weiterentwicklung von der ersten Orgelsonate op. 1 bis zur letzten op. 83; und wenn wir Finks Musik noch oder wieder pflegen wollen, so werden wir wahrscheinlich die Jugendwerke bevorzugen. Daß seine ersten Sonaten einen Vergleich mit denen von Rheinberger zum mindesten ehrenvoll aushalten, das wäre vor einem halben Jahrhundert ein enthusiastisches Lob gewesen, - heute ist es eine fast wehmütige Feststellung! Trotzdem glaube ich, daß Fink es verdient, daß man wieder für ihn eintritt, weniger in der großen Oeffentlichkeit, als z. B. im Musikunterricht der Seminare, einiges mag auch auf der Musikhochschule als Beispiel guter Literatur des 19. Jahrhunderts verwendet werden. Vergessen wir es dem schwäbischen Meister nicht, daß er sein musikalisches Leben für unser Land geopfert hat!

Quelle:
Christian Fink zu seinem 100. Geburtstag
Württembergische Monatsschrift im Dienste von Volk und Heimat 1931, S. 316 - 319