1936 · Kunst und Religion

Vortrag zur Eröffnung eines Chorleiterkurses

Die Ausführungen Fritz Dietrichs "zur Kultmusikfrage" im vorigen Heft von "Musik und Kirche" haben mancherlei Unruhe unter unsern Lesern verursacht und der Schriftleitung verschiedene Zuschriften zustimmenden und ablehnenden Inhalts eingebracht. Unruhe so oder so scheint uns hin und wieder nötig und gesund zu sein; jeder von uns, ob er im praktischen Beruf des Kirchenmusikers steht, ob er Pfarrer, Lehrer, Orgelbauer, Student oder Wissenschaftler ist, muß sich von Zeit zu Zeit Gedanken machen über die Grundlagen seiner Arbeit. Und daß der Beitrag Dietrichs zum mindesten dazu Anlaß bieten konnte, ist unzweifelhaft. Es gibt Leser, denen solche Aufsätze zu "grundsätzlich", zu schwer, zu wenig praktisch sind, die keine Zeit zum Lesen solcher Beiträge zu haben glauben,- ihnen möchten wir sagen, daß wir es für verhängnisvoll halten würden, wenn sie innerhalb von zwei Monaten nicht einige ruhige Stunden der Besinnung fänden, um über Voraussetzungen und Möglichkeiten des eigenen Berufes nachzudenken.
Gegen Dietrichs Beitrag laßt sich manches ins Feld führen. In einem der nächsten Hefte von "Musik und Kirche" werden wir darauf zurückkommen. Als ein Beitrag zum gleichen Thema erscheint zunächst der nachfolgende Aufsatz von Prof. Hermann Keller.
Die Schriftleitung

Der Dienst, in dem wir stehen, die Arbeit der Woche, die vor uns liegt, steht unter dem doppelten Zeichen von Musik und Kirche. Wir sollen also zweien Herren dienen, aber ist nicht gesagt, daß niemand zweien Herren dienen kann? In der Tat ist das nur möglich, wenn von beiden der eine doch der mächtigere ist und dem anderen befiehlt, oder wenn beide so einträchtig zusammen leben, daß sie keine entgegengesetzten Befehle ausgeben. Die Geschichte der Kirche und die Geschichte der Musik zeigen uns nun, daß vielfach Spannungen entstanden sind, weil die eine Macht sich der andern weder unterordnen noch mit ihr am selben Strang ziehen wollte; auch in der Gegenwart treten solche Spannungen noch in reichem Maß auf, nicht nur, weil Pfarrer und Kirchenmusiker eben auch Menschen sind und manchmal kleine empfindliche Menschen, sondern weil der Dienst an diesen beiden Mächten den Menschen, der es mit beiden ernst nehmen möchte, manchmal fast zu zerreißen droht. Andrerseits kann aus diesem doppelten Dienst aber auch eine ganz außerordentliche Steigerung der Kräfte, ein wirkliches Hochgefühl entstehen. Es ist ja nicht so gewesen, daß die Kirche einfach die Auftraggeberin war, die für die mannigfachen Bedürfnisse des Kultus Musik brauchte und diese in Auftrag gab, sondern was in den letzten tausend Jahren auf solche Aufträge hin entstanden ist, das waren nicht bloße Gebrauchswerte, sondern zugleich auch Kunstwerke und zwar Kunstwerke von so hoher Art, daß auch die profanste Kunstgeschichte nicht anders kann, als den größeren Teil ihrer Kunstbetrachtung der kirchlichen Kunst zu widmen. Die Frage ist nun: ist diese Kunst deswegen groß gewesen, weil sie gar nicht an sich selbst gedacht, sondern sich ganz ihrer Aufgabe hingegeben hat, oder beruht ihr künstlerischer Wert gerade darin, daß sie als Kunst ihre Eigengesetzlichkeit betont und zum Ausdruck gebracht hat? Verschiedene Zeitalter haben diese Frage verschieden beantwortet; es ist die zentrale Frage, auf die sich alle Fragen der Technik, des Gebrauchswerts, des ästhetischen Inhalts zurückführen lassen.

"Das Kunstwerk ist die lebendig dargestellte Religion". Dieser Satz stammt von Richard Wagner und Alfred Rosenberg hat ihn dem zweiten Buch seines "Mythus", das vom Wesen germanischer Kunst handelt, als Motto vorangesetzt. Darf man ihn auf Wagners eigene Schöpfungen anwenden? Sicherlich nur, wenn man unter Religion nicht mehr versteht als einen fernen verschwommenen Mythus, wie das die deutsche atheistische Philosophie um 1850 getan hat; einen derartigen Mythus kann in der Tat nur die Kunst vor dem Untergang bewahren und "lebendig darstellen". Wagner hat in seinen Bühnenwerken den Versuch gemacht, den germanischen Mythus auf diese Weise lebendig darzustellen. Derselbe Wagner hat aber auch (an Mathilde Wesendonck) geschrieben: "Sie wissen, daß unsereiner nicht rechts noch links, nicht vorwärts noch rückwärts sieht, Zeit und Welt uns gleichgültig ist, und nur Eines uns bestimmt, die Not der Entladung unseres eigenen Inneren". Dieser unbezwingbare Trieb zur Selbstdarstellung, der bei Wagner so stark hervortritt, ist aber gerade das Gegenteil von Religion. In der Tat spüren wir alle, etwa im "Ring des Nibelungen", neben dem lebendig dargestellten Mythus stärker und eindringlicher noch die Persönlichkeit des Menschen des 19. Jahrhunderts, mit seinen Schmerzen, Freuden und Leidenschaften, die er uns mitfreuen und mitleiden läßt. Ähnlich ist es in Beethovens 9. Symphonie, die sich auch ins Mythische erhebt, daneben aber doch höchst persönlich beethovenisch zu uns spricht, noch mehr in der Missa solemnis, mehr Innenschau eines Philosophen als eine christliche Messe, und ebenso sehen wir in Mozarts Requiem, ja selbst in Bachs Passionen Kunstwerke, die nicht in ihrem gegebenen Stoff restlos aufgehen, sondern gerade deshalb so stark auf uns heutige Menschen wirken, weil sie noch ein starkes Eigenleben daneben führen und die persönliche Größe ihres Schöpfers zur Geltung bringen.
Dasselbe sehen wir ja in der bildenden Kunst: niemand wird behaupten wollen, daß die Darstellungen heiliger Stoffe etwa durch Raffael oder Tizian, oder die prunkvollen Renaissance- und Barock-Kirchen Roms überwiegend als religiöse Kunstwerke anzusehen seien? Anders spricht schon ein gotischer Dom, ein gotischer Crucifixus zu uns: da fühlen wir echte Frömmigkeit, vermittelt durch die Ausdrucksmittel des Mittelalters; gehen wir noch weiter zurück, so stoßen wir auf Formen, in denen die Kunst ganz in den Dienst der Religion tritt, ohne selbst etwas sein zu wollen, in der Musik auf den gregorianischen Choral.
Ist diese Kunst nun "lebendig dargestellte Religion"? Die Christen der ersten Jahrhunderte hätten sich über die Anmaßung entsetzt, wenn man ihrer Baukunst, ihrer Malerei, ihren Melodien diese Bedeutung hätte beilegen wollen. Ihre Kunst wollte nichts sein als die demütige Dienerin der Offenbarung, die ihr ganzes Leben erfüllte; es wäre ihnen vermessen erschienen, sie "darstellen" zu wollen. Ebenso bei der Erneuerung des Christentums in der Reformation: auch Martin Luther wollte alle Künste "sonderlich die musicam, im Dienste dessen sehen, der sie geschaffen hat". Aber die Reformation hat die allgemeine Säkularisation der europäischen Welt nur um etwa hundert Jahre aufzuhalten vermocht; es ist das Wachstumsgesetz aller großen Weltreligionen, daß sie, je weiter sie sich vom Ursprung entfernen, blasser, formelhafter werden; das helle Licht dringt nach Jahrhunderten nicht mehr so strahlend durch den Staub des Alltags, der Interessenpolitik wie einst; trotz immer wieder auftauchender leidenschaftlicher Hinwendungen zum Ursprung (in den Mönchsorden des Mittelalters, in der Reformation, später im Pietismus) führt der Weg der Geschichte die europäischen Völker immer mehr vom Jenseitsglauben zum Dieseitsglauben. Im selben Maße wird auch die Kunst immer mehr weltbezogen; immer mehr drängt den Künstler, dem ein Gott gab, zu sagen, was er leide, die "Not der Entladung seines Innern" zur künstlerischen Mitteilung. Der Reichtum, der auf diese Weise der gesamten Kunst zufloß, schien so groß, daß man übersah, was verloren gegangen war: erst an dem immer geringeren Einfluß der Kunst auf das öffentliche Leben in den letzten 150 Jahren läßt sich zeigen, wie wenig einer Zeit, in der der Kampf ums Dasein sowohl des Einzelnen wie ganzer Völker immer härtere Formen annahm, mit einer Kunst gedient sein konnte, die weiter nichts sein wollte und konnte als Sprache des Herzens, Ausdrucks des Gefühls.

Seit nun die nationalsozialistische Revolution diesem Zeitalter des Individualismus mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit ein Ende gemacht hat, sind der Kunst auch wieder neue Aufgaben gezeigt, neue Bahnen gesteckt. Über die Pflege der Kunst im nationalen Staat hat der Führer auf den Reichsparteitagen 1934 und 1935 Hochbedeutsames gesagt; noch nie ist von einem früheren großen Staatsmann (etwa von Bismarck) so eindringlich über die Notwendigkeit der Kunstpflege auch in Zeiten materieller Not (und gerade da) gesprochen worden. Auch die Kirche sieht sich der Notwendigkeit der Erneuerung ihrer Kunst gegenüber. Dieselben Formen und Ausdrucksmittel haben in der weltlichen wie in der geistlichen Kunst ihre Bedeutung verloren. Und wenn der Staat der nationalen Kunst deutlich gezeigt hat, wo ihre Grundlagen sind, nämlich im Volkstum, so wird auch den Kirchen dieselbe Aufgabe gestellt: auf den Grundlagen des Glaubens eine neue Kunst aufzubauen. Die Forderung, die den Kirchen gestellt ist, hat ein Schriftsteller in den letzten Jahren so ausgedrückt, daß er sagte: wenn die europäischen Völker an dem Höchsten, was sie haben oder haben sollten oder gehabt haben, gemessen werden, woran dann? Nicht an ihrer Kunst, wiewohl sie groß war, nicht an ihrer Philosophie, ihrer Wissenschaft, ihrer Technik, sondern an der Bergpredigt. Führt von da ein Weg zur Kunst? Gewiß, aber einer, auf dem sich echt und unecht mit unerbittlicher Schärfe scheidet. Wieviel pseudoreligiöse Kunst haben wir im 19. Jahrhundert und bis heute gehabt! Ein Liebäugeln mit "Stimmungen" ohne Ernst und Tiefe! Wir sehen heute schon deutlich die neuen Wege, die beschritten werden: Die katholische Kirche bemüht sich um die Wiedereinführung des gregorianischen Chorals in den Gottesdienst, die evangelische Kirche knüpft wieder an das Liedschaffen der Reformationszeit an. Beide Bewegungen sind nicht historisierend geblieben, sondern haben heute schon starke Kräfte unter den Kirchenmusikern beider Konfessionen frei gemacht und dem tonsetzerischen Schaffen einer jungen Generation neue Richtung gegeben. Da wir erst am Anfang dieses Weges stehen, so läßt sich noch nicht mit mehr als einer gewissen Wahrscheinlichkeit sagen, wohin er führen wird: Jedenfalls ist in den zwanzig Jahren seit dem Tode Max Regers eine radikale Änderung eingetreten. Es ist nicht nötig, hier den Umschwung der Orgelkunst, der schaffenden und nachschaffenden seit der "Orgelbewegung" noch einmal zu kennzeichnen. Aber innerhalb der deutschen Orgelkunst besteht eine Kluft zwischen den geistig und technisch äußerst anspruchsvollen großen freien Werken mit ihrer aufs höchste gesteigerten kontrapunktischen Kunst und Künstlichkeit (Joh. Nep. David) und den bewußt einfachen, oft simplen Choralvorspielen für den praktischen Gebrauch von Kickstat, Drischner und anderen, eine Kluft, die in der Chormusik Hugo Distler bereits überbrückt hat. Sehr bezeichnend für die Haltung der deutschen Orgelkunst ist die fast vollständige Ablehnung, die so bedeutende Werke wie die des Wieners Franz Schmidt in Deutschland gefunden haben; ein schlechthin geniales Werk wie sein Präludium und Fuge Es dur konnte sich bei uns nicht durchsetzen, aus dem einzigen Grunde, weil es symphonisch und nicht aus dem Geiste der Orgel heraus erfunden war. Materialgerechtigkeit im Klanglichen und Thematischen gilt heute mehr als die beste Erfindung; das ist zweifellos eine asketische Haltung, aber ist nicht die Askese die Grundlage der Kultur? So sehen wir, wie eine neue Zeit sich anschickt, das Verhältnis von Kunst und Religion, von Musik und Kirche neu zu lösen. "Es waltet in jeder Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister. Schließt, die ihr zusammengehört, den Kreis fester, daß die Wahrheit der Kunst immer klarer leuchte, überall Freude und Segen verbreitend!" (Schumann).
(*l) Trotzdem eine "Rede" keine "Schreibe" ist, habe ich die Form des Vortrags belassen; er stellt ein Präludium dar zu einem Thema, das im letzten Heft von "Musik und Kirche" Fritz Dietrich kontrapunktisch durchgeführt hat.
H. K.


Quelle:
Musik und Kirche 1936, S. 49 - 53