1942 · Johann Ulrich Steigleder

Schwäbische Lebensbilder

Stiftsorganist und Orgelkomponist 1593 1635

Das Bild der künstlerischen Persönlichkeit Johann Ulrich Steigleders ist von Tragik umschattet; nicht nur sein Leben endet tragisch, der Meister wird in seiner blühendsten Lebenskraft von der Pest hinweggerafft auch seine Stellung in der Musikgeschichte Württembergs ist nicht ohne Tragik: die Ansätze seines reichen Künstlertums konnten nicht voll zur Entwicklung kommen, da in der religiösen und musikalischen Struktur Württembergs die Voraussetzungen nicht gegeben waren.

Es hatte um 1500 am Oberrhein, am Bodensee und in Schwaben eine blühende spätgotische Orgelkunst gegeben; es sind uns zwar aus dieser Zeit keine Orgeln mehr erhalten, aber wir kennen zahlreiche Dispositionen, auch ist genügend Literatur auf uns gekommen. Diese reichen Ansätze verkümmerten jedoch vielfach im Laufe des späteren 16. Jahrhunderts und vor allem im Dreißigjährigen Krieg; die Zwinglische kirchenmusikfeindliche Richtung der Reformation hat an manchen Orten (z. B. in Ulm) sogar die Orgeln herausreißen lassen, jedenfalls auf die Weiterentwicklung der Orgelkunst hemmend eingewirkt. So kommt es, daß manche musikalisch reich veranlagte Gebiete wie Württemberg, Baden, das Elsaß und die Schweiz in der Musikgeschichte vom Ende des 16. bis zum 18. Jahrhundert eine geringe Rolle gespielt haben. Die Bedeutung Steigleders wäre für die süddeutsche Orgelkunst ähnlich einzuschätzen wie die von Samuel Scheidt für Nord- und Mitteldeutschland; während aber Scheidts Saat auf einem guten Boden reiche Früchte trug, wuchs Steigleders Lebenswerk auf der kargen Erde des Landes Württemberg in und nach dem Dreißigjährigen Krieg: Süddeutschland hat keinen Buxtehude und keinen Bach hervorgebracht. So steht Steigleder als letzter bedeutender Orgelmeister am Ende einer ehemals vielverheißenden Entwicklung, aber er greift mit seinem Lebenswerk ins Leere.

Johann Ulrich Steigleder entstammt einer alten Organistenfamilie. Sein Großvater Utz Steigleder (gest. 1581) war als Hof- und Stiftsorganist im Dienst der Herzöge Ulrich, Christoph und Ludwig von Württemberg gestanden; sein Vater, das dritte Kind von Utz, Adam Steigleder (1561 1633), hatte von Herzog Ludwig in bemerkenswerter Großzügigkeit sogar ein Stipendium erhalten, um in Rom zu studieren (1580-1583). Den durch den Tod von Utz erledigten Posten des Hoforganisten bekam der Niederländer Simon Lohet, während Adam Steigleder nach seiner Rückkehr aus Italien den Organistendienst an der Stiftskirche übernahm, den er aber nach drei Jahren schon wieder aufgab, um "wieder in fremde ort zu reisen". Im Juni 1592 heiratet er in Stuttgart "Agnes, Endrich Bauschens hinderlassene Tochter", und wird dann in Schwäbisch Hall Organist der Michaelskirche.

Dort wird ihm 1593 sein Sohn Johann Ulrich geboren (Tauftag 22. März). Im Jahre 1595 wird Adam Steigleder Münsterorganist in Ulm, wo er sich einer allgemeinen Wertschätzung erfreut. Der Sohn berichtet später in der Vorrede seiner Ricercar-Tabulatur, er sei in seiner Jugend "neben erlernung deß Instruments und Orgel Schlagens von meinen lieben vattern auch zu Organistischer Composition angehallten worden". Ob Johann Ulrich mit dem berühmten Komponisten Hans Leo Haßler, der sich damals einige Jahre in Ulm aufhielt, zusammengekommen ist, wissen wir nicht. Schon mit zwanzig Jahren wird er (1613) Organist in Lindau. Wir erfahren aus den Lindauer Ratsprotokollen, daß er ein Stelzbein hatte. Daß ihn dies an der Ausübung seines Berufes nicht hinderte, ist nur aus der Besonderheit der süddeutschen Orgelkunst zu verstehen, die das Pedal nur selten und dann meist bloß für Orgelpunkte heranzog. Doch verließ er Lindau nach drei Jahren schon wieder, um wie sein Vater und Großvater der Stuttgarter Stiftskirche als Organist zu dienen (Januar 1617). Am 21. Januar 1621 heiratete er "Chaterina, Christoph Sauselin gewesener Amtsschreiber zu Bebenhausen hinderlassene Tochter". Zwei Töchter, aber kein Sohn entsprangen dieser Ehe, so daß damit das Geschlecht der Steigleder erlosch. Seine Besoldung 50 Gulden aus dem Kirchenkasten, 60 Gulden aus der Stiftsverwaltung, dazu 11 Scheffel Getreide sowie Wein reichte bald nicht mehr aus, so daß Steigleder mehrfach genötigt war, um Zulagen und Vorschüsse zu bitten. Im Jahre 1625 zog sein Vater, der in den Ruhestand getreten war und dem die Ulmer 150 Gulden Pension gewährten, zu ihm. Die Stiftsmusik war bei Steigleders Amtsantritt (wie öfters in ihrer Geschichte) in beklagenswertem Zustande; Steigleder sollte ihr aufhelfen. So wurden 6 Instrumentalisten verpflichtet, die vor allem den Chorgesang (und wohl auch den Gemeindegesang?) stützen sollten. Auch zur Hofmusik wurde Steigleder herangezogen. Ferner bildete er zahlreiche Schüler aus (auch darin seinem Hallenser Kollegen Scheidt ähnlich), und es ist nicht ausgeschlossen, daß sich auch Johann Jakob Froberger (geb. 1616 in Stuttgart) einige Zeit darunter befand. (Siehe dessen Lebensbild in Band 1.)

Die beiden großen Kompositionswerke, auf Grund derer wir in Steigleder nicht nur einen der vielen begabten beamteten Musiker seiner Zeit, sondern einen Komponisten von Bedeutung sehen, und die ihm bald einen Ruf über die Grenzen des Landes hinaus verschafften, sind ein Tabulatur-Buch mit 12 Ricercaren und eines mit 40 Choralvariationen über "Vater unser im Himmelreich"; sie waren 1624 bzw. 1627 im Druck erschienen, das erste also im gleichen Jahr wie Scheidts Tabulatura nova. In den folgenden Jahren aber bekam Württemberg die unheilvollen Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges immer stärker zu spüren, und ganz besonders wurde davon natürlich die Kunstpflege betroffen: die Hofkapelle wurde 1628 stark eingeschränkt und 1631 ganz aufgelöst. Steigleder blieb zwar Stiftsorganist, aber verarmte infolge der Geldentwertung. Der unglückliche Ausgang der Schlacht von Nördlingen (1634) hatte auch für Stuttgart furchtbare Folgen; das Land kam unter österreichische Herrschaft, die Stiftskirche wurde den Jesuiten übergeben, die Stiftsmusik aufgelöst. Seuchen und Elend herrschten in der Stadt, und einer der 4000 Bürger Stuttgarts, die im Jahr 1635 an der Pest starben, war der erst 42 Jahre alte Stiftsorganist Johann Ulrich Steigleder. Sein Todestag ist der 10. Oktober 1635.

Steigleders Hauptwerk, das Ricercar-Tabulaturbuch von 1624, führt wie Scheidts Tabu1atura nova den Namen "Tabulatur" insofern zu Unrecht, als man darunter die Anwendung einer Buchstaben- oder Ziffer-Schrift versteht, wogegen sowohl Steigleder wie Scheidt ihre Werke in moderner Notenschrift herausgaben, Steigleder auf zwei Systemen, Scheidt in Partitur. Vier dieser Ricercare sind durch Emsheimer und mich in einer Neuausgabe wieder allgemein zugänglich gemacht worden. Sie zeigen, wie Steigleder die Form des Ricercares, d. h. der mehrteiligen und mehrthemigen Fuge, wohl in ihrer Mannigfaltigkeit bestehen läßt, aber doch zu vereinheitlichen bestrebt ist: ein Mittelteil verläßt das Hauptthema, der Schlußteil "sucht" es wieder (daher der Name dieser Form) und stellt es bisweilen in imposanter Themenkombination, in Engführung, Verkleinerung usw. dar. Auch stimmungsmäßig sind diese Werke heute noch ansprechend und von großer Vielseitigkeit; bei guter Wiedergabe vergißt man die dreihundert Jahre, die uns von dieser Musik trennen.

Das zweite Tabulaturbuch: vierzig Variationen über das Lutherlied "Vater unser im Himmelreich", das "Gebett aller Gebett und Gesang aller Gesäng", wie es Steigleder nennt, hat als Ganzes heute für uns geringeres Interesse. Das Werk bezeugt tiefe Religiosität und mag vorwiegend lehrhaften Zwecken gedient haben. Ans heutigen, die den Maßstab Bachscher Vergeistigung auch an die Choralwerke des Frühbarock anzulegen pflegen, kommt vieles darin leer und formelhaft vor, was, richtig gedeutet, Ausdruck einer "Lust am Fabulieren", einer Freude an der Variation als solcher ist.

Darüber hinaus sind von Steigleder noch zwei Vokalkompositionen zu nennen, schlichte, Note gegen Note gesetzte Vertonungen der deutschen Übersetzungen des Athanasianischen und des Nicänischen Glaubensbekenntnisses, die auf Anregung des Stuttgarter Generalsuperintendenten und Stiftspredigers Magnus Daniel Hitzler entstanden sind und in dessen 1634 in Straßburg im Druck erschienene "Musicalisch figurierte Melodien" aufgenommen wurden. Einige weitere Kompositionen Steigleders scheinen verlorengegangen zu sein.

So ist es kein abgeschlossenes Lebenswerk, das Steigleder uns hinterlassen hat, aber schon das Wenige genügt, um ihm als einem der kernigsten Vertreter des süddeutschen Frühbarocks einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der deutschen Orgelkunst zu sichern und ihn als den bedeutendsten württembergischen Orgelmusiker der letzten Jahrhunderte erkennen zu lassen.

Werke. Ricercar Tabulatura. Organis et Organaedis unice inserviens etc. Anno MDCXXIV. Das einzige erhaltene Exemplar ist auf der Landesbibliothek Stuttgart. Hieraus im Neudruck: Vier Ricercare für Orgel, herausgegeben von Ernst Emsheimer (J), für den praktischen Gebrauch eingerichtet von Hermann Keller. Kassel 1928. Tabulatur Buch, darinnen daß Vatter unser auff 2, 3 und 4 Stimmen Componirt und viertzig mal Varirt würdt... Straßburg 1627. Ein Exemplar in der Bibliothek zu Wolfenbüttel. Hieraus im Neudruck Nr. 37 und 40 1. Teil bei A. G. Ritter: Zur Geschichte des Orgelspiels, vornehmlich des deutschen, im 14. bis zum Anfange des 18. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 139 141. Leipzig 1884.

Literatur. Ernst Emsheimer (J): Johann Ulrich Steigleder. Sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Geschichte der süddeutschen Orgelkomposition. Kassel 1928. Dieser Dissertation folgt unsere Darstellung im biographischen Teil. Dem Quellen- und Literaturverzeichnis dort (S. 97 - 100) ist nachzutragen: Gotthold Frotscher: Geschichte des Orgelspiels und der Orgelkomposition, Bd. 1, S. 310 315. Berlin 1935.
Hermann Keller



Quelle:
Schwäbische Lebensbilder, Kohlhammer Verlag, Stuttgart
Sonderdruck aus Band 3, 1942