1948 · Etwas über die Orgel

ETWAS ÜBER DIE ORGEL
von
HERMANN KELLER

Du trittst auf einer Wanderung in eine Dorfkirche ein und läßt dich von der Stille und Ruhe des Raumes umfangen. Da erklingen Orgeltöne, der Organist bereitet sich auf den sonntäglichen Gottesdienst vor. Er ist kein Künstler, auch das Instrument ist kein großes Kunstwerk, und doch erfüllen die Klänge den Raum, sie beseelen ihn, sie tauen die "gefrorene Musik" der Architektur wieder auf. Vielleicht hattest du ein paar Tage vorher in einem großstädtischen Konzertsaal einen berühmten Virtuosen auf einer modernen Konzertorgel gehört und warst weniger beeindruckt, vielleicht warst du auch einmal im Radio oder sonstwo von der Kinoorgel angewidert gewesen. All dies so sehr Verschiedene soll unter dem Ehrennamen einer Orgel begriffen werden? Denn, wenn die Orgel auch zu Christi Zeiten ein weltliches Zirkusinstrument gewesen war, auf dem Nero den Ehrgeiz hatte, zu glänzen, so ist sie doch, seit sie zur Zeit Karls des Großen aus Byzanz herübergebracht worden war, das ganze christliche Mittelalter hindurch bis zu unserer Zeit untrennbar mit der Kirche verbunden geblieben, mit der Kirche als Bauwerk, wie mit der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen und ihren Gottesdiensten. Es war nur ein Ausdruck der Totalität der christlichen Kultur, wenn die kleine Orgel, das Positiv, auch in der Hausmusik eine Rolle spielte. Mit dem Niedergang des kirchlichen Lebens zu Ende des achtzehnten und im neunzehnten Jahrhundert mußte auch die Orgel niedergehen: zu den meist phantasielosen Kirchenbauten des 19. Jahrhunderts mit ihrer ärmlichen Einrichtung, ihren ärmlichen Gottesdiensten (besonders in der evangelischen Kirche) paßte die ärmlich gewordene Kirchenorgel des 19. Jahrhunderts. Und während in früheren Jahrhunderten große Meister den Beruf eines Organisten ausgeübt hatten, wurde er jetzt fast nur noch nebenamtlich verwaltet, und das natürlicherweise, denn die Organistenstellungen waren entsprechend ihrer gesunkenen Bedeutung schlecht, ja unwürdig schlecht bezahlt.
Gegen Ende des Jahrhunderts beginnt aber nach so langem Darniederliegen eine erst langsame, dann immer entschiedenere Aufwärtsbewegung des Orgelbaus, des Orgelspiels und der Orgelkomposition. Der Siegeszug der Technik zu Ende des Jahrhunderts ergreift auch den Orgelbau, er läßt in der "modernen Orgel" ein kompliziertes, hochdifferenziertes Instrument erstehen, dem Karl Straube der erste kongeniale Spieler ist. Die Literatur für dieses Instrument schreibt Max Reger; seine großen Orgelwerke stellen technische Anforderungen, für die erst eine neue Organistengeneration erzogen werden mußte. Zugleich begann in diesen Jahrzehnten jene gewaltige Renaissance-Bewegung alter Musik, die bis heute unvermindert anhält; sie ergriff die Orgel mit ganz besonderer Stärke, galt es doch, den Schatz der verschüttet gewesenen Meisterwerke Bachs und seiner Vorgänger zu heben. Wie soll man Bach auf einer modernen Orgel spielen? Diese Frage stellte als Erster mit leidenschaftlichem Ernst Albert Schweitzer und kam dabei zu einer Ablehnung des Typs der "modernen" deutschen Orgel. Das Feuer, das er angefacht hatte, loderte nach dem ersten Weltkrieg hell auf, als man bei uns anfing, die erhaltenen Orgeln des 17. und 18. Jahrhunderts zu studieren, die man bis dahin meist als altes Gerümpel angesehen hatte, das abgebrochen werden mußte! Nun auf einmal hatte man Ohren, zu hören: diese alten Orgeln klangen viel gewichtiger, stolzer, edler, und ihre zarten Stimmen gelassener als die "modernen". Mit dieser Erkenntnis, die sich in wenigen Jahren fast blitzartig durchsetzte, fing die "deutsche Orgelbewegung" an. Sie stellte neue, umstürzende Theorien des Orgelbaus und des Orgelklangs auf, sie erzog Spieler und Hörer zu einem ganz neuen Hören, sie schuf erst die klangliche Voraussetzung zur stilechten Wiedergabe der Werke von Buxtehude, Pachelbel, Lübeck, Scheidt, Sweelinck, Prätorius und anderer Meister.
Es ist aber unmöglich, auf einem erreichten Punkt stehen zu bleiben, auch wenn dieser noch kurz vorher als ersehntes Ziel vor Augen gestanden war. Das Leben geht weiter. Wohin wird die Entwicklung die Orgelkunst, die seit zwei Jahrzehnten auf einmal wieder im Vordergrund des Interesses steht, treiben? Auch hier scheint der erste Vorstoß von der stets weiterdringenden Technik zu kommen. Man sieht heute in der Technik nicht mehr, wie in den Anfängen der Orgelbewegung, den Feind, der bekämpft werden muß, sondern den Diener, dem man sagt, was er tun soll. Der deutsche Orgeltyp der Zukunft wird die handwerkliche Sorgfalt und klangliche Schönheit der Barockorgel mit den Fortschritten der Technik in der Einrichtung des Spieltisches zu vereinigen wissen.

Aber auch das ist kein Endpunkt: während wir hier in Deutschland darüber diskutieren, ob wir uns mehr historisierend oder mehr fortschrittlich einstellen wollen, ist in den USA eine radikale Neuerung ausprobiert und sofort industriell ausgewertet worden: die elektro-akustische Orgel, d. h. die Orgel ohne Pfeifen, die Hammond-Orgel. Auf deutschen Versuchen (Trautonium) weiterbauend, ist hier ein Instrument geschaffen worden, das mit einer Orgel nur die Spieltisch-Anlage von zwei Manualen und Pedal gemeinsam hat, im übrigen aber etwas völlig neues darstellt. Die Klangfarben, die der lebendige Ton auf natürliche Weise bietet, werden synthetisch hergestellt durch beliebige Mischung des Grundtones mit seinen Obertönen. So wie es der Chemie heute möglich ist, einen Veilchenduft fast täuschend herzustellen, so lassen sich heute elektrische Wellen über Selenzellen in Schallwellen umwandeln, die fast täuschend einen Naturklang nachzuahmen vermögen. Das neue Instrument hat große Vorzüge: es ist einfach, billig, raumsparend, hat fast unbegrenzte klangliche Möglichkeiten. Das, was wir Seele nennen, hat es noch nicht. Ob auch die Seele synthetisch hergestellt werden kann, wir wissen es nicht. Doch "was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?" So lauschen wir inniger doch dem Dorforganisten beim Einüben des sonntäglichen Orgelspiels!

Quelle: unbekannt. Kopie eines Druckes (Satzspiegelformat 8,7 x 14 cm) Seiten 440 443.
Handschriftlich vermerkt am Kopf: 1948