1947 · J. P. Sweelinck. Werken

voor Orgel en Clavecimbel

Amsterdam 1943; neue, vermehrte Ausgabe von Max Seiffert.

Als ersten Band der Gesamtausgabe der Werke von Sweelinck hatte Max Seiffert 1894 die Orgel- und Klavierwerke herausgegeben; nun legt er ein Halbjahrhundert später eine zweite Ausgabe im doppelten Umfang vor. Dem auf bestem Papier gedruckten, vorzüglich redigierten Band sieht man wahrlich nicht an, daß er in der zweiten Hälfte des Weltkrieges in Holland erschienen ist die Tatsache, daß da nebenher auch noch Krieg war, ist auf eine Weise ignoriert, auf die wir stolz sein dürfen.

Man kann dem greisen Max Seiffert, der jetzt irgendwo sein Leben fristet, für diese Herausgabe gar nicht dankbar genug sein; gibt sie uns doch ein ganz neues, überraschendes Bild des Meisters, der wie kein anderer die Hochblüte der norddeutschen Orgelkunst im 17. Jahrhundert hat heraufführen helfen. Sweelinck und sein südlicher Antipode Frescobaldi sind ihrer geschichtlichen Bedeutung nach längst gebührend eingeschätzt -, aber wie selten werden sie gespielt! Nun aber besitzen wir endlich Sweelincks gesamtes Werk für Tasteninstrumente und könnten jetzt daran gehen, es uns zu erwerben, um es wirklich zu besitzen!

Die große Überraschung der neuen Ausgabe sind die 24 Variationsreihen über evangelische Choräle. Sie lehren uns, daß die Geschichte des deutschen Orgelchorals und aller seiner Formen nicht mit Samuel Scheidt, sondern mit Sweelinck beginnt. Im reformierten Amsterdam konnte dieser solche Arbeiten natürlich nicht brauchen, er schrieb sie also für seine deutschen Schüler und teilweise in Gemeinschaft mit ihnen. So sind von den 17 Variationen über "Allein Gott in der Höh sei Ehr" nur die ersten vier von Sweelinck selbst, die folgenden von seinen Schülern (Andreas Düben, Peter Hasse, Gottfried Scheidt u.a.). Wie weit sich S. Scheidt über seinen Lehrer hinaus entwickelt hat, müßte Gegenstand einer besonderen Untersuchung sein; hier soll nur auf die Schönheit mancher Bearbeitungen Sweelincks hingewiesen werden. Ich stehe z. B. nicht an, den ersten Vers von "Herr Christ, der einig Gottes Sohn" für die schönste Vertonung dieses Chorals zu halten, die wir überhaupt besitzen. Von den freien Stücken interessiert uns vor allem ein "Präludium pedaliter" in F-Dur, wohl als Organo Pleno-Stück zur Eröffnung des Gottesdienstes gedacht, in zwei Fassungen überliefert (je etwa 95 Takte), von denen die eine vom Schüler entworfen, die andere vom Lehrer verbessert zu sein scheint; wenn wieder einmal eine Sammlung freier gottesdienstlicher Vorspiele erscheinen sollte, so darf dieses Stück darin nicht fehlen.

Der übrige Inhalt des Bandes bringt zu dem seither bekannten Bild Sweelincks keine neuen Züge bei: Die Zahl der großen mehrteiligen Fantasien ist von 9 auf 13 vermehrt, zu den Liedvariationen tritt ein Heidelberger Studentenlied ("More palatino bibimus"), das wohl studierende Niederländer nach Holland brachten, die Zahl der Variationen über Tänze ist auf fünf gestiegen (3 Pavanen, 1 Balletto, 1 Passamezzo). Vor allem gilt es nun, das stillschweigende, aber fast allgemeine Urteil zu widerlegen, diese Musik sei trocken und formalistisch: sie ist unsentimental, aber voll von Leben und Gesundheit und entbehrt auch des Gefühls nicht.
Hermann Keller

Quelle:
?, 1947