1937 · Musik bei Trauungen
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
Im Juli dieses Jahres fand eine Versammlung Stuttgarter Organisten statt, bei der Professor Dr. Hermann Keller über dieses Thema sprach. Aus dem Referat und der anschließenden Aussprache werden hier einige Gedanken und Richtlinien wiedergegeben, von denen wir glauben, daß sie mancher Organist in der Stadt und auf dem Lande gerne mit seinen Verhältnissen vergleichen wird; wir bitten daher die Organisten, Chorleiter und Pfarrer, gegebenenfalls dazu Stellung zu nehmen und der Schriftleitung ihre eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiete mitzuteilen.
1. Wir müssen von der Tatsache ausgehen, daß unsere Generation das Erbe einer Verfallzeit des kirchlichen Lebens angetreten hat. Dieser Verfall äußert sich am stärksten bei denjenigen Gelegenheiten, bei denen Familiensitte und kirchliche Ordnung Hand in Hand gehen müßten, also bei Taufe, Trauung und Begräbnis.
2. Trauungen werden von den Beteiligten auch heute noch vielfach als kirchliche Familienfeiern angesehen und nicht als das, was sie sein sollten, als gottesdienstliche Handlungen. Statt der "Hochzeitsgesellschaft", die oft mehr oder weniger durch Äußerlichkeiten der Zeremonie vom Wesentlichen abgelenkt wird, und einer Anzahl Neugieriger (meist Frauen) sollte eine evangelische Gemeinde in der Kirche versammelt sein.
3. Dann wäre es auch selbstverständlich, daß im musikalischen Mittelpunkt dieser Feier das gemeinsam gesungene Lied, der Choral, stünde. Es ist nur ein Notbehelf, wenn statt dessen, wie es meist geschieht, die Orgel den Choral spielt; es wird eine Hauptaufgabe der Pfarrer sein, darauf hinzuwirken, daß bei Trauungen der gemeinsame Gesang wieder zur allgemeinen Sitte wird. Erfreuliche Ansätze dazu sind in der heutigen Zeit schon zu sehen.
4. Wird die Wahl der Choräle dem Pfarrer oder Organisten überlassen, so möge er für den Anfang Loblieder allgemeinen Inhalts wählen, etwa "Lobe den Herren", "Nun laßt uns Gott den Herren", außerdem "Gott der Vater wohn uns bei", "Wohl dem, der in Gottes Furcht steht", "Wie schön leuchtet der Morgenstern" (*1).
Werden aber Lieder vom Brautpaar gewünscht, so sollen es Lieder dieser Art sein, in jedem Fall Lieder mit Originalmelodien; es ist nicht zwingend, sich zu der Melodie von "Herzlich tut mich verlangen" gerade den Text von "Befiehl du deine Wege" vorzustellen. Vor der Einsegnung wird in Stuttgart "Gott ist gegenwärtig" gespielt; hier mögen andere Gemeinden andere Gebräuche haben, die beibehalten werden können. Zum Schluß kann wieder ein Loblied (etwa "Nun danket alle Gott") oder ein Lied besinnlichen Inhalts ("Jesu, geh voran") gewählt werden. Über das häufig gewünschte Lied "So nimm denn meine Hände" gingen die Meinungen der Versammlung auseinander; zugegeben, daß echte, kindliche Frömmigkeit aus dem Text spricht und die Melodie gut dazu paßt, so ist doch die Gefahr einer rührseligen Auffassung oder eines platten Mißverständnisses so häufig gegeben, daß es geraten ist, vom Gebrauch dieses Lieds bei Trauungen abzusehen.
5. Für das Orgel=Vorspiel und =Nachspiel kann der Organist eine große Anzahl kürzerer Präludien der Klassiker benützen (z. B. "Orgelvorspiele alter Meister in allen Tonarten", Bärenreiter=Verlag), auch manche Präludien von Bach können dazu dienen; z. B. aus Pet. Bd. 2: Nr. 1 (C=Dur) und 3 (A=Dur), aus dem 4. Band: Nr. 2 (G=Dur, ohne das Pedalsolo), aus Band 8: Nr. 8 (C=Dur), Nr. 11 (G=Dur) und andere. Auch neuere Literatur (Rheinberger, Franck, Reger) kann dabei benützt werden.
6. Außer dem Orgelspiel ist häufig noch mit der Mitwirkung von Sängern oder Instrumentalisten oder Chören zu rechnen. Hier waren die schlimmsten Auswüchse zu beseitigen, und sie sind für Stuttgart beseitigt worden durch eine Verfügung des evang. Stadtdekanamtes, den dieses auf Anregung Stuttgarter Musiker im Jahre 1928 herausgab. So ist der Brautchor aus "Lohengrin", der Männerchor "Muttersegen", der "Tag des Herrn" und anderes für immer verschwunden. Geblieben ist das "Largo" von Händel, das "Caro mio ben" (*2) (beides hervorragende Musik, aber aus der Sphäre der italienischen Oper des 18. Jahrhunderts), und wir müssen sie wohl dort solange gelten lassen, wo wir nichts Besseres ihnen entgegenstellen können. Daran fehlt es aber noch sehr. Der Hauptmangel beruht darin, daß in der Bibel keine zur Komposition geeigneten Trauungstexte zu finden sind oder bis jetzt gefunden worden sind; daher muß immer noch "Ruth" ("Wo du hingehst") als Ersatz herhalten. Es fehlt ebenso sehr an geeigneten Sololiedern wie an Chören, und alle Kirchenmusiker mögen ihr Augenmerk einmal darauf richten, eine Auswahl wirklich guter, leicht ausführbarer und leicht verständlicher vokaler Trauungsmusik zusammenzustellen. Unter den wenigen geeigneten Kunstliedern nenne ich das "Gebet" von Hugo Wolf und den letzten der "Vier ernsten Gesänge" von Brahms; verschwinden sollte der aufgedonnerte Kitsch: das "Hallelujah" von Ferdinand Hummel, die Plattheit des "Gebets" von dem jüdischen Komponisten Ferdinand Hiller und selbstverständlich das "Ave Maria" von Bach=Gounod in jeder Bearbeitung. In einiger Zeit wird der Schwäbische Sängerbund eine Neuauflage seiner Trauungs= und Begräbnisgesänge herausgeben; alle Kirchenmusiker mögen ihn darin unterstützen.
7. Mitwirkende Instrumentalisten (*3) finden eine unerschöpfliche Auswahl in den langsamen Sätzen der Sonaten aus der Generalbaßzeit; nur sehr gute Spieler dürfen Adagio=Sätze aus Violinkonzerten (Vivaldi, Bach) wählen. Lieber einen einfachen Satz gut, als einen zu schweren unzulänglich spielen. Von der Literatur der Wiener Klassiker und der Romantik (Cavatine von Raff) möge man ganz absehen.
8. Ein heikler Punkt, der dem Takt des Organisten überlassen bleiben muß, ist die Zurückweisung künstlerisch unzulänglicher Solisten. Sie ist meist nicht mehr möglich, wenn der Organist, wie es wohl die Regel ist, erst unmittelbar vor der Trauung erfährt, wer singen oder spielen will; dagegen kann in einer Vorprobe einige Tage vorher eine gar zu dilettantische Sängerin mit wohlmeinenden Worten zum Rücktritt oder zu einer Programmänderung veranlaßt werden. (Hier wie überhaupt bei allen musikalischen Fragen dieser Art, kann der Mesner, bei dem das Brautpaar seine Wünsche vorbringt, häufig geschickt helfend eingreifen und ausgleichen.) Bei der Mitwirkung von Chören trifft den Organisten keine derartige Verantwortlichkeit, weiß ja oft nicht einmal der Chorleiter selbst, wieviel Sänger er zur Verfügung haben wird. Eine Abhilfe in den hier vorliegenden Notständen wird nur durch landeskirchliche Ordnung zu schaffen sein, die bestimmt, daß künstlerisch und inhaltlich minderwertige Sonderdarbietungen innerhalb der kirchlichen Feiern keinen Ort haben und daß von allen geplanten Darbietungen dem zuständigen Pfarrer und Kirchenmusiker rechtzeitig Mitteilung zu machen ist.
9. Der Platz für musikalische Einlagen ist: ganz zu Anfang der Trauung (nach dem einleitenden Orgelvorspiel) und ganz am Schluß, nach dem Segen (nicht in der Mitte bei der Einsegnung).
Das hier Gesagte beansprucht nicht, eine Erörterung und Lösung der grundsätzlichen Fragen zu sein, die mit der kirchlichen Trauung auch in musikalischer Hinsicht verbunden sind; diese Ausführungen möchten aber die Schaffung allgemein verbindlicher Richtlinien anregen und vorbereiten helfen.
H. K.
Wir möchten dazu ermuntern, daß diese Vorschläge zusammen mit den eingangs abgedruckten Sätzen Luthers zum Gegenstand gemeinsamer Besprechung und Beratung von Kirchenmusikern und Pfarrern in den Bezirken gemacht wird.
Gohl.
(*1) "Wie schön leuchtet der Morgenstern" wurde einst nicht nur in Württemberg bei den Trauungen viel gesungen. Weil der Text dieses Liedes in unserem Württ. Gesangbuch sehr stark überarbeitet ist, wird die Beziehung des Liedes zu Eph. 5, 22 ff. nicht mehr deutlich. Dazu kommt, daß eben auch nicht wenige Traureden eher religiöse Familienreden als Predigten über den Ehestand sind; auf die Textwahl trifft vielfach zu, was zur Auswahl der Musik oben gesagt ist. Würde eher über Texte wie Eph. 5, 22 ff., Psalm 128, gepredigt, so könnten Lied und Predigt sich eher ergänzen.
Die beiden letztgenannten Lieder werden vor allem vorerst von den Kirchenchören zu singen sein, die auch im Chorgesangbuch den ursprünglichen Text zu "Wie schön leuchtet der Morgenstern" finden.
Der Herausgeber
(*2) Das "Caro mio ben" hat erst in der süßlichen Bearbeitung von Papini seinen Siegeszug durch die Welt angetreten.
(*3) Ob die kirchliche Trauung überhaupt der Ort für reine Instrumentaldarbietungen ist (Violin=, Cello=, Flöten= und andere Vorträge), sei hier vorerst nicht erörtert. Sicher ist, daß der eigentliche Ort solcher Darbietungen vor allem die Feier im Familienkreis ist und daß die schönste Aufgabe guter Spieler bei der kirchlichen Trauung wäre, mit Sängern und Sängerinnen geeignete Geistliche Konzerte oder Solokantaten auszuführen. Doch wird eine Lösung dieser Frage kaum von einzelnen Organisten und Chorleitern kommen können; sie wird von der Traupredigt und von kirchlicher Ordnung herkommen müssen.
D.H.
Quelle
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
11. Jahrgang Nr. 8, Oktober 1937