1949 · Das silberne Zeitalter der dt. Musik

Stuttgarter Zeitung

Ist es nicht merkwürdig, daß ein Ereignis von so großer Bedeutung wie der Tod von Richard Strauß in der Oeffentlichkeit nicht mehr als nur eine flüchtige Beachtung gefunden hat? Sollte das nicht tiefere Gründe haben als den oft, und allzu oft leichtfertig beklagten Mangel an Geistigkeit unserer Zeit, ein Vorwurf, den sich übrigens fast jedes Zeitalter gefallen lassen mußte? Aber in Wahrheit hatte Strauß seine musikgeschichtliche Sendung lange vor seinem Tod schon vollendet; wäre er, wie Max Reger, im ersten Weltkrieg auf der Höhe seines Schaffens gestorben, so hätten wir heute kein wesentlich anderes Gesamtbild von ihm, denn er hat sich zwar noch drei Jahrzehnte auf der Höhe seines Ruhms und seiner Leistung behauptet, ist aber über diese nicht mehr hinausgewachsen. Dagegen ist die Zeit in einem fast atemberaubenden Tempo über ihn hinweggegangen, hat ihn überholt, ja auf eine grausame Weise überflüssig gemacht; er wurde nach dem ersten Weltkrieg kein Führer der Neuen Musik, kein Vorbild der jungen Generation, die vielleicht gar nicht ermessen kann, was für ein "Fürst der Musik" mit Strauß dahingegangen ist, die nicht weiß, daß mit seinem Tod eine musikgeschichtliche Periode unwiederbringlich dahin ist, die man mit Recht als das "silberne Zeitalter" der deutschen Musik bezeichnet hat (nach dem goldenen der Klassiker). Strauß hat Geschichte nicht nur erlebt, sondern selbst gemacht, und das mehr als ein anderer deutscher Komponist der Zeit nach Wagner.

In seinen Anfängen ist er konservativ. Der frühreife, auffallend begabte Knabe, der, 1864 in München geboren, in wohlhabender, etwas spießiger Bürgerlichkeit aufwächst, nie ein Konservatorium besucht hat, komponiert schon mit 16 Jahren Werke wie die Bläserserenade und die Cellosonate, Arbeiten, deren sich weder Mendelssohn noch Schumann hätten zu schämen brauchen. Hans von Bülow holt ihn nach Meiningen, in die Hochburg der "Brahminen", aber gerade dort erlebt er durch Alexander Ritter, den Schwiegersohn Richard Wagners, seine Bekehrung zur neudeutschen Schule. Für kurze Zelt segelt er nun im Fahrwasser der Wagner-Epigonen, dichtet und komponiert eine Oper "Guntram", voll bepackt mit Wagnerschen und Schopenhauerschen Erlösungs-Ideen (die Oper fällt natürlich durch), findet aber bald zu sich selber. Aeußerlich ist von nun an sein Lebensweg über die Stationen München, Weimar, Berlin und schließlich Wien ein einziger steiler Aufstieg zu Ruhm und Reichtum. Als Künstler wendet er sich zunächst der Form der symphonischen Dichtung zu. Was Berlioz und Liszt begonnen hatten, das führt Strauß an Erfindungskraft beiden überlegen, zur Vollendung und zum Abschluß: Don Juan, Tod und Verklärung, Till Eulenspiegels lustige Streiche, um nur diese drei zu nennen, sind Meisterschöpfungen, die für die deutsche Musik ebensoviel bedeuten wie das etwa zur selben Zeit entstandene "Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns" von Debussy für Frankreich. Dann sinkt aber die Höhenlinie, erst langsam über das "Heldenleben" mit seiner naiven Selbstverherrlichung und die "Sinfonia domestica" (in der 105 Musiker das höchst banale Familienleben von Strauß in drei Sätzen Mann, Frau, Kind "darzustellen" haben), dann rascher bis zu dem massiven Gefühls-Materialismus der Alpensymphonie, und damit ist es vorläufig aus mit der symphonischen Dichtung.

Zwischen symphonischer Dichtung und Oper liegen die Lieder. Die meisten sind in Berlin entstanden, dieser rasch aufstrebenden Weltstadt, zu deren glänzendsten Exponenten auch Richard Strauß sich zählen durfte; einige sind geniale Eingebungen, bei den meisten aber tragen Dichtung und Musik doch allzudeutlich das Gepräge der wilhelminischen Aera.

Die Erfüllung seines künstlerischen Strebens fand Strauß in der Oper. In Richard Wagner sah er einen unübersteigbaren Gipfel, "aber ich umging ihn", bekannte er selbst. In der Salome (1905, Dresden) nimmt er das Drama Oskar Wildes (ein bis dahin unerhörter Fall) ohne die geringste Aenderung als Text für eine Musik von einer Farbigkeit, Kühnheit und Schlagkraft, die bis dahin noch niemand gewagt hatte, und die später nur noch von Strawinsky in seinem "Feuervogel" erreicht worden ist. In weitem Abstand war damals die "Salome" die modernste Musik, die es gab und man kann verstehen, daß die Hüter der Tradition die Grundfesten der Musik erschüttert glaubten. "Elektra" setzte diesen Stil fort, aber mit viel geringerem Erfolg: der vornehme Klassizismus Hoffmannsthals reichte nicht aus, diesen Stoff zu bezwingen, und wenn auch beide Königstöchter sind eine Elektra ist eben keine Salome. Mit Hoffmannsthal blieb Strauß nun viele Jahre in Freundschaft verbunden: Strauß der sinnlichere, stärkere, Hoffmannsthal der geistigere, kultiviertere das gab einen guten Zusammenklang. Im "Rosenkavalier" gelang ihnen ihr größter Publikumserfolg; wie Wagner in den "Meistersingern" das Nürnberg des 16. Jahrhunderts, so lassen hier Dichter und Komponist das Wien der Maria Theresia vor uns erstehen, eine Verherrlichung Alt-Wiens (seither bis zur Unerträglichkeit in Operette und Film verkitscht), unter Verzicht auf jede "Modernität", mit einer wohlig genießerischen Musik, die manchmal den Niederungen Puccinis schon bedenklich nahe kommt. Aehnlich wie "Elektra" zur "Salomo" verhält sich "Arabella" zum "Rosenkavalier". Auch sie wurde kein Erfolg, obwohl Kenner sie mit ihrer dunkleren Tönung dem "Rosenkavalier" vorziehen. Nennen wir noch "Ariadne auf Naxos", 1912 in Stuttgart zur Einweihung des Kleinen Hauses uraufgeführt, ein Wunderwerk kammermusikalischer Kunst (das Orchester besteht aus 31 Soloinstrumenten), so ist die Reihe der "klassischen" Opern von Strauß damit beschlossen. Wenn auch jenen beiden Opern kein voller Erfolg beschieden war und sie mehrfach umgearbeitet werden mußten, so lag das an der überspitzten Ironie der Handlung. Die Oper als Gattung ist unbarmherzig: daß ein dramatisch lahmer Stoff niemals durch eine gute Musik aufgewogen werden kann, zeigen dreihundert Jahre Operngeschichte.

Bei den Opern, die Strauß in den letzten dreißig Jahren bis zu seinem Tod noch geschrieben hat, stehen wir vor der seltsamen, ja erschütternden Feststellung, daß keine von ihnen sich die Bühne erobert hat, daß die meisten nur einen knappen Achtungserfolg errungen haben, einige bisher kaum oder gar nicht zu hören waren: die "ägyptische Helena", die "Frau ohne Schatten", die schweigsame Frau", "Dafne", "Capriccio", der "Friedenstag" u. a. Werden wir diese Werke überhaupt noch zu hören bekommen? Wohl kaum. Die meisten leiden an dem unheilbaren Uebel eines dramatisch zu schwachen oder zu künstlich verknoteten Textes. Dazu kommt, daß es Strauß in seinem Alterstil wohl zu einer Abglättung (Dafne), aber nicht zu der Vertiefung gebracht hat, wie wir sie bei den großen Meistern finden. Und schließlich: an der stürmischen Entwicklung, die nach 1909 einsetzte und heute noch andauert, nahm Strauß nicht teil.

Er war sich selbst genug und zog sein eigenes, sicher fahrendes Auto dem ratternden Schnellzug des musikalischen Fortschritts vor. So wird in den leidenschaftlichen Diskussionen der letzten Jahrzehnte um die Neue Musik sein Name kaum genannt. Aber brauchen wir denn den ganzen Strauß? "Mit so viel Gepäck kommt niemand auf die Nachwelt", mit nur einem Dutzend vor dem ersten Weltkrieg geschriebenen Werken geht Strauß in die Unsterblichkeit ein. Bekanntlich hat Brahms einmal gesagt: "Unsterblichkeit ist ja ganz schön wenn man nur immer wüßte, wie lange sie dauert?" Diese Frage bei Strauß stellen, heißt, die Frage nach dem ethischen Wert seiner Musik aufwerfen. Kann der Mensch Strauß, der als überlegener, kühl rechnender Geschäftsmann in seinem Leben sich einige Millionen verdient hat, in seiner Kunst ein Hüter ewiger, unsichtbarer Werte sein? Sind nicht Mozart, Schubert, Wolf und viele andere in Armut gestorben? Der Strom der Musik fließt so tief unter dem Alltag, daß die Einheit von Mensch und Künstler stets gefordert und selten erfüllt in der Musik noch schwerer zu beweisen ist, als in den anderen Künsten. Ueberlassen wir dieses Urteil ruhigen Herzens der Zukunft: sie wird recht richten.



Quelle:
Die Brücke zur Welt
Sonntagsbeilage zur Stuttgarter Zeitung, 29.10.1949