1941 · Über das Choralspiel
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
(mit sieben neuen Choralsätzen des Verfassers). [*]
Wer es unternimmt, das gottesdienstliche Choralspiel zum Gemeindegesang zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, der sieht sich in der merkwürdigen Lage, daß es sich dabei einerseits um die gebräuchlichste und selbstverständlichste Sache der Welt handelt, daß aber andererseits, so viel auch in neuerer Zeit über Orgel und Orgelspiel geschrieben worden ist, doch dieses Thema geflissentlich übergangen zu werden pflegt (so, als ob man mit gutem Gewissen gar nicht darüber schreiben dürfte, da es sich dabei ja streng genommen, um eine Art "Mißstand" handle, den man wieder aufheben müsse, sobald die Zeit dafür reif sei); ja, auch in historischen Darstellungen (wie in dem großen Werk von Frotscher über die Geschichte des Orgelspiels und der Orgelkomposition) nimmt das gottesdienstliche Choralspiel einen verschwindend geringen Raum ein. Sieht man aber den Fragen, um die es sich da handelt, ins Gesicht, so kommt heraus, daß es sich wohl lohnt, sich einmal ernsthaft damit zu beschäftigen, da vieles noch ungeklärt ist.
Gehen wir von der Frage aus, ob und wann eine singende Gemeinschaft die Unterstützung und Führung durch ein oder mehrere Instrumente nötig habe? Ein kleiner geschlossener Kreis, wie ihn die Mönche eines katholischen Klosters oder, auf evangelischer Seite, die Alpirsbacher darstellen, hat keine Begleitung nötig (vollends nicht für Gregorianik). Auch ein Singkreis kann (geistliche oder weltliche) Melodien ohne Begleitung aufführen; man singt auch beim Wandern (der Soldat beim Marschieren) meist ohne Begleitung. Sobald aber eine größere, nicht in sich fest gefügte Zahl von Menschen etwas gemeinsam singen will, wird das in der Regel ohne Begleitung kläglich ausfallen; darum dient unter freiem Himmel ein Bläserchor, in der Kirche die Orgel zur Begleitung und Führung des Gesangs.
Es wäre falsch zu meinen (wie es heute meist geschieht), daß die Orgel diese Aufgabe übernommen habe, weil der Dreißigjährige Krieg die Chöre und Gemeinden so geschwächt hätte, daß sie ohne eine derartige Hilfe nicht mehr hätten singen können; vielmehr führte die Entwicklung der abendländischen Musik zwangsläufig auf diesen Punkt hin. Solche Entwicklungen vollziehen sich mit einer eisernen Notwendigkeit; es gilt nichts, wenn das, was verlassen wurde, uns Heutigen höher zu stehen scheint, als das, was begehrt wurde: Die polyphonen Sätze der Luther=Zeit mit dem c. f. im Tenor standen ganz gewiß künstlerisch und liturgisch höher als die einfachen Sätze Osianders mit dem c. f. im Sopran und ihrem schlichten Satz Note gegen Note und doch hätte damals niemand zu der "guten alten Zeit" sagen können: verweile doch, du bist so schön! Was sich da vollzog, war aber schon eine Abkehr vom reinen Chorsatz. Diese Sätze von Osiander, Vulpius, Hasler u. a. sind wohl noch für den Chor gedacht und bestimmt, aber ihrer Haltung nach sind sie bereits vierstimmige harmonische Sätze schlechthin, d. h. auf das moderne Dur/Moll=System, das moderne Kadenzgefühl, die Flüssigkeit und Leichtverständlichkeit der Stimmführung kam es an. (Daß wir in ihnen noch reizvolle Archaismen entdecken, tut diesem Urteil keinen Abbruch; man sehe sich aber daraufhin die weltlichen Lieder von Hasler an: ein Satz wie der zu "Tanzen und Springen" z. B. enthält so gar keinen Archaismus mehr, daß er im 19. Jahrhundert komponiert sein könnte, wenn man da noch so gut hätte für Chor schreiben können!) Und zu diesen vierstimmigen Chorsätzen Osianders sollte nun nach seiner Vorrede die Gemeinde einstimmig, oder, wie Gustav Bossert in der letzten Nummer dieser Blätter (Seite 64) mutmaßt, vierstimmig singen! Das muß so unbefriedigend gewesen sein, daß ich annehmen möchte, daß sich dieser Brauch gar nicht eingebürgert hat, sondern daß Chor und Gemeinde (auch Orgel, wo eine da war) weiterhin alternatim musiziert haben, - bis nach all diesen Übergangsstadien, ein fester Punkt damit erreicht war, daß die Orgel den vierstimmigen Satz spielte, zu dem die Gemeinde singen konnte.
Das Zeitalter, in dem das geschah, war das Zeitalter der konzertierenden Musik und des Generalbasses, und aus dem Hang zum Konzertieren ist wohl zu verstehen, warum die großen Komponisten sich mit einer so wenig konzertanten Aufgabe, wie dem Orgelspiel zum Gemeindegesang gar nicht abgaben. Mit zwei charakteristischen Ausnahmen: Samuel Scheidt und Joh. Seb. Bach. Scheidt schenkte uns in seinen 100 Chorälen für Orgel (dem sog. Görlitzer Tabulaturbuch) kraftvolle, zum Teil kühne Sätze, die hoch über den durchschnittlichen Generalbaßharmonisierungen der nächsten hundert Jahre stehen; Bach dagegen harmonisierte in seinen "Arnstädter Gemeindechorälen" (Peters V, Anhang: "Orgelchoräle manualiter" Nr. 1, 12, 16, 27) den Choral so extravagant modern, daß wir für eine Gemeinde, die trotz dieser dissonanten Sätze und ihren Zweiunddreißigstel=Zwischenspielen noch singen konnte, nur Bewunderung haben können! An diesem Beispiel sieht man deutlich, wie langweilig den Künstlern damals die Aufgabe gewesen sein muß, die Gemeinde "bloß" zu begleiten; sie lösten sie entweder gleichgültig und nachlässig (daher die fortgesetzten Klagen über das kirchliche Orgelspiel) oder "genialisch", was beides verwerflich war!
So ist dieser Zweig der Orgelkunst bis heute stiefmütterlich behandelt worden: außer den Scheidtschen Sätzen haben wir keine, denen man das Prädikat klassisch zuerkennen könnte. Darum wäre auch eine Übersicht über die verschiedenen Stile, in denen der Choral in den letzten zweihundert Jahren gesetzt worden ist, nicht aufschlußreich; aber wir können doch wenigstens feststellen, um was es dabei geht oder ging? Es handelt sich da um eine Reihe von Fragen:
Ob die Sätze im Stil der Gegenwart oder im Stil der Entstehungszeit des Chorals gehalten sein sollen? Ob sie gleichzeitig auch als Chorsätze verwendbar sein sollen? Ob sie auf den Ausdruck, den "Affekt" eines Liedes eingehen dürfen, oder möglichst schlicht und einfach gehalten werden müssen? Schließlich kleinere Fragen: ob es ein Satz Note gegen Note sein soll, oder ob Baß und Mittelstimmen auch in kleinerer (oder größerer ?) Bewegung gehalten sein dürfen? Ob und wann Harmoniewechsel einzutreten hat, etwa stets nach Fermaten? Ob der Satz nur vierstimmig sein darf? Und schließlich eine Frage, deren Beantwortung sich indirekt auch auf die Tonsätze auswirkt: in welchem Zeitmaß denkt sich der Bearbeiter die Choräle gesungen? (Fragen der Melodiefassung und der rhythmischen Gestalt, der Tonart u.a. gehören nicht hierher.)
Jedermann weiß, daß uns seit Anfang des 19. Jahrhunderts das historische Denken zur Selbstverständlichkeit geworden ist; bis dahin hatte jede Zeit auch den Choralsätzen den Stempel ihres Geistes aufgedrückt: die sogenannten "Bachlieder", d. h. die Lieder des Schemellischen Gesangbuches, vielfach weinerliche, kümmerliche Gebilde, würden heute niemanden mehr interessieren, wenn nicht Bach in seinen Harmonisierungen sie seines Geistes teilhaftig gemacht hätte. Umgekehrt ist es mit den meisten Kantionalen zwischen 1650 und 1750: sie schwächen die alten reformatorischen und vollends die vor=reformatorischen Lieder generalbaßmäßig ab. Dem gegenüber stehen wir heute mit unserem historischen Denken auf festerem Boden, aber er mußte erst Schritt für Schritt erobert werden; Knechts gefühlvolle Harmonisierungen waren die letzten Versuche in der subjektiven Art, - die ersten objektiv sein wollenden mußten notwendig zunächst langweilig sein: Der Choral, als "der langsamste Gesang", wurde einfach, aber fade harmonisiert. Bald aber wurde unter Führung des protestantischen Bayerns der Kampf um die Originalgestalt der Melodien, um ihre rhythmische Form, und um kraftvollere Sätze in Anlehnung an die alten aufgenommen. Eine der besten Lösungen stellte das württembergische Gesangbuch von 1912 (Heinrich Lang) dar; die Sätze darin sind (was vielleicht nicht jedem bekannt ist) im vierstimmigen strengen Kontrapunkt Note gegen Note gehalten; sie harmonisieren nicht nur, sondern kontrapunktieren in der ehrwürdigen Technik des (erstmals 1722 von J. J. Fux schulmäßig gelehrten) strengen Kontrapunkts, der bekanntlich keine Dissonanzen erlaubt, so daß im Satz Note gegen Note nur Dreiklänge in der Grundstellung und Sextakkorde zugelassen sind. Um mit einer solchen engen Beschränkung (die Lang nur an wenigen Stellen aufgegeben hat) noch etwas Brauchbares zu machen, muß man Meister sein. Trotz aller Achtung vor dieser Leistung würden wir es heute anders machen. Die alten Melodien verlieren ihre Eigenart in diesem strengen Schulsatz, bei lebhafterem Zeitmaß ist der Satz oft zu schwerfällig, außerdem verwischte Langs Tonsatz die geschichtlichen Unterschiede der Melodien zu sehr.
Die zweite Frage: ob der Orgelsatz auch zugleich als Chorsatz Verwendung finden sollte, hatte Lang bejaht. Das ist Vorzug und Schwäche zugleich: denn ein rechter Orgelsatz ist eben kein Chorsatz und umgekehrt. Darum müßte nach unserer Ansicht ein künftiges Choralbuch diese Doppelverwendung ebenso entschlossen aufgeben, wie schon Scheidt in seinen Sätzen darauf verzichtet und darum ja auch den Satz Note gegen Note aufgegeben hatte. Man sehe z. B. den Satz zu "Christus, der ist mein Leben", bei dem die Mittelstimmen in Vorhaltsketten geführt sind, während der Baß als Orgelpunkt liegen bleibt; andere dieser Sätze sind instrumental so reich geziert, daß wir Heutigen sie kaum mehr als Gemeindechoräle anerkennen würden (ob sie es je gewesen sind, entzieht sich unserer Kenntnis). Die Stilmerkmale eines Jahrhunderts, die doch nicht ganz verwischt werden sollten, können in einem reinen Orgelsatz besser erhalten bleiben als im kombinierten Orgel= Chorsatz. Darum schlagen Reformversuche, wie sie heute da und dort unternommen worden sind (z. B. von Ferdinand Schmidt in "Musik und Kirche") entschlossen diesen Weg ein; auch in der weltlichen Orgelmusik sehen wir Heinrich Spittas soeben erschienen Orgelsatz zu seiner Hymne "Heilig Vaterland" von den gleichen Grundsätzen getragen.
Zu der Frage, ob der Orgelsatz neutral oder "affektvoll" sein solle, hatte Arnold Mendelssohn in seinem Orgelbuch zu dem Deutschen Einheits=Gesangbuch einen bemerkenswerten Versuch gemacht; er versuchte, affektvoll zu schreiben, d. h. auch dissonante Harmonien zuzulassen, wenn der Ausdruck der Melodie dadurch gehoben wurde, - aber die nahezu einmütige Ablehnung, die diese Sätze fanden, zeigt doch deutlich, daß da ein falscher, zumindesten gefährlicher Weg beschritten wurde. Eine gewisse Neutralität muß der Satz ja schon deshalb haben, weil dieselbe Melodie zu verschiedenen Texten gebraucht werden kann (O Mensch bewein dein Sünde groß = Jauchz" Erd" und Himmel juble hell!); auch wo das nicht der Fall ist (bei gewissen Festliedern), wird das, was man gerne einmal hört, bald unerträglich, wenn es verewigt werden soll. Kein Organist wird so stur sein, zu allen Liedern mit gleicher Melodie und allen Versen eines Lieds denselben Satz spielen; er wird sich innerhalb gewisser, durch den guten Geschmack gegebener Grenzen! in Registrierung und Harmonisierung nach dem Inhalt dessen richten, was er zu begleiten hat, aber diese Abweichungen müssen unverbindlich und vom Augenblick eingegeben sein. Daß Melodien des 16. Jahrhunderts grundsätzlich anders zu setzen sind als solche des 19., ist eigentlich eine selbstverständliche Forderung (in Langs Sätzen bekamen Melodien des 19. Jahrhunderts oft eine Gravität, die ihnen fremd war).
Die Regel, daß mit jeder Note der Melodie die Harmonie (oder bei gleichbleibender Harmonie die Lage) gewechselt werden müsse, war nur von einer Zeit her zu verstehen, in der sehr langsam gesungen wurde; heute ist sie nicht mehr haltbar. Soll nun aber auch der vierstimmige Satz aufgegeben werden? Heute wird ja im Lager der Jugend gegen ihn Sturm gelaufen. Ich laufe mit, wenn es gilt, gegen einen gewissen, entarteten Harmonielehrsatz des 19. Jahrhunderts zu kämpfen (wenn das heute überhaupt noch notwendig ist?); der gute vierstimmige Satz wird aber die Norm bleiben, die er seit 400 Jahren ist, wenigstens solange die Dreiklangsharmonik die Grundlage unserer Musik bleiben wird, - also vermutlich noch recht lange. Der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin definierte einmal den Begriff "klassisch" als die "Mitte zwischen zuviel und zuwenig": genau das gilt vom vierstimmigen Satz. Ich spiele aber auch manchmal einen Schlußvers im real fünfstimmigen Satz; andererseits gibt es alte Melodien, die in sich schon so harmoniegeladen sind, daß sie eine vierstimmige Harmoniebelastung kaum ertragen: Der Anfang von "Christ ist erstanden" befriedigt wirklich nur im einstimmigen, andere Melodien nur im dreistimmigen Satz. Es ist darin wie bei der Sprache: unsere heutige Sprache hat wohl mehr Worte und Begriffe als vor tausend Jahren, aber jedes einzelne Wort hat weniger Gewicht und Inhalt wie damals; so haben auch diese alten lapidaren Melodien eine Gewalt und Stärke, gegenüber der wir an eine Melodie von heute gar nicht denken dürfen.
Von diesem Standpunkt aus gesehen sind eine Anzahl von Sätzen im "Sing= und Spiel=Buch" wohl für ihre Zeit gut gewesen und geben uns Heutigen ein anschauliches Bild von der Kantionaltechnik der Generalbaßzeit; wirklich vorbildlich und brauchbar sind aber nur diejenigen, die zu Melodien ebenderselben Zeit gehören; den Melodien der reformatorischen und vorreformatorischen Zeit werden sie nur zum Teil gerecht. Besonders ihre Mittelstimmen sind oft zu sehr entwertet und das zu starke harmonische Gerüst verdeckt oft den Blick auf die Melodie. Innerhalb der ihm gestellten Aufgabe hat der Herausgeber, Karl Isenberg, gewissenhaft gearbeitet und Treffliches geleistet; doch soll nicht verschwiegen werden, daß auch ein paar ausgesprochen schlechte Sätze darin stehen, wie der zu "Es ist das Heil uns kommen her" mit seinen Querständen, der steife Satz zu "Ein feste Burg" und eine Anzahl anderer.
Isenberg warnt in seinem Vorwort vor zu raschem Singen, das diese Sätze in der Tat nicht ertragen. Viele Melodien fordern aber ein beschwingteres Tempo, als die Generalbaßzeit es gewohnt war, und da unsere Gemeinden heute besser singen als vor 50 Jahren, vollends besser als vor 100, wahrscheinlich auch besser als zur Zeit Bachs (das noch kein Lob wäre!), so stellt uns diese erfreuliche Tatsache vor neue Aufgaben in der Satztechnik. Lang stellte für ausgeglichene Melodien im Jahr 1912 etwa M.=M.=60 als Norm auf; in Wirklichkeit war das Tempo damals meist langsamer; vor 100 Jahren mag es mehr als doppelt so langsam gewesen sein (!), heute wird meist 90 100, zum Teil mehr, das Gewöhnliche sein, und bei den rhythmischen Chorälen ist das Tempo noch etwas lebhafter. Damit sind wir bald an der Grenze angelangt, über die hinaus man nicht gehen kann, auch nicht zu gehen braucht, denn in ihr läßt sich der Grundsatz durchführen, der eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber fast nie verwirklicht war oder ist: daß nämlich eine zusammenhängende textliche und musikalische Phrase also eine Choralzeile auf einen Atem gesungen werden soll. Versucht man das, so entsteht gleichzeitig ein schönes, d. h. natürliches Singen: man kann die Töne nicht einzeln im forte hervorstoßen, wie es manche eifrige Kirchensänger tun, sondern muß in mittelstarker Tongebung die Melodie in ihrem natürlichen Fluß strömen lassen. Dazu brauchen wir aber neue Orgelsätze! Ich rede nicht einem wilden Experimentieren das Wort: etwa ganze Zeilen nur von organum=artigem Bässen tragen zu lassen, oder aber den c. f. der Gemeinde durch freie Oberstimmen zu übersteigern und anderes, ich will nur überhaupt die Aufmerksamkeit meiner Zeitgenossen auf diesen Punkt richten und der Einfachheit halber an den beigegebenen Notenbeispielen zeigen, wie ich selbst einige Choralmelodien begleite (besonders ältere), bei denen mich die gedruckten Sätze nicht befriedigen.
Neben der Frage der Satztechnik steht die ebenso wichtige, wie man den Gemeindegesang registrieren soll? Es gibt wohl noch hunderte von Organisten, die Sonntag für Sonntag ihren Choral mit der Walze "registrieren"; aber auch diejenigen, die das nicht tun, sind vielfach ratlos und unsicher, - schon aus dem einfachen Grund, weil sie sich selbst nie hören, da sie fast nie Gelegenheit haben, einem Gottesdienst im Kirchenschiff unten anzuwohnen. Die Vorschläge, die in manchen Choralbüchern des 19. Jahrhunderts gemacht sind, und die im großen und ganzen auf eine 8"-Registrierung hinauslaufen, können wir heute als abgetan ansehen, aber noch fehlen uns neue, bessere. Natürlich lassen sich bindende Vorschriften nicht geben, weil es nicht nur auf die Register der Orgel, sondern auch auf die Größe und Akustik des Raums, auf die Zahl der Besucher usw. ankommt und ebenso auf die Verwendung des Lieds und auf den Inhalt der Strophen. Auch, ob ein Wechsel der Registrierung durch Manualwechsel, oder durch Zuziehen oder Abstoßen von Registern oder durch freie Kombinationen bewerkstelligt wird, tut nichts zur Sache, ganz gewiß erfordert das aber ebenso viel Können, wie ein Vorspiel ordentlich zu spielen! Im allgemeinen kann man aber doch ein paar Regeln aufstellen: Nicht zu viel 8"=Stimmen! Die Gemeinde singt ja in 8"=Höhe, mit 16"=Verstärkung durch die männlichen Stimmen; Orgel und Gemeinde hören sich also gegenseitig besser, wenn die Orgel die 4"=Lage betont. Auch die Bässe seien nicht zu gravitätisch und dumpf, sondern ebenfalls obertönig registriert, so daß ihre melodische Führung deutlich zu hören ist; entgegen der meist absichtlich tiefen Führung der Bässe bei Lang würden wir daher eine mittlere Lage bevorzugen (auch wer nach dem Langschen Satz spielt, kann die Bässe da oft eine Oktave höher nehmen). Wann ist es angebracht, den c. f. hervorzuheben? Auch diese Frage kann nicht allgemein beantwortet werden. Streng genommen braucht man dafür eigene Sätze; jedenfalls wird schon mancher Spieler die Erfahrung gemacht haben, daß sich nicht alle Sätze bei Lang und meist noch weniger die des Sing= und Spielbuchs dafür eignen. Auch aus diesem Grund soll ein guter Organist sich vom gedruckten Satz unabhängig machen und in der Lage sein, seinen Satz allen diesen Bedingungen anzupassen. Sehr häufig wird ein musikalischer Pfarrer das Choralspiel eines Organisten besser beurteilen können als dieser selbst; dem Organisten bricht kein Stein aus der Krone, wenn er sich da etwas sagen läßt! Vielleicht packt aber auch einer unserer jungen Organisten das Thema "Wie soll man den Choral registrieren?" in einem besonderen Aufsatz an?
Nun noch ein paar Worte zu den sieben Choralsätzen. Nr. 1 5 und 7 sind Melodien in den Kirchentonarten, und daher wollen auch die Sätze diesen Charakter so rein als möglich herausarbeiten; das sind wir nicht nur den Melodien schuldig, sondern auch uns selbst und noch mehr den Gemeinden, die sich erst in die Kirchentonarten einhören müssen. Dafür sind aber Mischharmonisierungen des 17. Jahrhunderts ebenso wenig brauchbar wie die Sätze unseres Choralbuchs. Ferner bemühen sich alle sieben Sätze, einen flüssigeren Vortrag der Melodien zu ermöglichen; aus diesem Grund sind sie einfacher als die früheren Sätze Note gegen Note. Warum ich die ersten beiden Sätze nur dreistimmig gehalten habe, habe ich oben ausgeführt. Die Sätze wollen beileibe nichts sein als Versuche, - aber als Versuche, die es vielleicht wert sind, in der Praxis ausprobiert zu werden? Darum bitte ich die Leser, das hier angeschlagene Thema, auch wenn eine Aussprache darüber in diesen Blättern ja zunächst nicht mehr möglich sein wird, doch im Auge zu behalten, - vielleicht werden wir später einmal daran anknüpfen?
[*] Die im Untertitel erwähnten "sieben neue Choralsätze" waren dem Heft / Bibliotheksexemplar nicht beigefügt.
Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
15. Jahrgang Nr. 6, Herbst 1941 (ohne Datumsangabe)
***********************************************************************************************************
Anmerkung zur Veröffentlichung auf dieser Website:
Mit dem Heft 6, 1941 stellten die "Württembergische Blätter für Kirchenmusik" ihr Erscheinen kriegsbedingt ein.
Die Titelseite gibt darüber Auskunft.
Dieses Zeitdokument kann hier im JPG-Format angesehen werden.
Andreas Keller
***********************************************************************************************************