1935 · Gedanken und Anregungen zum
Bach=Händel=Jahr 1935
Auf Anregung der Schriftleitung will ich hier für die Berufsgenossen in Stadt und Land einige Gedanken aussprechen, Erfahrungen mitteilen, Anregungen geben, die sich auf die vielerlei Fragen beziehen, die das Bach=Händel=Jahr 1935 vor uns hinstellt. Ich weiß, daß viele von uns keine Freunde von "Jubiläen" sind und sie haben darin Recht, daß seit langem eine an sich gute und schöne Sitte (wer feierte nicht gern seinen eigenen Geburtstag und den seiner Angehörigen und Freunde?) durch Protzentum und Spießertum weithin entwertet worden ist. Aber das heißt nun nicht, daß wir Jubiläen mit streng gezogenen Stirnfalten ausweichen müßten, sondern, daß wir sie so feiern sollen, daß sie ihren guten Sinn wieder bekommen. Wir dürfen, bei einer vielfach spürenden Gleichgültigkeit gegen die kulturellen Werte einer großen Vergangenheit, keine Gelegenheit vorübergehen lassen, nicht nur im engeren Kreis, sondern in breitester Oeffentlichkeit für unsere Sache einzutreten. Und gibt es eine bessere Gelegenheit als der fast zusammenfallende (nur 30 Tage sind dazwischen) Geburtstag von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel?
Freilich sträubt sich jedem, der die Musikgeschichte nur ein wenig kennt, alles gegen eine gedankenlose Verkoppelung dieser beiden so grundverschiedenen Groß=Meister, die so wenig (oder noch weniger) zusammengehören wie Goethe und Schiller. Um die Unterscheidungslinien deutlich zu ziehen, wird mancher Organist und Chorleiter bei dieser Gelegenheit seine musikgeschichtlichen Kenntnisse wieder auffrischen wollen, und ich gebe daher zuerst dafür ein paar ganz persönlich gehaltene Hinweise. Für Händel liegt neben Chrysanders unvollendet gebliebenem Standwerk eine das ganze Werk Händels umfassende Arbeit von Leichtentritt vor; für die weitaus beste Einführung in Händels Welt aber halte ich das kleine Büchlein "Das Leben Händels von Romain Rolland" (Verlag Rascher, Zürich); man atmet Händels Luft, so lange man darin liest. Besonders wichtig (und richtig) ist darin, was er über die Wiedergabe der Werke sagt: sie sind (besonders die Instrumentalwerke) von der Improvisation her zu verstehen, und man müßte also versuchen, diesen Werken bis zu einem gewissen Grade den Charakter der Improvisation zu bewahren. Nun ist aber das, was uns geboten wird, Versteinerung Das ist 1910 geschrieben, aber trifft es auf die Mehrzahl der Händel=Aufführungen (besonders der Konzerte) nicht heute noch zu?
Vielmal so groß wie über Händel ist das Schrifttum über Bach. Wir alle kennen ihn besser und gründlicher, und darum hört man nicht nur zahlreichere, sondern auch meist bessere Darbietungen Bachscher Werke. Es lohnt sich noch immer, sich in Spittas Monumentalwerk zu vertiefen, oder ihn bei einzelnen Kapiteln zu Rate zu ziehen; denn für den ganzen Spitta braucht man das, was der heutige Mensch am wenigsten hat: Zeit. Es ist betrübend, zu sehen, daß manche studierende Kirchenmusiker, und solche, die im Amt sind, ja nicht einmal die Zeit haben, Schweitzer zu lesen. Zum mindesten aber sollte doch jeder die ersten sechs Kapitel gelesen haben, die eine vortreffliche, kurze und knappe Einführung in die Welt Bachs enthalten. Von den kleineren Werken über Bach sei das Volksbuch Karl Hasses (Velhagen und Klasing) mit warmer Empfehlung genannt. Forkels klassisches Werk besitzen die Mitglieder des Württ. Bachvereins als Vereinsgabe.
Neben der Literatur über die beiden Meister wird sich der Chorleiter und Organist natürlich auch mit ihren Werken mehr als sonst befassen. Bei Bach ist das leicht, bei Händel umso schwerer. Händel, der jahrelang Leiter, später auch Unternehmer einer italienischen Oper in London war, hat zunächst einmal vierzig Opern geschrieben, deren Wiederaufführung heute bekanntlich einen Komplex von Problemen bedeutet, aber keine für den Chorleiter; er kann keines dieser Werke aufführen, und Einzelarien daraus (in "Albums") sind selten außerhalb ihres Zusammenhangs wirklich genießbar. Bleiben die zweiunddreißig Oratorien. Sie sind sämtlich für den Konzertsaal, nicht für die Kirche geschrieben, wo ihnen nur die biblischen Texte und die unausrottbare Vorstellung von Händel als dem "zweiten Altmeister der evangelischen Kirchenmusik" Bildung und Heimatrecht verschafft haben. Man sollte Händel als Oratorienkomponisten, nicht aber mit Bach, sondern eher mit Shakespeare vergleichen, mit dem er die großartige Objektivität gemeinsam hat, Edles und Verruchtes, Hohes und Niederes zu schildern. Es ist derselbe grandios=einfache Stil, in dem auch das Alte Testament seine heiligen und unheiligen Geschichten erzählt, denen Händel die meisten seiner Stoffe entnommen hat. Der "Messias" nimmt dabei eine Sonderstellung ein; man möchte ein Oratorium, dessen Mittelpunkt die Gestalt Jesu bildet, nicht außerhalb der Kirche hören, aber bei einer stilistisch sorgfältigen Interpretation, wie das neulich bei der hervorragenden Aufführung des Messias durch die Hochschule für Musik der Fall war, tritt auch da diese Auffassung des Oratoriums als eines großen Welttheaters mit geradezu bestürzender Deutlichkeit hervor.
Aus all dem geht hervor, daß dem Chorleiter von der Aufführung eines Händel=Oratoriums in den meisten Fällen abzuraten ist. Eine mäßige Aufführung einer Bach=Kantate mag noch hingehen, eine ebensolche eines Händel=Oratoriums ist schon unerträglich. (In den meisten Fällen wird ja außerdem auch das Geld für Solisten und Orchester nicht aufzutreiben sein.)
Man lasse Aufführungen Händelscher Oratorien den konzertierenden Chorvereinigungen; diese und alle Musikfreunde werden den bekannten Erlaß der Kulturstelle der NSDAP. mit Freude gelesen haben, nach dem die alttestamentlichen Texte Händels für unbedenklich erklärt wurden. Wenn man vollends weiß, daß Judas Maccabaeus von den Engländern 1746 geradezu als Epos ihrer nationalen Erhebung (Niederwerfung des schottischen Aufstands) gedeutet worden ist, könnte man an eine Verwendung Händels bei großen nationalen Feiern denken (und welche Musik wäre geeigneter dafür, als die von Händel und Beethoven), nur stehen dem doch vielfach die Texte im Wege (*). Aber warum erklingt nicht einmal das "Halleluja" aus dem "Messias" bei einem feierlichen Regierungsakt?
Was Händel außer seinen Opern und Oratorien geschrieben hat, ist kaum ein Zehntel des Gesamtwerks, und nur wenig davon paßt in die Kirche nichts ist dafür geschrieben. Vor allem fehlt ganz eine originelle Orgelmusik (über die Orgelkonzerte werde ich mich an anderer Stelle Musik und Kirche, 1935, Heft 2 verbreiten); aber natürlich wird einer Aufführung eines Orgelkonzerts (womöglich nicht ohne Orchester!), eines Concerto grosso, einer Violin=, Flöten= oder Triosonate im Kirchenraum bei einer Abendmusik nichts im Wege stehen.
Ganz anders bei Bach. Da wartet eine Fülle gottesdienstlicher Musik auf den Spieler, Sänger und Dirigenten. Ueber die Orgelwerke hier an dieser Stelle zu schreiben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Vor mir liegt ein umfangreiches Programmheft eines "Bach=Jahrs", das Domorganist Horst Schneider in Bautzen durch das ganze Kirchenjahr 1934/35 durchzuführen gedenkt. In allen Kirchen Bautzens werden in den Haupt= und Nebengottesdiensten die Präludien und Fugen, die Choralvorspiele, die geistlichen Lieder, vierstimmige Choräle, Kantaten= und Motetten=Teile und ganze Kantaten nach ihrer Zugehörigkeit zu dem betreffenden Sonntag zum Klingen gebracht. Das ist vielleicht die schönste Feier, die heute die deutsche evangelische Kirche ihrem großen Kantor zum 250. Geburtstag veranstalten kann! Wie uns das "Chorbuch" von Richard Gölz zeigen will, die alten Vokalmeister der evangelischen Kirche in ihrem Zusammenhang mit dem Kirchenjahr zu verstehen und zu benützen, so müßte es auch mit Johann Sebastian Bach geschehen. Leider fehlen ja bei uns in Süddeutschland die meisten Voraussetzungen zu einer "regulierten" konzertierenden Kirchenmusik, - aber vielleicht ließe sich doch im Bach=Jahr 1935 da und dort wieder einmal, an einem Sonntag, an den sie hingehört, eine Kantate im Gottesdienst ermöglichen? Aus Bachs Werken Programme zu Abendmusiken mit Orgel, Solisten und Chor zusammenzustellen, kann jedem Leser dieser Blätter, der ein kirchenmusikalisches Amt bekleidet, billigerweise selbst überlassen werden.
Es gibt aber noch andere Möglichkeiten für einen Chorleiter und Organisten, auch außerhalb der Kirche seiner Gemeinde Bach und Händel näherzubringen: das sind Gemeindeabende. Ihre Form ist wohl noch ein Problem (über das sich lohnte, auch einmal in diesem Blättern sich zu besinnen), ihre gelungene Durchführung ist wohl meist vom organisatorischen Geschick des Pfarrers und des Kirchenmusikers abhängig. An solchen Abenden könnte der Chorleiter seiner Gemeinde einmal in gemeinverständlicher und anregender Form von Bach und Händel erzählen; das hat Schweitzer vor ein paar Jahren in der Markuskirche getan, und das wollen wir in diesem Jahr an Gemeindeabenden, die wir in der Kirche halten, und wobei der Redner von der Orgelempore aus spricht, mit Bach und Händel versuchen. Vielleicht denkt mancher, das überlasse ich lieber Berufeneren! aber: nur Mut, schon die Beschäftigung mit dem Stoff, die Notwendigkeit, Dinge, die man weiß, aber nie ganz klar formuliert hat, auf einen deutlichen Begriff zu bringen, lohnte reichlich die aufgewendete Mühe, noch mehr die Dankbarkeit der Zuhörer, von denen nur die wenigsten etwas von Musikgeschichte wissen, recht viele aber doch durch ihren Rundfunkapparat viel mehr klassische Musik zu hören bekommen als früher. Der Vortrag sollte kurz sein (Höchstdauer eine halbe Stunde) und beide Meister vor allem in ihrer Verbundenheit mit ihrem Volk, ihrem Stand, ihrer Religion, ihrer Zeit zeigen; sind diese Hintergründe gut gezeichnet, so kann man auf musikalische Fachwissenschaft fast verzichten. Eine musikalische Umrahmung läßt sich dann je nach den vorhandenen Mitteln leicht finden, und darin sprechen dann die beiden Meister unmittelbar zu einer mehr als sonst innerlich vorbereiteten und aufgeschlossenen Hörerschaft.
Gerade da wir in den nächsten Monaten mehr als sonst Werke von Bach und Händel zu hören bekommen werden, ist es nötig, das geistige Band selbst zu suchen und anderen zu zeigen, das diese Werke untereinander, alle zusammengenommen mit der Kunst ihrer Zeit und diese mit der Kultur Europas zwischen 1700 und 1760 verbindet. In Stuttgart wollen diese Aufgabe die Bach=Händel=Abende an der Hochschule für Musik erfüllen, die jeden Freitagabend 8 Uhr, nur am 1. Februar 5 Uhr, stattfinden (ausgenommen 25. Januar, 12. und 26. April) und sich starken Besuchs erfreuen; vielleicht würden aber noch viel mehr Menschen kommen, wenn sie wüßten, was ihnen da geboten wird. An größeren Aufführungen stehen in Stuttgart am 3./4. Februar das Dettinger Te Deum, am 10. Februar das Magnificat, am 23./24. Februar der Messias bevor. Das Verhältnis von Kirchenchor und Oratorienverein, das nicht überall ideal ist, hat dabei eine glückliche Lösung gefunden, indem einige größere Kirchenchöre aus Stuttgart und Cannstatt sich für die "Messias"=Aufführung des Vereins für klassische Kirchenmusik zur Verfügung gestellt haben. Auch im Lande, in vielen Orten sind größere Veranstaltungen geplant. Der Schreiber dieser Zeilen wird an einigen Orten das Thema "Bach und der evangelische Choral" behandeln: hier bedeutet Bach einen Schluß der schöpferischen Zeit, aber einen Höhepunkt in dem unerhörten Reichtum der Verarbeitung: vierstimmige Choralsätze, geistliche Lieder (die Schemelli=Choräle), Orgelchoräle jeder Art, große Kantatenchöre, Choralzitate in Kantaten können uns Bachs Stellung zu Choral zeigen. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten einer praktischen Bachpflege: wie viele Laien haben schon vom "Wohltemperierten Klavier" etwas gehört, ohne sich dabei etwas denken zu können. Da kann ein Kirchenmusiker, der ein guter Klavierspieler ist, einmal ein halbes Dutzend Präludien und Fugen auswählen, lernen (beste Ausgabe: Schott, Schmid, Lindner), erläutern und durch einen allgemeinen, kleinen Vortrag einleiten. Er kann auch künstlerische Kräfte seines Ortes beiziehen, manche gute, junge Lehrerin, die über dem Stundengeben fast vergessen hat, daß sie auch Künstlerin ist, wird sich darüber freuen. Ist ein guter Geiger da, so führe man an einem Abend Händelsche und Bachsche Violinsonaten auf; auch für andere Besetzung (Flöte) ist ja genug Literatur da, und an manchen Orten wird sich sogar ein Konzert, vielleicht das fünfte Brandenburgische oder ein Doppelkonzert (zwei Klaviere oder zwei Violinen), ermöglichen lassen. Für solche Abende denke ich nicht an Konzertaufmachung, wobei die Unkosten meist die Einnahmen verschlingen, sondern an Musikabende, zu denen an kleineren Orten Pfarrer und Kirchenmusiker alle einladen, die kommen wollen. Wenn das nur zwanzig oder vierzig Zuhörer sind, schadet es auch nichts. Wer den Ehrgeiz hat, aus dem Schatz der 200 Kantaten Bachs seiner Gemeinde etwas zu bieten, der sei falls er es noch nicht weiß darauf hingewiesen, daß der Württ. Bachverein das sorgfältig bezeichnete Aufführungsmaterial zu den meisten Kantaten, die aufgeführt zu werden pflegen, besitzt und den ihm angeschlossenen Chören unentgeltlich ausleiht; damit ist dem Dirigenten viel Zeit und Mühe, den Chören manche Ausgabe erspart. Die Ausgaben, die dann durch die Aufführung selbst im Gottesdienst oder in einer Abendmusik entstehen, lassen sich wohl durch ein Opfer und eventuell noch durch einen Beitrag der Kirchgemeinde aufbringen.
Nach Meinung der Schriftleitung sollte nun diesen "praktischen Vorbemerkungen" erst der Hauptteil des Aufsatzes folgen, nämlich zwei Charakterbilder von Bach und Händel, die der Chorleiter etwa am Schluß der Probe seinem Chor vorlesen könnte. Etwas derartiges auf so knappem Raum zu geben, halte ich mich aber für unfähig. Als Fachmann in engerem Sinne möchte man da so vieles mit hineinbringen, was wohl wesentlich sein mag, aber nur in ausführlicher Darstellung verständlich ist und vorher verstanden sein muß, daß meist ein ungenießbares Verdichtungsprodukt herauskommt.
In "Musik und Kirche" hat neulich ein Verfasser etwas ähnliches für Luthers Freund Johann Walter versucht; eine ausgezeichnete Darstellung, aber gut für Studierende höherer Semester in einem musikwissenschaflichen Seminar, unverdaubar für schlichte Laien ohne humanistische Bildung. Wir Deutsche haben eben einen so tiefeingewurzelten Respekt vor der Gelehrtheit, die mit dem schweren Rüstzeug der Wissenschaft gepanzert auf den Plan tritt, daß eine Abhandlung fast stets geringschätzig beurteilt wird, wenn sie jeder verstehen kann. Wenn der Chorleiter aber aus den Werken, die ich eingangs genannt habe, ein paar ausgewählte Abschnitte vorliest, dann wird er damit bedeutend besser fahren. Was z. B. Spitta am Schluß seiner einleitenden Kapitel (I, 173 ff.) zusammenfassend über den echt=deutschen Charakter des Bachschen Geschlechts, über Johann Sebastian Bach als tiefinnerlicher Künstler sagt, kann dem einfachsten Laien einen Begriff von der Größe des Meisters geben; ebenso lehrreich und verständlich sind die Kapitel 9 12 aus Schweitzer. Auch aus Forkel eignen sich ganze Partien zum Vorlesen und ebenso für Händel die dichterische Sprache Rollands. Diese Sitte, den Chor wie eine große Familie zu behandeln, mit ihm zu singen, statt zu pauken, und ihn an Probeabenden mit dem Leben und Wirken der großen Meister bekannt zu machen, ist so schön, daß sie recht viel Nachahmung verdient. Und nun ans Werk!
(*) Auch mich stört, trotzdem ich nicht antisemitisch veranlagt bin, die allzu aufdringliche Verherrlichung des Judentums in "Israel in Aegypten".
Quelle;
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
9. Jahrgang Nr. 1, Januar 1935
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Anmerkung zur Abschrift/Übertragung:
Text ist in Fraktur gedruckt, nur lateinische Begriffe in "lateinischer" Schrift. Dies wird hier kursiv wiedergegeben.
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