1949 · Musikerziehung 2

Musikerziehung

Urtextausgaben oder Bearbeitungen?

Urtext: das ist der Notentext, so wie ihn der Komponist zur Veröffentlichung bestimmt hat (das ist nicht immer die Fassung der Urschrift, an der er bisweilen zum Druck noch kleine Veränderungen und Verbesserungen vorgenommen hat); wenn nun wie es zu einer Zeit, da noch kein Urheberschutz existierte (besonders im 18. Jahrhundert) häufig vorkam ein anderer Verleger einen Raubdruck herausbrachte, so kamen da wohl Ungenauigkeiten und Nachlässigkeiten vor, aber niemand wäre es eingefallen, zum Text selbst irgend welche Zusätze zu machen. Erst im beginnenden 19. Jahrhundert, als das Dilettantentum in der Musik, besonders im Klavierspiel, immer weiter um sich griff, als die im 18. Jahrhundert noch selbstverständliche Tradition im Gefolge des radikalen Stilwechsels in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts fast völlig verloren gegangen war, mußte man der veränderten Lage Rechnung tragen und der neuen Schicht eines spielfreudigen, aber recht wenig vorgeschulten Dilettantentums zu Hilfe kommen, ihr durch Fingersätze, Metronom-Angaben, Artikulation, Dynamik und anderes den Vortrag möglichst genau und eindeutig vorschreiben. Dies galt besonders für die ältere Musik Bach mit seinen Zeitgenossen und Vorgängern , bei der bekanntlich eine Bezeichnung über den reinen Notentext hinaus in der Regel völlig fehlt. Diese Bearbeitung geschah meist durch Praktiker, Klavierspieler und Klavierlehrer, und ohne jeden historischen oder stilistischen Skrupel. Es braucht dafür nur auf die Ausgabe der Bachschen Klavierwerke hingewiesen zu werden, die von 1837 ab, von Karl Czerny redigiert, in der Edition Peters erschien und den meisten praktischen Bachausgaben des 19. Jahrhunderts als Vorbild gedient hat, während die Organisten etwa zu gleicher Zeit die vortreffliche Urtextausgabe von Griepenkerl (gleichfalls in der Edition Peters) als Geschenk erhielten, aus der sie noch heute spielen, trotz der inzwischen erschienenen bearbeiteten Ausgaben von Homeyer, Naumann, Straube, Keller, die der Vorherrschaft der Urtextausgabe nie den Rang streitig machen konnten. Warum dieses völlig entgegengesetzte Verhalten der Verbraucherschicht im Falle der Klavier- und Orgelmusik? Die Antwort muß lauten: weil die Organisten trotz des Verfalls der Orgelkunst nach Bachs Tod eine festgeschlossene Gilde darstellten, in die sich kaum ein "reiner Tor" hineinverirrte, während im Klavier die Laien tonangebend waren, und auch die erfolgreichen Berufspianisten vielfach über eine recht lückenhafte Bildung verfügten. Der Konflikt dieser ganz auf die Gegenwart eingestellten modernen Bezeichnungen mit dem Geist des Originals wurde erst gegen Ende des Jahrhunderts empfunden und immer stärker gefühlt, als die rasch aufblühende Musikwissenschaft den Zugang zu den Quellen frei legte, als man begann, zu erkennen, daß jeder Kompositions-Stil auch einen ihm entsprechenden Stil in der Wiedergabe fordert. So kam man zunächst, ich möchte sagen aus Gewissensgründen, zu einer größeren Ehrfurcht vor dem Original; aber noch ein zweiter Gesichtspunkt trat dazu: der ästhetische. Jeder Komponist hat sein zu ihm gehörendes Notenbild: Bach sieht anders aus als Haydn, dieser anders als Beethoven, Schubert anders als Chopin usw.; alle diese wesentlichen Unterschiede pflegen aber von einer "instruktiven Ausgabe" erbarmungslos übertüncht zu werden, so wie Wandmalereien früherer Zeiten später oft unbedenklich überstrichen wurden. Beispiele bieten die Bachausgaben von Ruthardt, ferner die einen Gipfel der Abgeschmacktheit darstellenden sogenannten Akademischen Neuausgaben von Germer (Littolf), die Phrasierungs-Ausgaben von Hugo Riemann, die instruktiven Ausgaben der Edition Cotta (besonders Haydn und Mozart) und viele andere. Um 1900 schien die Flut der Bearbeitungs-Ausgaben aufs höchste gestiegen zu sein, zugleich aber traten auch die Gegenkräfte auf und es erscholl, zuerst zaghaft, dann immer lauter, der Ruf nach Urtextausgaben.

Wenn im folgenden die Frage der Berechtigung oder gar Notwendigkeit der Urtextausgaben geprüft werden soll, so ist zu unterscheiden zwischen einer im Original völlig unbezeichneten und einer vom Komponisten ausreichend und bewußt bezeichneten Musik. Die zeitliche Grenze zwischen beiden ist fließend, sie liegt etwa zwischen 1740 und 1780. Völlig unbezeichnet ist fast die ganze Orgel- und Klaviermusik des Barock, ebenso der größere Teil der Kammermusik; in dem Übergangszeitalter zur Wiener Klassik finden wir zwar bei Philipp Emanuel Bach schon eine äußerst differenzierte Bezeichnung, der kein Herausgeber etwas hinzuzufügen vermöchte, dagegen in manchen Frühwerken von Haydn und Mozart oft eine ausgesprochene Nachlässigkeit, bei der eine Ergänzung jedenfalls nicht als Verbrechen angesehen werden könnte. Von den ersten Werken Beethovens ab ist aber die Bezeichnung des Vortrags so vollständig und stark persönlich, daß es durch nichts gerechtfertigt erscheint, wenn moderne Herausgeber glauben, dem noch etwas hinzufügen zu dürfen; dasselbe gilt von der ganzen Literatur nach Beethoven. Und doch: wie viele Bearbeitungen durch berühmte Pianisten haben sich Beethovens Klaviersonaten gefallen lassen müssen, desgleichen Chopin (von dem die wenigsten Menschen eine authentische Ausgabe auch nur gesehen haben), ja selbst Brahms, nachdem er frei geworden war! In manchen Fällen ist der Bearbeiter immerhin so gewissenhaft, seine Zusätze durch kleineren Druck oder durch Einklammerung als solche zu kennzeichnen, aber Hand aufs Herz! würden wir irgend etwas vermissen, wenn sie fehlen würden? Sie sind nicht nur unnötig, sondern auch schädlich und unschön: schädlich, weil sie den Spieler am Gängelband führen und ihn jeder Entdeckerfreude berauben, also seine Phantasie lähmen, unschön, weil sie das charakteristische Notenbild des Komponisten stören (das ebenso wie Melodie und Rhythmus zum Wesen des Komponisten gehört!) und in fast allen Fällen das Notenbild überladen. Es soll also die Regel gelten: in der klassischen und neueren Musik von Beethoven ab sind Zusätze von Herausgebern nicht nur überflüssig, sondern grundsätzlich abzulehnen. Gehören Fingersätze auch dazu? Man pflegt die Frage zu verneinen. Nehmen wir die Ausgaben der Edition Peters als Beispiel, so sind dort die Werke für Klavier allein befingert, nicht dagegen die Kammermusikwerke mit Klavier (Violinsonaten, Trios usw.), und man hat nicht gehört, daß bei den letzteren dieser Mangel jemals beklagt worden wäre, vielleicht bekäme jemand den Mut, auch einmal klassische Klavierwerke ohne Fingersätze herauszugeben?

Schwieriger ist die Frage, wie unvollständig und nachlässig bezeichnete Werke herauszugeben seien. Mozart hat weite Strecken seiner Klavierkonzerte unbezeichnet gelassen, weil er dem Solisten die Freiheit der Gestaltung lassen wollte; dieselbe Freiheit hat der heutige Spieler, und wer ein Mozart-Konzert spielt, sollte so weit sein, diese Freiheit recht zu gebrauchen. Wenn aber in der kleinen "Sonate facile" in C-Dur im Urtext gar nichts steht, so kann man vom Anfänger nicht erwarten, daß er die fehlenden Bezeichnungen richtig ergänze. Hier und in anderen Fällen kann also nur der Takt und das Feingefühl des Herausgebers entscheiden.

Wieder anders liegen die Dinge bei der älteren Musik. Hier sind so viele Traditionen untergegangen (man denke nur an den Wechsel von Klavichord und Cembalo zum Hammerklavier), daß auch der gebildete Spieler nur ganz selten die Voraussetzungen mitbringt, aus einer völlig unbezeichneten Ausgabe zu spielen. Er spielt, wenn er das versucht, meist mit zu wenig Ausdruck, weil er das für stilvoll hält; er kennt den Deklamationsstil des Barock nicht und glaubt, "linear" spielen zu müssen. Man sehe z. B. das technisch leichte, viel gespielte Präludium f-moll im zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers: in den 5 letzen Takten ist ein cresc. bis zum F auf dem verminderten Septakkord nötig, dann Cäsur und piano-Schluß; ohne Bezeichnung werden das nicht viel Spieler herausfinden. Nachdem man viele Jahrzehnte Bach zu modern, romantisch differenziert, gespielt hat (man denke an Regers Bachspiel!), fällt man heute vielfach ins andere Extrem; aus diesem Grund scheint mir heute die Zeit noch nicht gekommen, für eine allgemeine Einführung von Urtext-Ausgaben Bachscher Werke zu plädieren; vielleicht aber sind wir schon in 10 20 Jahren so weit? Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es ja von den meisten großen Meistern wissenschaftliche Gesamtausgaben, so von Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Schubert usw. (leider steckt die Haydn-Ausgabe noch in den Anfängen). Diese Urtext-Ausgaben mit kritischem Revisionsbericht sind aber für den praktischen Gebrauch viel zu teuer und meist nur in öffentlichen Bibliotheken zu finden. Von den Urtextausgaben für die Praxis ist wohl die älteste und berühmteste die des Wohltemperierten Klaviers durch Franz Kroll (Peters). Leider enthält sie Fingersätze, die m. E. in einer Urtextausgabe nicht stehen dürften, wenn sie nicht vom Komponisten selbst sind. Auch hält die Text-Revision Krolls den heutigen Ansprüchen nicht mehr ganz stand (besonders in der Frage der Verzierungen), ebenso ist die Verteilung der Stimmen auf die beiden Systeme nicht immer ganz glücklich. Diese kleinen Abstriche sollen aber den außerordentlichen Wert dieser Ausgabe nicht in Frage stellen. Weiter ist die von der Berliner Akademie der Künste veranstaltete Urtextausgabe klassischer Meisterwerke zu nennen (Breitkopf & Härtel, 1895 und später), die leider heute kaum mehr aufzutreiben ist. Sie enthielt u. a. die sechs Sammlungen für Kenner und Liebhaber von Philipp Emanuel Bach. In neuerer Zeit ist besonders der Verlag Peters mit einigen bedeutsamen Urtextausgaben Bachs hervorgetreten: die Inventionen gab Philipp Landshoff, der vor einigen Jahren verstorbene Musikforscher, in einer wohl für alle textkritischen Ausgaben der Zukunft vorbildlichen Weise heraus (aber auch mit zum Teil anfechtbaren Fingersätzen), ebenso das Musikalische Opfer; Kurt Soldan gab die vier Teile der Klavierübung (die Partiten, das Italienische Konzert und die Französische Ouvertüre, die vier Duette und die Goldberg-Variationen) sowie die sechs Flöten-Sonaten im Urtext heraus, Wilhelm Weismann die Brandenburgischen Konzerte. Hoffentlich wird die so verheißungsvoll begonnene Reihe bald fortgesetzt werden!

Nach dem Zusammenbruch, nach der Vernichtung so vieler Bestände wird heute noch stärker als früher die Forderung nach Original-Ausgaben erhoben. (Unter Originalausgaben werden hier nicht nur Urtext-Ausgaben verstanden, sondern auch solche, die bei sparsamer Bezeichnung den Urtext deutlich erkennen lassen.) Rascher als man zu wagen gehofft hatte, sind solche Ausgaben auf den Plan getreten: der Bärenreiter-Verlag gab die sechs Sonaten von Bach für Violine und obligates Cembalo im Urtext heraus, ein außerordentlich verdienstvolles Unternehmen, da die seitherigen praktischen Ausgaben (Breitkopf, Peters) strengeren stilistischen Ansprüchen nicht mehr genügten, eine neue Edition Henle (Duisburg und München) gab soeben Mozarts Klaviersonaten im Urtext heraus, mit einer vorzüglichen Einleitung von Otto Irmer und Fingersätzen von Walter Lampe,- im selben Verlag gab Gieseking die Impromptus und Moments musicaux von Schubert, ebenfalls im Urtext, aber mit Anweisungen zum Vortrag (im Anhang) heraus. Zuletzt darf ich noch als Selbstanzeige ankündigen, daß in der Edition Cotta beide Teile des Wohltemperierten Klaviers von mir redigiert erschienen sind und die Inventionen in Kürze erscheinen werden; der Urtext ist deutlich kenntlich gemacht und die Zusätze des Herausgebers sind so sparsam wie möglich. Diese summarische Aufzählung möge genügen, besonders da auf das eine oder andere der genannten Werke später hier ausführlicher eingegangen werden wird, wenn erst genügend Erfahrungen aus der Praxis vorliegen, wie sich die Ausgaben bewährt haben.

Eines wird aber deutlich geworden sein: daß wir uns seit 1900, dem höchsten (oder tiefsten?) Punkt der Bearbeitungs-Ausgaben, in einer rückläufigen Bewegung mit dem Ziel auf Urtextausgaben hin bewegen. Daß wir das tun können, zeigt, wie hoch gegenüber dem 19. Jahrhundert die allgemeine musikalische Bildung gestiegen ist. Dazu kommt die gänzlich veränderte innere Haltung des Menschen: während um 1900 der Individualismus Trumpf war, ist der heutige Mensch genormt; er will eine Objektivität der Wiedergabe, die persönliche Willkür möglichst ausschließt. Schallplatte und Rundfunk verstärken diese Haltung, die ebenso positiv wie negativ gewertet werden kann, aber in dem hier behandelten Thema sich positiv auswirkt. Trotzdem ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Was für ein Armutszeugnis stellen wir uns doch aus, wenn wir zugeben müssen, daß weit über 90 Prozent aller Musiker (auch der konzertierenden!) aus irgend einer beliebigen Ausgabe spielen, die sie gerade besitzen und sich die Frage nach dem Urtext überhaupt noch nie gestellt haben! Hier ist eine große Erziehungsarbeit notwendig und es wird in den Spalten der "Musikerziehung" immer wieder die Rede davon sein müssen. In der Literatur ist die Epoche der kommentierten Klassikerausgaben glücklicherweise vorbei wann wird dasselbe in der Musik der Fall sein?

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RUF UND ECHO

1. Stellungnahmen des Lesers: Dem Leser wird Gelegenheit gegeben, zu dem Inhalt der einzelnen Hefte Stellung zu nehmen, Anregungen zu geben und Fragen zu stellen. Veröffentlicht werden solche Einsendungen, die von allgemeinem Interesse sind und auf Wunsch des Einsenders zur Diskussion gestellt werden sollen.

2. Fragen und Antworten: Sie können künstlerische, technische und methodische Einzelfragen an den Herausgeber und an die Schriftleitung richten, die dem speziellen Mitarbeiter zugeleitet und von diesem beantwortet werden. Die Fragen können sich auf Schwierigkeiten beziehen, denen Sie beim Einstudieren eines Klavierwerkes, einer Geigen- oder Gesangskomposition usw. begegnen; es können auch Fragen aus der Kompositionslehre sein. Bei genauer Angabe der Stelle (Taktangabe, evtl. Notenbeispiel) einer Klavierkomposition beispielsweise erhalten Sie auf Ihre Frage eine analytische, methodisch instruktive Antwort in bezug auf Stil, Zeitmaß, Rhythmus, Fingersatz, Pedalgebrauch und Ausdruck. Durch Hinweise, wie geübt werden kann, soll dem Interessenten eine praktische Hilfe zur Überwindung von Schwierigkeiten gegeben werden. Die Antworten werden an dieser Stelle in ausführlicher Form und wenn nötig mit Notenbeispielen veröffentlicht.

3. Förderung des künstlerischen Nachwuchses: Junge, begabte Komponisten können aufführungsreife, auch noch nicht gedruckte Werke zur Begutachtung einsenden. Veröffentlicht werden nur solche Besprechungen, die geeignet sind, dem begabten Komponisten den schweren Weg in die Öffentlichkeit zu erleichtern.
Außerdem wird an dieser Stelle auf außerordentlich begabte junge nachschaffende Künstler aufmerksam gemacht, vorausgesetzt, daß ihre Leistungen über dem Durchschnitt stehen.

Der Herausgeber



Anmerkung zur Internet-Veröffentlichung:
Als Herausgeber der "Musik-Erziehung" zeichnen Dr. Kurt Zill und ("Unter Mitarbeit von") Hermann Keller]

Quelle:
Musikerziehung, Heft 2, Jahrgang 1949, Rudolf Horn Verlag K.-G. Heidelberg
S. 12 14 / 29