1933 · Sollen die Choralnachspiele der Orgel

lieber wegfallen?

So fragen Sie, verehrter, unbekannter Herr R., in Nr. 3 dieser Blätter und beantworten die Frage mit einem temperamentvollen "Ja". Sie fragen uns Organisten, warum wir nach dem Choral "noch ein paar Akkorde spielen", warum wir "irgendeine der bekannten Kadenzen wie ein Gesäusel hintennach dudeln"? Sie fragen, ob sich etwa Bach zu so etwas hergeben würde? Kurz, Sie fragen, warum man eigentlich das tut? Vielleicht nur aus Herkommen? Dann wäre das vielleicht der einzige Grund, daß noch niemand den Mut gehabt hätte, diesen alten Zopf endlich abzuschneiden.

Wir Organisten, die Jahr für Jahr, Sonntag für Sonntag unsern Kirchendienst tun, können für solche aufrüttelnde Fragen gar nicht dankbar genug sein. Denn das Trägheitsgesetz ist eine der am stärksten wirkenden Kräfte, und gerade bei der bis ins Einzelnste festgelegten Form unserer Gottesdienste ist die Gefahr einer formelhaften Erstarrung nur allzu groß. Werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Begleitung des Gemeindegesangs durch die Orgel, so sehen wir, daß in der Tat immer mehr die selbständige Betätigung der Orgel als störend, unerwünscht befunden und abgeschnitten worden ist. Zu Bachs Zeiten war es noch üblich, nicht nur zwischen den Strophen eines Liedes, sondern zwischen den einzelnen Zeilen Zwischenspiele der Orgel einzuschalten, bei denen der Organist, wie ein wildes Füllen, in Läufen die Klaviatur auf und ab sprang, bis er dann auf den Anfangston der folgenden Zeile innehaltend der Gemeinde dadurch bedeutete, daß sie ihm jetzt wieder folgen dürfe. Solcher kraftgenialischer Sätze haben wir mehrere aus Bachs Jugendzeit überkommen (zu "Allein Gott in der Höh sei Ehr", "Gelobet seist du Jesu Christ" u. a.), und wir können uns dem Urteil des Arnstädter Consitorii nur anschließen, daß die Gemeinde auf diese Weise mehr "confundieret" als geleitet worden war. Um 1800 werden dann die Zeilenzwischenspiele kürzer, bescheidener, fallen nach 1830 ganz weg, die Strophenzwischenspiele halten sich aber bis gegen 1910, um dann ebenfalls von dem Schicksal ereilt zu werden, als unnötiger Ballast abgeworfen zu werden. Sicher ist damit vieler Geschmacklosigkeit ein Ende gemacht worden, andererseits aber auch die Formenwelt der Orgel innerhalb des Gottesdienstes immer weiter beschnitten worden. Nun sollen die kurzen Nachspiele fallen, warum dann nicht auch die kurzen Einleitungen der Orgel, wenn sämtliche zu singende Lieder schon zu Beginn des Gottesdienstes aufgesteckt sind, und ein tüchtiger Kantor oder Chor den Choral kräftig intoniert? Warum aber dann noch ein Nachspiel zum Gottesdienst dulden? Nur um das Geräusch der aufstehenden Gemeinde zu verdecken? Dann müßte ich Herrn R. recht geben, der lieber will, "daß alle so leise als möglich sitzen", und dann ebenso leise am Schluß aufstehen und die Kirche still verlassen. Wozu aber dann noch ein Vorspiel der Orgel? Wäre es nicht schöner, wenn man gleich nach dem Läuten anfangen würde, zu singen, ganz abgesehen davon, daß es nicht immer sehr erbaulich ist, was man an freien Improvisationen der Herren Organisten da zu hören bekommt? Dann würde die Orgel mit dem ersten Ton der Gemeinde zugleich erklingen und mit dem letzten schweigen. Dann können wir aber noch weiter gehen und uns an den hier in diesen Blättern von Gölz und anderen oft ausgesprochenen Gedanken erinnern, daß die Orgel als Begleitung des Gemeindegesangs doch nur ein Notbehelf sei, und daß die Gemeinden wieder lernen sollten, ohne Orgelbegleitung zu singen. Und damit hätten wir das "Ungeheuer", das die Orgel nach Ansicht mancher Theologen darstellt, aus allen Positionen vertrieben und endlich zur Kirche hinausgejagt.

Ich will Herrn R. nicht unterstellen, daß er so weit gehen würde, aber ich sehe keinen Punkt, an dem man Halt sagen müßte, wenn mit möglichst objektiver Sachlichkeit, mit hundertprozentiger Rationalisierung alles entfernt werden sollte, was vom Standpunkt der ratio aus nicht unbedingt nötig ist. Aber müssen wir Musiker (und nicht nur wir Musiker) diesem Standpunkt nicht entgegentreten? Wir haben an der Musikhochschule in der Abteilung für evangelische Kirchenmusik im "Liturgischen Orgelspiel" uns mit Ihrem Appell befaßt, Herr R., - wir haben uns "getroffen gefühlt", denn die Erlernung der "handelsüblichen" kleinen Einleitungen und Schlüsse zum Choral gehört bei uns zu den wichtigsten Aufgaben für den Anfangsunterricht. Die Meinungen waren geteilt: besonders wurde zugegeben, daß es bei älteren Weisen oft unangebracht sei, ein harmonisch kadenzierendes Nachspiel zu bringen; hier wurde empfohlen, einfach den Schlußakkord etwas länger auszuhalten. Ich möchte dies Verfahren ebenfalls empfehlen, und zwar besonders beim Vers nach der Predigt und beim Schlußvers; dagegen wurde von Musikertheologen aus ihrer Praxis berichtet, daß sie dankbar seien, wenn zwischen dem Gesang einer ganzen Gemeinde und der Einzelstimme des Pfarrers vermittelnd ein Nachspiel der Orgel liege. Dieses braucht ja nicht immer zu "säuseln"; es soll einen Ab= und Ausklang darstellen, der in jedem Falle verschieden sein kann. Ein Ausklang mit vollem Orgelklang kann dem Choral gemäß sein, aber den Geistlichen, wenn er eine wenig klangvolle Stimme hat, seinen Anfang erst recht erschweren. Wir haben dann die Nachspiele angesehen und vorgespielt, die Günther Ramin in seinem "Organistenamt" als Musterbeispiele gibt. Sicherlich ist Ramin einer der genialsten Organisten, die wir haben, besonders auch in seinem kirchlichen Spiel, - aber selbst da gefiel uns nicht alles. Das führt uns nun auf den Kernpunkt der Sache: Wenn nicht einmal das Beste gut genug sein soll, was es gegenwärtig gibt, dann ist das entweder ein Zeichen dafür, daß diese Schwänze zum Choral in der Tat endlich wegfallen sollten, oder ein Beweis dafür, daß wir sie falsch, nämlich zu artistisch beurteilen. Wie kann man einen Choral, der in seiner Harmonik nur Dreiklänge und Sextakkorde enthält, anders schließen, als mit ähnlicher Einfachheit? Das heißt, was kann man denn anders spielen, als eine der "bekannten Kadenzen"? Soll man mit Regerscher Chromatik neapolitanische Sextakkordfolgen mit Engführungen der letzten Choralzeile postludieren? Nein, dieses kurze Nachspiel soll so selbstverständlich klingen, daß man es als selbständige Kunstform gar nicht empfindet. Es betont einen formalen Einschnitt, ist also am Platze vor der Predigt, an anderen Stellen in der Tat oft entbehrlich. Wenn es bloß die plagale Kadenz enthält, dann wirkt es ohnehin nur wie ein ausgehaltener Schlußakkord. Wenn dem Organist aber das Herz voll ist, warum soll er nicht auch einmal in seinem Nachspiel sich noch einmal aufschwingen dürfen? (Ein schönes Beispiel dafür und für gleichzeitiges Verklingen ist das Raminsche Nachspiel zu "Vom Himmel hoch da komm ich her".) Aber vielleicht wenden Sie sich, Herr R., nur gegen gedankenlose, stereotype, säuselnde Nachspiele, bei denen ein und dasselbe Schema stets herhalten muß? Dann sind wir ganz einer Meinung. Das ist ein Punkt, an dem wir alle, auch die sogenannten "guten" Organisten, immer wieder sündigen. Gerade in diesen scheinbar einfachsten, leichtesten Aufgaben auch z. B. beim Orgelspiel zu Trauungen muß uns immer wieder das Gewissen geschärft werden. Das haben Sie getan, und dafür sind wir Ihnen dankbar.
Hermann Keller.



Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
7. Jahrgang Nr. 4, August 1933





Anlaß zu dieser Replik war folgender "Aufruf":

An die Herren Organisten!
Erlauben Sie einem Unmusikalischen eine vielleicht törichte Anfrage; er ist jeder Belehrung zugänglich. Warum spielen Sie nach dem Choral noch ein paar Akkorde? Wollen Sie so den Gedanken des Chorals hervorheben? Den Trost, den er spendete, die Kraft, die er gab, den Herzensjubel, die Festfreude vermehren, nachhelfen, was dem Choral nicht ganz gelang? Das ist jedenfalls eine sehr schwere Sache: Denken wir ans Lutherlied Nr. 8, nun hier durch einige Akkorde die Wucht zu vermehren. Wird es nicht den meisten, gar nicht etwa den "unfähigen" Organisten doch nicht möglich sein, hinter "das Reich muß uns doch bleiben" etwas auch nur Entsprechendes zu spielen? Wird nicht irgendeine der bekannten Kadenzen wie ein Gesäusel hintennach dudeln? Ich könnte mir Bach auf der Orgel sitzend denken mit dem Auftrag, nun noch zu spielen: Würde er sich dazu hergeben, 2 3 Takte zu säuseln? Aber ich frage ja nur an, warum Sie, verehrte Herren, solches tun? Ist es irgendeine Vorschrift, der Sie, ungern genug, nachkommen? Etwa, daß man das Niedersitzen der Gemeinde nicht so hört? Da, glaube ich, ist es so, daß alle so leise wie möglich sitzen, wenn alles, auch die Orgel, mäuschenleis ist und man den Polterer gut hört. Im voraus danke ich für jede Antwort.
R.

Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
7. Jahrgang Nr. 3, Juli 1933