1937 · Samuel Scheidt

(Zu seinem 350. Geburtstage.)

Es gibt in der Geschichte der bildenden Kunst, wie in der Musikgeschichte, Knotenpunkte, auf die eine Reihe von Entwicklungslinien zuzulaufen scheint, um sich von da aus in veränderter Richtung weiterzubewegen; ganz kurze Zeitspannen, während derer eine Generation vom Schauplatz abgeht, eine andere ihn betritt, und es ist das Verdienst von Wilhelm Pinder, auf dieses "Generationsproblem" in der Kunstgeschichte als erster hingewiesen zu haben. So liegen die Geburtsjahre von Frescobaldi (1583), Schütz (1585), Schein (1586) und Scheidt (1587) dicht nebeneinander; in der Wirksamkeit dieser Meister ist es etwa das Jahr 1620, in dem eine Generation abtritt (Praetorius, Haßler, Sweelinck), während die genannten jungen Meister in diesen Jahren mit ihren Hauptwerken auf den Plan treten und der Musikgeschichte ein neues Gesicht geben. Von diesen vier Meistern ist bis jetzt nur Schütz voll gewürdigt; von Frescobaldi spricht man zwar viel, ohne ihn aber genügend zu kennen und zu verstehen, und ähnlich ist es mit Samuel Scheidt, dem letzten der großen "S", als die schon das 17. Jahrhundert die drei fast gleichaltrigen Meister zusammenfasste.

Eine umfassende Würdigung Scheidts ist heute noch nicht möglich, weil erst ein Teil seines Gesamtwerks in Neuausgaben vorliegt. Eine Gesamtausgabe ist im Erscheinen begriffen (Ugrino=Verlag) und umfaßt bis jetzt fünf Bände: der erste das "Görlitzer Tabulaturbuch" von 1650, der zweite und dritte vier= bis fünfstimmige Tanzsätze, der vierte die achtstimmigen "Cantiones sacrae" von 1620, der fünfte seither unedierte Klavier= und Orgelwerke (darunter eine ungewöhnlich schöne Bearbeitung von "Allein Gott in der Höh sei Ehr", die bald in einer praktischen Ausgabe herauskommen sollte!); für das nächste Jahr ist eine Neuausgabe der "Tabulatura Nova" vorgesehen, die Max Seiffert einst als Band I der "Denkmäler deutscher Tonkunst" im Jahre 1892 herausgegeben hatte. So kennen wir von Scheidt bis jetzt nur seine Instrumentalwerke in genügendem Maße, von den Gesangwerken ist seither nur ganz wenig in praktischen Neuausgaben erschienen.

Zweifellos liegt der Schwerpunkt des Schaffens und der musikgeschichtlichen Bedeutung bei Scheidt ebenso auf instrumentalem Gebiet, wie bei Schütz auf vokalem. Seine "Tabulatura Nova" ist im eigentlichen Sinn epochemachend gewesen, d. h. mit ihr beginnt eine neue Epoche: das Jahrhundert der höchsten Blüte der deutschen Orgelmusik, das wir umreißen können, wenn wir sagen "von Scheidt bis Bach". (Rechnet man vom Erscheinen des Scheidtschen Hauptwerks im Jahr 1624 bis zu Bachs Übersiedlung nach Leipzig [1723] als dem Zeitpunkt, von dem ab die Beschäftigung mit der Orgel für ihn in den Hintergrund tritt, so sind es genau hundert Jahre, die wir als die klassische Zeit deutscher Orgelkunst bezeichnen).

Scheidts Lebensgang bietet nichts Außerordentliches. Er ist in Halle als Sohn eines Salinenmeisters geboren; das genaue Datum seiner Geburt ist nicht bekannt. Seine Studien betrieb er bei dem hochberühmten Niederländer Jan Pieters Sweelinck in Amsterdam, der bekanntlich eine Reihe norddeutscher Organisten ausbildete (darunter Jakob Praetorius und Heinrich Scheidemann in Hamburg), so daß er den Beinamen "der deutsche Organistenmacher" führte. Nach seiner Rückkehr aus der Fremde (1609) in seiner Vaterstadt als Organist der Moritzkirche und später als Kapellmeister angestellt, wurde er selbst ein berühmter und gesuchter Lehrer, der seinen Unterricht oft brieflich erteilen mußte. (So rechtfertigt er auch die Veröffentlichung der "Tabulatura" damit, daß er verschiedentlich von Schülern und Freunden um Stücke angegangen worden sei.) Bald nach dem Erscheinen des Werks machten die Wirren und Nöte des Dreißigjährigen Kriegs das Erscheinen eines derartigen umfassenden Werks für lange Jahre unmöglich; so weit meine Kenntnis reicht, ist erst Pachelbel (1683) wieder mit einem Druckwerk von Orgelkompositionen auf den Plan getreten.

Die "Tabulatura Nova" enthält in bunter Folge und Zusammenstellung geistliche und weltliche Musik, Stücke für Orgel und Klavier: Fugen, Phantasien, Choralbearbeitungen, Variationen u. a.; nur der letzte, dritte Teil enthält lediglich liturgische Musik, meist über lateinische Stücke (Magnifikats, Hymnen), und eine Bemerkung in der Vorrede dieses Teils zeigt deutlich, worauf es Scheidt ankam: er gibt diesen Band heraus "zum Besten der Organisten, vornehmlich derer, die die Musik rein und ohne ganz schnelle Koloratur zu spielen lieben" (Original lateinisch). Hier ist also deutlich die Loslösung des Orgelstils von den Manieren der Koloristen des 16. Jahrhunderts vollzogen, die in einer schematischen und oft wahrhaft geisttötenden Weise Vokalsätze, die sie für Instrumente übertrugen, zu umschreiben pflegten (s. Beispiele in Ritters Geschichte der Orgel). Nun aber besinnt sich die Orgel auf ihr eigentliches Wesen, auf die ihr eigene Sprache. Der Durchbruch zu einem arteigenen instrumentalen Stil, der gegen Ende des 16. Jahrhunderts immer deutlicher gesucht wird, wird bei Scheidt Wirklichkeit. Er geht als Organist von den Gegebenheiten seines Instruments aus und stellt seine berühmt gewordenen Regeln auf, wie man auf einem Instrument mit zwei Manualen und Pedal vier Stimmen verteilen kann; c. f. im Sopran, c. f. im Tenor hebt er hervor, wie wir es heute noch machen; den c. f. im Alt schlägt er vor, mit 4" auf dem Pedal auszuführen, oder Sopran und Alt auf getrennten Manualen, Tenor und Baß aber zusammen als Doppelpedal zu spielen! Diese Technik ist besonders für die Choralbearbeitungen gedacht; Scheidt hat da als Erster alle möglichen Formen des Orgelchorals in zwei= bis vierstimmiger Bearbeitung aufgestellt. Seine Choralzyklen wollen nicht als Partiten aufgefaßt werden, d. h. die Zahl der Variationen entspricht nicht der Zahl der Verse des Liedes und noch weniger entspricht der musikalische Inhalt der einzelnen Variationen dem Gedanken= oder Gefühlsinhalt der einzelnen Strophen. Man tut Scheidt Unrecht, wenn man den Maßstab Bachscher Gefühlstiefe und Textbezogenheit auf ihn anzuwenden versucht; dann wirkt er oft trocken und seelenlos. Seine Größe liegt irgendwo anders, nämlich in der Objektivität seiner Tonsprache und in seiner Verbundenheit mit der großen Kunst der Niederländer, die sich uns erst heute langsam wieder aufzuschließen beginnt. Sehr wenig bekannt sind daher bis jetzt die großen, hochbedeutenden Fugen und Phantasien geworden, die in der "Tabulatura Nova" stehen. Von einer sei hier kurz die Rede, um den Geist zu zeigen, der in dieser Musik lebt: Es gibt ein Madrigal von Palestrina über ein Liebesgedicht, das mit den Worten beginnt "io sono ferito, ah lasso" ("Verwundet bin ich, ach, und matt"), eine berühmte Komposition, über die schon Hans Leo Haßler ein Ricercare geschrieben hatte, bei dem das Thema auch in rückläufiger Bewegung (im Krebsgang) auftritt; Scheidt geht noch weiter, indem er, dem Affekt des Textes folgend, ein chromatisch aufsteigendes und ein ebenso absinkendes Thema dazu einführt, so daß eine Fuge mit vier Themen entsteht, die gegen Schluß alle zusammen auftreten:

[Notenbeispiel]

Es ist klar, daß ein Zuhörer, der um diese Beziehungen nicht weiß, diese Fuge auch nicht verstehen kann, und auch der Spieler selbst muß lange in ihre Melodik hineinhören, ehe er allen Kombinationen folgen kann, die im Verlauf der Fuge auftreten. Wenn diese Kunst also heute nicht so lebendig ist, wie sie es sein müßte, so ist nicht der Grund, daß sie veraltet wäre, sondern, daß unsere Ohren noch nicht dazu erzogen sind. Wir sind aber auf dem Wege dazu; um wieviel weiter hat uns schon allein die Beschäftigung mit Bachs "Kunst der Fuge" im polyphonen Hören gebracht!

Weiter stehen in der "Tabulatura Nova" prächtige Variationen über weltliche Lieder ("Ei, du feiner Reiter"). In diesen Formen sind Scheidt und Sweelinck Schüler der englischen Virginalisten; die ganze Kraft und Lebensfreude des elisabethanischen Zeitalters lebt in diesen Melodien, und ganz unproblematisch, aus reiner Spielfreude geboren sind die Veränderungen die Scheidt über sie schreibt.

Noch eine Einzelheit sei angemerkt, weil sie, nach meiner Meinung, in der seitherigen Literatur über Scheidt nicht ganz richtig gedeutet worden ist, nämlich die sogenannte "imitatio violistica", d. h. die Übertragung der damals aufkommenden Geigentechnik, zwei oder vier Noten auf einen Bogen zu nehmen und zu binden, auf die Tasteninstrumente. Das bedeutet nicht nur die Nachahmung einer Technik der Violine, sondern den Versuch, zu einem wirklichen Legato auf den Tasteninstrumenten zu kommen, das bis dahin unbekannt gewesen war und vor der modernen Anwendung der Daumentechnik ja in vielen Fällen unmöglich war. Auch Frescobaldi rät in der Vorrede zu einem 1614 erschienen Druckwerk den Organisten, "zu binden, so gut es eben geht". Nun aber war das Ohr durch die feinere Artikulation der Geige geschärft und verlangte ebensolche feine Unterscheidungen auch auf den Tasteninstrumenten. Auch hier ist eine Entwicklung, die mit Scheidt beginnt, von Bach zum krönenden Abschluß gebracht worden.

Der Grund, warum Scheidt dieser großen, dreiteiligen Sammlung von Klavier= und Orgelkompositionen den merkwürdigen Titel "Neue Tabulatur" gab, ist ein rein äußerlicher: Das Werk erschien im modernen Fünf=Linien=System, jede Stimme besonders, also partiturmäßig notiert, während die deutschen Organisten damals noch an die alte Tabulatur, d. h. die Buchstaben=Notenschrift gewöhnt waren.

Außer diesem Hauptwerk (und ein paar verstreuten Kompositionen) gab Scheidt nichts mehr für die Orgel heraus, bis zu seinem im Jahr 1650 in Görlitz erschienen Tabulaturbuch, "100 geistliche Lieder und Psalmen" enthaltend. In Musikgeschichten werden gewöhnlich beide Werke nebeneinander genannt, aber dieses zweite Tabulaturbuch ist gänzlich anderer Art als das frühere Werk; es ist ein Orgelchoralbuch mit vier kontrapunktisch gesetzten Stimmen (worunter sich herrliche Sätze befinden) zur Begleitung der Gemeinde oder zum häuslichen Gebrauch. Es bringt keine neuen Formen, sondern stellt sich der beginnenden Degeneration des Choralspiels entgegen, die sich schon rein äußerlich darin ankündigte, daß man sich damit begnügte, den Choral zweistimmig (Melodie und Generalbaß) zu notieren. Manche dieser Sätze sind so ausdrucksstark, daß sie uns heute als Choralvorspiele dienen können, was sie nach Scheidts Intention aber eigentlich nicht sein sollen.

Wenn Schweitzer von Bach gesagt hat, er sei ein Ende, kein Anfang, alles führe zu ihm hin, nichts gehe von ihm aus, so kann man von Scheidt sagen, daß Anfang und Ende sich in ihm in einer einzigartigen Weise verbinden. Er ist das Portal zur deutschen Orgelkunst des 17. Jahrhunderts, in ihm reichen sich die norddeutsche Renaissance, spätgotischer niederländischer Stil und deutscher Frühbarock die Hände. Auch geographisch steht er auf der Grenze zweier Kulturkreise: von Halle aus war er der Vermittler der norddeutschen Orgelkunst nach Süden, d. h. nach Thüringen; diese Verschmelzung norddeutscher und mitteldeutscher Stilelemente können wir ein paar Jahrzehnte später besonders deutlich bei dem Hallenser F. W. Zachau sehen, am allerdeutlichsten aber bei Joh. Seb. Bach, der die Vollendung und Krönung von alle dem darstellt, was mit Scheidt begonnen hatte.



Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
11. Jahrgang Nr. 8, Oktober 1937