1937 · Dietrich Buxtehude

(geb. 1637 zu Helsingborg, gest. 1707 zu Lübeck)

Wenn in diesen Blättern des 300. Geburtstags von Dietrich Buxtehude gedacht wird, so soll dabei die Bedeutung und die praktische Verwendbarkeit seiner Werke in der evangelischen Kirchenmusik ausschlaggebend sein; wie groß seine allgemeine musikalische Bedeutung ist, davon hat uns der junge, idealistische Dirigent August Langenbeck in seiner Buxtehude=Festwoche in Stuttgart einen Begriff gegeben, deren sieben Konzerte ausschließlich Werke des Lübecker Meisters brachten! Sicherlich möchte aber auch der eine oder andere Chorleiter und Organist im Lande eine musikalische Feierstunde mit Werken Buxtehudes veranstalten, und schon in einfachen Verhältnissen, mit einem kleinen Singkreis, ein paar Instrumenten, einer brauchbaren Orgel läßt sich ein solches Programm durchführen.

Mehr als bei irgendeinem anderen großen Komponisten der letzten Jahrhunderte steht hier die Persönlichkeit des Tonsetzers im Dunkel. Zwar hat die neuere Forschung die Daten seines Lebens so weit als möglich geklärt und uns einen anschaulichen Begriff von der blühenden Musikkultur der Ostseerandstaaten gegeben, in der sich bodenständige nordische mit italienischen, englischen und französischen Elementen mischten und so eine ästhetisch hochstehende und genußfreudige Kultur schufen, - aber von Buxtehude selbst erfahren wir so gut wie gar nichts: weder sein Geburtstag, noch ein Bild, noch persönliche Briefe, ja nicht einmal die Urschrift seiner Orgelwerke ist uns überliefert! Sein Schaffen aber, das allein Aufschluß über seine Persönlichkeit geben kann, ist so verzweigt, und auf jedem Gebiet scheint der Komponist wieder ein ganz anderer zu sein, daß wir erst recht Mühe haben, uns einen einzigen Urheber aller dieser so verschiedenen Werke zu denken.

Während Italien in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts schon längst zu einem einheitlichen Stil gekommen war, nämlich einer Vorherrschaft des Gesangs= und Violinstils über die Tasteninstrumente, die stark zurückgedrängt wurden, standen im Nordosten Europas eine Zeit lang noch alle diese verschiedenen Stile der niederländisch=nordische Orgelstil, der deutsche Kammermusikstil, der italienische Arien= und Kantatenstil friedlich nebeneinander, ehe auch sie (im Zeitalter Bachs) in einen neuen Gesamtstil zusammenflossen, und nur aus diesem Nebeneinander ist eine so vielfältige Persönlichkeit wie die Dietrich Buxtehudes zu verstehen.

Ueberschauen wir nun seine Werke und beginnen mit dem Gebiet, auf dem seine Meisterschaft von jeher feststand, mit seiner Orgelmusik. Philipp Spitta, der Bach=Biograph, hat sie schon vor fünfzig Jahren (1888) vollständig im Urtext herausgegeben ein würdiges Seitenstück zu Griepenkerls Ausgabe der Orgelwerke Bachs -, aber nur wenig davon wurde praktisch Besitz der Organisten, bis vor fünfzehn Jahren die Orgelbewegung mit einem Schlag diese Kunst in den Mittelpunkt des Interesses stellte und zugleich darauf hinwies, daß diese Werke nur von den zu ihnen gehörigen Orgeln aus verstanden werden können. Seither bauen wir Orgeln um, um auf ihnen Buxtehude und seine Zeitgenossen spielen zu können! Vielleicht war auch der hohe Preis der Spittaschen Ausgabe ein Hindernis ihrer Verbreitung; seit einigen Jahren gibt es aber die Orgelwerke in billigen Heften, die je 3 4 Werke enthalten (Breitkopf, Preis je 1.50 RM.). Heft 1 enthält die drei Passacaglien (in d, c und e) und die Präludien und Fugen in C und g; Heft 2, Nr. 6 8 (Präludien und Fugen in e, g und E); Heft 3, Nr. 9 12 (in a, d, D, und fis, von denen die drei letzten schon zu den Meisterwerken zählen); Heft 4, Nr. 13 15 (in e, g und F), setzt diese Höhenlinie fort, während die letzten beiden Hefte (Nr. 16 bis 19 und 20 24) kleinere, z. T. für Cembalo bestimmte Werke (Fugen, Canzonetten) bringen. Der Organist möge also vor allem die Hefte 1, 3 und 4 kaufen und studieren. Zur Einführung in die Gedankenwelt dieser Werke lese man die trefflichen Aufsätze über die d=moll=Passacaglia nach, die im 2. Jahrgang, Heft 1 und 3, dieser Blätter erschienen sind.

So verschiedenartig alle diese Werke unter sich sind, so haben sie doch gemeinsame Merkmale, die sie gegen den Stil Bachs und seiner Zeit abgrenzen. Dort (bei Bach) haben die beiden gegensätzlichen Elemente des Präludiums und der Fuge ihre letzte logische Prägung und Abklärung erfahren; die rationalen Kräfte halten der Phantasie die Wage, ihre Resultante ergibt eine Ausgeglichenheit, jene "Mitte zwischen zu viel und zu wenig", die man seit Wölfflin als "klassisch" zu bezeichnen pflegt. Dagegen erscheint bei Buxtehude alles noch im Fluß: seine (fälschlich so genannten) Präludien und Fugen sind in Wirklichkeit mehrteilige Toccaten, "Toccatenvariantenfugen" (Klotz), deren häufigstes (aber nicht einziges) Schema so aussieht: Toccateneinleitung erste Fuge (4/4) Toccatenzwischensatz zweite Fuge (3/2) Toccatenschluß. Beide Fugen haben, wie auch bei der Canzone üblich, dasselbe, aber im Takt veränderte, oft auch sonst frei variierte Thema, so daß der Ausdruck Fritz Dietrichs "Kanzonentoccata" ebenfalls das Wesen dieser Form charakterisiert. Diese Buntheit wird durch eine überraschende Einheitlichkeit zusammengehalten, indem nämlich das Thema der Fuge aus dem motivischen Material der Toccata gewonnen wird; es sei dem Spieler empfohlen, diesen Zusammenhängen in jedem einzelnen Fall nachzugehen und sie herauszufinden, auch wo sie absichtlich versteckt sind! Besonders phantastisch sind die Zwischenspiele zwischen den Fugenteilen, während die Fugen selbst, an denen Bachs gemessen, oft kurzatmig und wenig bedeutend erscheinen. Es wäre aber ebenso falsch, Buxtehude mit Maßstäben Bachs zu messen, wie etwa Haydn von Beethoven aus zu beurteilen (was man früher ja mit Vorliebe getan hat); richtiger wäre es, ihn von seinen Vorgängern, etwa Franz Tunder oder Matthias Weckmann aus zu sehen. Diesen älteren Meistern gegenüber, die noch stärker an den vokalen Stil gebunden sind, macht Buxtehude den Eindruck einer völlig instrumentalen Freiheit und Inspiration. Es ist der Augenblick der Geschichte in der Orgel, da die alten Bindungen nicht mehr gespürt werden, aber auch noch keine neue Verfestigung eingetreten ist; aus dieser Souveränität des rein Musikantischen ist der blühende, reiche Klang, aber auch zuweilen der Mangel an Tiefgang und die Problemlosigkeit dieser Werke (die man als Vorzug oder als Nachteil ansehen kann), zu verstehen.

Um diese Werke zu spielen, muß man nicht unbedingt eine norddeutsche Barockorgel sein eigen nennen, sondern es ist vor allem wichtig, daß sie "gespielt" werden, wobei man bedenke, daß auch im "Spiel" Leidenschaft stecken kann, der Hörer muß vor allem eine elementare Freude am Klang daraus spüren. Keine zu grellen Mixturen, keine harten Prinzipalregistrierung, niemals "Walze", denn die einzelnen Teile dieser Toccaten stehen, jeder mit seiner ihm zugehörigen Registrierung, klar geschieden nebeneinander.

Daß Buxtehudes Choralwerke für Orgel nicht auf derselben Höhe stehen wie seine freien, hat schon Spitta geurteilt und die Praxis seither bestätigt. In den großen konzertierenden Choralphantasien der norddeutschen Schule ist der Choral von instrumentalem Zierat derartig überwuchert, daß ich nicht weiß, ob es viele Hörer geben wird, die etwa an Buxtehudes "Gelobet seist du, Jesu Christ" (Nr. 2) Gefallen finden würden. In merkwürdigem Gegensatz dazu steht die Nüchternheit, mit der "Nun lob mein Seel den Herren" zwei= und dreistimmig durchgeführt ist; in wohltuender Weise in der Mitte zwischen beiden steht (seit langem ein Liebling der Organisten) die innige Phantasie über "Wie schön leuchtet der Morgenstern", die den Choral zweimal ganz durchführt. Außer diesen zehn großen Choralvorspielen (Heft 1 3) gibt es noch dreißig kleine (Heft 4 6), die (mit zwei Ausnahmen) sämtlich nach demselben Schema gearbeitet sind: Melodie koloriert im Sopran, die Zeilen durch kürzere Zwischenspiele getrennt. Die stets gleiche Art, mit der so eine Melodie lyrisch erweicht wird, verfeinert in einigen Fällen den subjektiven Ausdruck des Chorals ("Ach Herr, mich armen Sünder"); in anderen Fällen ("Ein feste Burg ist unser Gott") schlägt sie der Melodie geradezu ins Gesicht. Es wäre wohl notwendig, zu wissen, für welchen Zweck Buxtehude diese Arbeiten geschrieben hat, um sie recht beurteilen zu können.

Nur kurz sei von der Kammermusik des Meisters die Rede, die sich gut auch in der Kirche spielen läßt: Triosonaten für Violine, Gambe und bezifferten Baß, bei denen die Gambe (wenn nicht vorhanden) durch ein Cello in hoher Lage (in einigen Sätzen auch durch Bratsche) ersetzt werden kann. Praktische Ausgaben dieser Sonaten sind in der Sammlung "Organum" (Sonaten D=dur und e=moll), zwei einzelne Sätze (mit Ersatz der Gambe durch eine zweite Violine oder Bratsche) bei Vieweg erschienen; andere Sonaten in dänischen Ausgaben (Hansen).

Die Gesamtausgabe der Werke Buxtehudes, die im Erscheinen begriffen ist (Ugrino=Verlag), bringt in ihren ersten sieben Bänden ausschließlich Kantaten. Auch die Stuttgarter Festwoche wollte vor allem auf den Vokalkomponisten Buxtehude aufmerksam machen. Hier zeigt sich der Meister wieder von ganz anderer Seite. Die zahlreichen Solokantaten, von denen "Singet dem Herrn" die bekannteste, vielleicht auch schönste, jedenfalls aber am leichtesten aufzuführende ist (sie erfordert nur einen Mezzosopran oder Sopran, eine Violine und Orgel oder Klavier), zeigen die ganz naive Freude der damaligen Zeit an der neu aufkommenden Koloratur, Melodieausspinnung und Textwiederholungen finden sich im Uebermaß, so daß sie nur bei sehr virtuoser Wiedergabe nicht langweilen oder ermüden. Acht dieser Kantaten hat Karl Matthäi in mustergültigen praktischen Ausgaben im Bärenreiter=Verlag herausgegeben. Von ungleich größerer Bedeutung für unsere Kirchenmusik sind die Chorwerke. Da sind leicht aufführbare geistliche Konzerte, wie "Jesu, meine Freude", für drei Singstimmen (ohne Tenor) und drei Instrumentalstimmen (ohne Bratsche), in gleicher Besetzung die Weihnachtskantate "In dulci jubilo", an Wert der ersten etwas nachstehend, "Lobet Christum, euren Heiland" u. a. (alle im Bärenreiter=Verlag); von größeren Choralkantaten sei die leicht aufführbare und in ihrer Einfachheit bezaubernde "Alles, was ihr tut, mit Worten oder Werken" an erster Stelle genannt, weiter das (gleichfalls leichte) fünfstimmige "Magnificat" und als einziges
a-cappella-Werk die (nicht leichte) Missa brevis, die im Kantatenwerk Buxtehudes etwa eine ähnliche Stellung einnimmt, wie Schützens "Geistliche Chormusik" unter seinen Konzerten. In all diesen Werken bekennt sich Buxtehude zum neuen italienischen Kantatenstil, und es scheint manchmal fast, als seien der Komponist der Orgelwerke und der Kantaten zwei ganz verschiedene Männer. Die großen, festlichen Chorkantaten erfordern, wie die Erfahrungen des Stuttgarter Festes gezeigt haben, virtuose Bläser und eigentlich alte Instrumente; am besten wird man vorläufig mit den einfachsten Kantaten für das Verständnis Buxtehudes werben. Das Schrifttum über Buxtehude ist bis jetzt sehr klein. Die zu ihrer Zeit hochverdienstliche französische Biographie Pirros ist nicht übersetzt und vielfach überholt; dagegen ist die treffliche kleine Schrift von Wilhelm Stahl über Buxtehude und seinen Vorgänger und Schwiegervater Tunder jetzt in verbesserter Neuauflage erschienen. Alles, was wir tun, um die Kunst dieser alten Meister wieder lebendig zu machen und zu erhalten, ist ein Dienst an unserer Kirche und ebenso an unserem Volk.



Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
11. Jahrgang Nr. 3, April 1937