1939 · Wider den Historismus
Musik und Kirche
Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet...
Mögen andere zeigen, daß wir falsch gesehen haben: wir wollen sagen, was wir zu sehen meinen. (Nietzsche)
Der Historismus als Krankheit, ja heute schon mehr als das, als eine Epidemie, die so allgemein geworden ist, daß man sich ihrer gar nicht mehr bewußt ist, war in früheren Epochen unbekannt. Er breitete sich erst im neunzehnten Jahrhundert aus, als die Romantik damit angefangen hatte, die Vergangenheit, besonders das deutsche Mittelalter, auf Kosten der Gegenwart zu preisen, beherrscht aber bald das wissenschaftliche Denken der Zeit in immer stärkerer Weise. Natürlich hatte es zu jeder Zeit Laudatores temporis acti, Lobredner der vergangenen Zeit, gegeben; dem naiven Menschen erschien zu allen Zeiten die Vergangenheit in freundlicherer, milderer Beleuchtung als das harte und helle Licht der Gegenwart; neu und gefährlich war aber, daß der Historismus zur Mode und Methode wurde, daß er auch in die höchsten und feinsten Gebiete des menschlichen Geisteslebens, in die Philosophie und die Kunst einzudringen begann. Vielleicht ist nirgendwo der Historismus so alleinherrschend geworden wie in der heutigen evangelischen Kirchenmusik? Blume urteilt, daß die "auf die Geschichtsforschung ... gerichtete Tätigkeit des 19. Jahrhunderts den wesentlichsten Teil der Kirchenmusikgeschichte selbst ausmache und wichtiger und fruchtbarer sei als das eigene Schaffen des Jahrhunderts." Mit voller Klarheit sieht er als "das eine große Problem der Gegenwart: die Überwindung des Historismus". Mau hatte "schließlich vergessen, daß der gesamte Zweck der wissenschaftlichen Forschung eben nicht die Wiederbelebung des Alten an sich, sondern die Befruchtung der Gegenwart durch die Vergangenheit sein sollte" (Geschichte der ev. Kirchenmusik, S. 160 und 161). Macht man sich demgegenüber klar, mit welch selbstverständlicher Geringschätzung das 18. Jahrhundert auf das 17. heruntersah, und ebenso dieses auf das 16. usw., so haben wir in der bedingungslosen Verehrung, die wir heute der alten Musik entgegenzubringen pflegen, zum mindesten eine sehr merkwürdige Erscheinung vor uns.
Nietzsche hat als einer der ersten die Bedeutung dieser Erscheinung klar erkannt und ist dem Historismus in seiner unzeitgemäßen Betrachtung "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1873) entgegengetreten. Seine Kampfschrift sagt vieles allgemein Gültige über den Historismus, daneben enthält sie aber auch Abschnitte, in denen der üblen Scheinkultur der Gründerjahre nach 1871 ein Spiegel vorgehalten wird; sie läßt sich daher nicht einfach auf unsere Zeit übertragen. Trotzdem tun wir gut, an sie anzuknüpfen.
Es unterscheidet den Menschen vom Tier, daß er nicht nur in der Gegenwart, sondern auch von der Vergangenheit und für die Zukunft lebt. Geschichtliches Denken ist also notwendig. Dreierlei Arten der Einstellung zur Historie unterscheidet Nietzsche: eine monumentale, eine antiquarische und eine kritische. Eine monumentale: "die Geschichte gehört vor allem dem Tätigen und Mächtigen, dem, der einen großen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag". Das ist die Art, wie heute die fuhrenden Männer des deutschen Volkes, Männer, die selbst Geschichte machen, die weltgeschichtliche Vergangenheit ansehen, nämlich als Monumental-Geschichte, der sich eine monumentale Gegenwart zutiefst verbunden weiß. Aber Nietzsche erlebte eine solche Epoche nicht, sondern lediglich die "antiquarische", die das Alte mit Treue bewahren will, die aber selbst da, wo sie in sympathischer Weise auftritt, dem Menschen stets nur "ein höchst beschränktes Gesichtsfeld" verleiht. Der Mensch braucht die dritte Art, die "kritische", die ihm erlaubt, "eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können"; er tut das nicht im Namen der Gerechtigkeit, sondern des Lebens. Überall da, wo die Historie nicht mehr dem Leben untergeordnet wird, sondern als Selbstzweck auftritt, wird sie lebensfeindlich. Dann entsteht jene fatale "Bildung", die eigentlich nur "Wissen um Bildung" ist; es entsteht der moderne "gebildete" Mensch, der ungeheuer viel weiß, aber nur wenig davon verdaut hat und noch viel weniger mit diesem Wissen anzufangen weiß. Daß dieser Typ von 1871 bis 1914 immer mehr der herrschende geworden war (wenigstens in Deutschland), ist ebenso sicher, wie daß der Nationalsozialismus ihm endgültig den Garaus gemacht hat. "Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten" ruft Nietzsche seiner Zeit zu, die ihn nicht versteht. Hesiod prophezeite, daß die Menschen einmal bereits graubehaart zur Welt kommen würden, und daß Zeus dieses Geschlecht dann vernichten werde. Ist diese Prophezeiung in der Kriegs- und Nachkriegszeit nicht Wahrheit geworden? Aber sind wir damit heute etwa den Historismus los? Nein, er regiert auf einigen Gebieten unumschränkter als je, unter anderem in der evangelischen Kirchenmusik, aber weder monumental, noch antiquarisch, noch kritisch, sondern dogmatisch.
Wir wollen uns darüber klar sein: Der einzige Weg, um nach einer Verfallzeit von über 150 Jahren die evangelische Kirchenmusik wieder auf die Höhe zu bringen, war, den Anschluß an die große Vergangenheit der Kirche und ihrer Musik wieder zu suchen und herzustellen. Das war keine antiquarische Angelegenheit, sondern wurde mit leidenschaftlicher, freudiger Hingebung von der Jugend in stürmischem Anlauf vollzogen. Den Lesern dieser Blätter brauche ich Einzelheiten dieser "Bewegung" nicht zu wiederholen; alle Gebiete vom Orgelbau bis zur Liturgie wurden mit einbezogen und aufeinander bezogen. Niederschläge dieser Bewegung sind z. B. das Gölzsche Chorgesangbuch und das Gohlsche Jugendgesangbuch. Wer sollte sich über all das nicht freuen? Und trotzdem Historismus? Ja: Ich sehe heute die Gefahr darin, daß viele in dem, was Ansatzpunkt hätte sein müssen, einen Endpunkt sehen, daß ihnen "das 16. und noch ein Teil des 17. Jahrhunderts gezeigt haben, was wahre Kirchenmusik ist, und daß wir uns danach zu richten haben."
Wer Augen hatte, zu sehen, und Ohren, zu hören, der konnte beobachten, daß in den letzten zwanzig Jahren der Historismus nacheinander fast alle strategischen Punkte der evangelischen Kirchenmusik besetzt hat. Es begann damit, daß Singkreise kleine Kantaten von Buxtehude und Motetten von Schütz sangen, Organisten alte Meister spielten, dann wurde die Choralmusik des 16. Jahrhunderts in die Chöre wieder eingeführt (Chorgesangbuch), die Gemeinden mit den herrlichen Texten und Melodien der Reformationszeit wieder bekannt gemacht. Gleichzeitig stieß man weiter zurück in die Vergangenheit: zur Gregorianik (Alpirsbach), zur gotischen Orgelkunst. Es gibt heute schon so viele, denen Bach als Kirchennmsiker verdächtig ist; sie setzen sich für Scheidt ein, vielleicht in zehn Jahren für Machaut, in weiteren zehn Jahren für Perotinus Magnus? Das Prinzip: je älter, desto besser, ist das letzte Destillat des Historismus. Wie erstaunt wären die alten Meister, wenn sie wüßten, welche Ehre wir ihnen erweisen! Sie dachten nicht im Traum daran, noch nach 2 300 Jahren aufgeführt und hoch gepriesen zu werden! Wohl verstanden: ich sage nicht, daß sie es nicht wert seien, nur, daß sie es aus anderem Grund sind, als wegen ihres Alters: wenn ihre Werke den Stempel der Genialität, der künstlerischen Bedeutung tragen. Das kann bei Werken der Fall sein, die rein liturgisch gemeint sind, bei denen also dem Tonsetzer gar kein Gedanke an die rein künstlerische Wesenheit seines Werkes gekommen ist, und das vielleicht häufiger als in späteren Zeiten, da der Künstler von vornherein glaubte, für eine fiktive Unsterblichkeit schaffen zu müssen. Aber nicht die liturgische Bedingtheit der alten Meister, wie heute Tausende meinen, sondern einzig und allein die künstlerische Bedeutung ihrer Werke ist ausschlaggebend dafür, ob sie noch heute unter uns weiterleben. Da das Gefühl für diesen Maßstab unter dem übermächtigen Einfluß des Historismus bei uns unsicher geworden ist, sind wir so unkritisch geworden, daß eine Übermenge von Neuausgaben alter Musik uns überschüttet hat, ohne daß wir uns kritisch sichtend dagegen gewahrt hätten. Als Oskar Söhngen vor ein paar Jahren den Mut hatte, auszusprechen, daß er die Solokantaten Buxtehudes langweilig finde, ging ein Aufatmen durch die Reihen der evangelischen Kirchenmusiker; und doch sind solche Urteile sehr vereinzelt geblieben. Das Publikum läßt sich die langweiligste Gebrauchsmusik des 17. Jahrhunderts, die flachsten Kantaten Telemanns, die stereotypen Da capo-Arien Bachs und vieles andere ohne Murren gefallen, weil die alten Meister eben sakrosankt sind, und die Kirchenmusiker wachsen in der Überzeugung auf, daß das der einzig wahre Stil sei. Kaum ein jüngerer Kirchennmsiker, der nicht über das deutsche Requiem und die Motetten von Brahms die Nase rümpfen würde (wenn er sie überhaupt kennt); ja es kommt vor, daß Studierende der Kirchenmusik, die jahrelang fast nur aus "Organum" spielen und aus dem "Chorbuch" singen, in aller Bescheidenheit versichern, daß sie mit Mozart oder Schubert nichts anfangen könnten, weil sie diese Musik eben nicht verstünden! Sollte man ihnen nicht mit sanfter Gewalt ihre Scheuklappen abnehmen? Es gibt ein kleines, ganz kurzes Orgelpräludium von Bruckner in C-dur aus der Zeit seiner Siebten Sinfonie, über das alle Wunder Brucknerischer Harmonik ausgestreut sind. Ich spielte es einmal einem Kreis von jungen Kirchenmusikern vor, aber alle waren betreten; niemand wagte zu sagen oder zu denken, daß es schön sei, weil es in dem +++ romantischen Stil gehalten war; hätte ich ein beliebiges Präludium in C-dur aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gespielt, wäre alles in die vorschriftsmäßige Bewunderung ausgebrochen.
Wir haben in Württemberg vierstimmige Sätze zum Jugendgesangbuch herausgegeben, diese aber nicht etwa neu setzen lassen, sondern aus alten Sätzen ausgewählt. Nun ist aber die Zeit der Cantional-Sätze des 17. Jahrhunderts eine Übergangszeit von kirchentonartlichem Empfinden zu dur-moll gewesen; die Harmonik ist in dieser Zeit unsicher, schwankend, manchmal archaisch, manchmal stark "modern" (z. B. bei Schein), jedenfalls selten mustergültig; die Melodien haben Jahrhunderte überdauert, aber es ist ein rasch verblassendes, modisches Kleid gewesen, was das 17. Jahrhundert ihnen angezogen hat. Hier hätte ein produktiver Historismus einmal eine schöne Aufgabe gehabt: die historisch überlieferten Fassungen von 1600 bis heute zu prüfen und selbst eine überzeitliche Fassung zu finden. Wir sind aber die erste Zeit, die aus Historismus sich nicht einmal mehr zutraut, einen vierstimmigen Choralsatz selbst zu machen, hoffentlich sind wir auch die letzte derartige Zeit! Wir getrauen uns überhaupt nicht mehr, was wir nicht historisch belegen können ... Wenn es so weiter ginge wie in den letzten zehn Jahren, werden wir bald jede Freiheit, die gerade den älteren Zeiten selbstverständlich war, aufgegeben haben; ein Zeichen dafür sind z. B. die schulmaßigen, fantasielosen Generalbaß-Aussetzungen, die gedruckt weiden. Man entgegnet mir: "Aber wir wollen ja keinen Historismus! Es wird bei jeder Tagung (etwa in der Eröffnungs- und Schlußansprache) ausdrücklich darauf hingewiesen, daß man nicht beim Historismus stehen bleiben dürfe! Und haben wir nicht eine zeitgenössische junge Kirchenmusik, die als schönste Blüte auf dem Boden dieser Bewegung gewachsen ist?"
Eben darauf möchte ich auch zu sprechen kommen: diese neue Kirchenmusik gibt es; aber sie ist nicht unbefangen, sie ist altklug, sie ist selbst historisierend. Man hat z. B. Versuche gemacht, neue Gemeindelieder zu schaffen; diese Melodien ahmen meist das frühe 17. Jahrhundert nach; nach meinem (rein subjektiven) Urteil kann ich sie nur als mißlungen bezeichnen. Sie sind eben 100prozentig historisierend und wollen es auch sein; wurde doch in einer Besprechung der eine von zwei Autoren mehr gelobt als der andere, da dieser "noch" in dur und moll komponiere, wohingegen jener schon zu den Kirchentonarten "vorgestoßen" sei! Welche Ironie liegt (unbewußt) in diesem Urteil! Wenn man einen Rückstoß einen Vorstoß nennt und die Musikgeschichte in umgekehrter Richtung durchläuft, dann werden wir bald zu der Gregorianik als dem einzigen, amtlich zugelassenen Kompositionsstil "vorgestoßen" sein!
Aber die jungen Kirchenmusiker, die Motetten, geistliche Konzerte, Passionen, Choralpartiten und anderes schreiben? Ich gebe gern zu: da sind ausgezeichnete Begabungen darunter, die schon manchen wirklichen Vorstoß in ein Neuland versucht haben, aber sie tun das nicht von der Plattform unserer Zeit aus, sondern wiederum auf der Basis des Historismus. Vorbilder, ja manchmal direkte Modelle bieten ausnahmslos die alten Meister, und man möchte, je nach der Stellung des einzelnen, die letzten 200 oder 300 oder 400 Jahre der Musikgeschichte am liebsten überspringen. Aber, wenn schon "natura non facit saltus" (die Natur keine Sprünge macht), dann die Kunst noch weniger; es wird eben, wie etwa in der religiösen Malerei zu Anfang des 19. Jahrhunderts, ein blasses Nazarenertum aus der Nachahmung des Alten. Es ist ein heute beliebtes, Schlagwort, daß das harmonische Denken "überwunden" werden müsse, daß die Harmonie die Mustk im 19. Jahrhundert in eine Sackgasse geführt habe, daß mit Beethoven der Sündenfall der Musik beginne, daß nur eine entschlossene Umkehr den Weg "ins Freie" zeigen könne, usw.! Es ist viel Idealismus bei diesem Glauben, und vielleicht ist auch eine solche Askese für kurze Zeit notwendig und heilsam, damit in ein paar Jahren ein neues Harmoniegefühl neu erwachsen könne. Aber: wenn diese Möglichkeit besteht, dann besteht doch mindestens ebenso stark die Gefahr, im Historismus steckenzubleiben; wenn unsere reproduktive Kunstübung historisierend bliebe, wäre das nicht halb so schlimm, wie wenn auch die produktive sich auf diesem Geleise festfahren würde.
Vielfach begegnet man auf kirchlicher Seite einem Trugschluß: da im 19. Jahrhundert keine (oder wenige) große Kirchenmusik auf evangelischer Seite geschrieben worden ist, so müsse der Grund dafür in der Musik liegen; die Musik sei im 19. Jahrhundert entwertet, ihre Stilmittel seien für die Kirchenmusik von vornherein abzulehnen. Nun zeigt aber ein unbefangener Blick auf die profane Musik dieses Jahrhunderts, daß es nicht wohl angehe, die Werke der Wiener Klassiker und der Romantiker als Verfallkunst zu brandmarken: sollte das Versagen der Kirchenmusik im 19. Jahrhundert nicht von der anderen Seite her zu erklären sein, d. h. an der Ohnmacht der Kirche in dieser Zeit liegen? Daß dem wahrscheinlich so ist, lehrt uns ein Blick auf die katholische Seite, wo die Kirche nicht so geschwächt war, und die Kirchenmusik über die Messen von Haydn, das Requiem von Mozart, Schuberts und Bruckners Messen und Te Deum zwar mit Schwankungen, doch ohne abzureißen zur Gegenwart führt. Es ist auch bezeichnend, daß die historisierende Richtung der katholischen Kirche, die Cacilienvereins-Bewegung, das moderne Schaffen nicht unterbinden konnte (Bruckners bezeichnender Ausspruch: "Wann's ihnen nix einfallt, dös heißen's kirchlich"; oder Beethoven, der von Albrechtsbergers "Kunst, musikalische Gerippe zu schaffen," spricht!).
Ich fasse zusammen: alle die herrliche Wiederauferstehung alter Musik, aller Trost, alle Kraft, die sie vielen Tausenden seither wieder geschenkt hat, all das würde ich bedauern und dahingeben, wenn es um den Preis geschähe, daß wir uns von den Forderungen der Gegenwart abwenden und unentwegt nach rückwärts blicken, denn es ist ganz unmöglich, von diesem Standpunkt aus der Gegenwart gerecht zu werden. Ich weiß, der Historismus gibt einen festen, sicheren Standpunkt, und es gibt von ihm aus eine einzige, feste Blickrichtung; auch gibt es ein Gefühl der Kraft, zu wissen, wie viele da stehen und in der gleichen Richtung blicken. Man begibt sich auf einen gefährlichen, schwankenden Boden, wenn man die Plattform des Historismus verläßt; aber man gewinnt etwas Entscheidendes: das beglückende Gefühl, dem Leben näher zu sein.
Wo ist etwas von dem Umbruch und Aufbruch des deutschen Volkes seit 1933 in der evangelischen Kirchenmusik zu spüren? Wo ist ihre Verbundenheit mit der Kultur (ein abgebrauchtes Wort, aber es gibt kein anderes) der heutigen Zeit? Zu allen Zeiten versuchte die kirchliche Kunst, das Lebensgefühl der Zeit durch das, was man "Stil" nennt, einzufangen, wie sieht es heute damit? Hat der Historismus nicht die schon bestehende Kluft noch vergrößert, statt sie zu überbrücken? Ich spreche nicht von der Substanz; die soll sich nicht in moderne Aufklärung verflüchtigen; aber die "applicatio ad hominem", die Nutzanwendung auf den Menschen unserer Zeit, wo ist sie? Soweit unsere Kirchenmusik Ohren findet, die sie hören, und Herzen, die sie aufnehmen, sind es Menschen, die ebenfalls historisierend eingestellt sind. Niemand meine, ich wolle billige Vorwürfe erheben; ich will vielmehr auf das größte und schwerste Problem hinweisen, das wie ein riesiger Klotz vor uns liegt. Ich spreche deshalb so offen davon, weil allgemein so getan wird, als sei dieses Problem gar nicht vorhanden, als sei es gar kein Problem, sondern die einzig mögliche Einstellung. Vielleicht ist der Klotz zu schwer, als daß wir ihn bewegen könnten ich weiß es nicht , aber übersehen können wir ihn nicht. Erliegen wir gegen übermächtige Gewalten, dann ist unser Geschick tragisch; wollen wir sie heldenhaft anpacken und womöglich überwinden, dann müssen wir sie zuerst erkennen, auf keinen Fall aber dürfen wir der Gegenwart den Rücken drehen und immer tiefer den Kopf in die Vergangenheit stecken. Der Historismus ist nicht eine, sondern die Gefahr, der die evangelische Kirchenmusik heute zu begegnen hat.
Der vorliegende Aufsatz von Hermann Keller gibt uns wieder einmal Gelegenheit, daran zu erinnern, daß nicht jede an diesem Ort vorgetragene Ansicht unserer Auffassung von "Musik und Kirche" entspricht. So glaubten wir, gerade diesen Aufsatz unseren Lesern nicht vorenthalten zu dürfen, erachteten es allerdings für zweckmäßig, den Ausführungen Kellers sogleich eine Entgegnung folgen zu lassen. Wir sind uns jedoch klar darüber, daß in einem Aufsatz der angeschnittene Fragenkreis nicht erschöpfend beantwortet werden kann. Im übrigen wird es dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, daß diese beiden Stellungnahmen letzten Endes wohl von zwei verschiedenen Auffassungen über Wesen und Aufgabe der Kirchenmusik getragen sein dürften.
Quelle:
Musik und Kirche, 1939, S. 149 -155