1949 · Über Bachs Bearbeitungen

aus dem "Hortus musicus" von Reinken

Die Klavier-Bearbeitungen Bachs von Sonatensätzen Reinkens sind von der Forschung bis jetzt wenig beachtet worden: Spitta (I, 692) hielt diese Sonaten noch für Originale; erst 1881 wurden sie als Bearbeitungen aus dem "Hortus musicus" erkannt, dieser selbst wurde 1886 durch C. M. van Riemsdyk im Neudruck veröffentlicht, Bachs Bearbeitungen 1894 in Jahrgang 42 der B. G. (S. 29 54) mitgeteilt. Seither sind sie in der Bach-Literatur wenig erwähnt worden,(*1) noch weniger haben sie Eingang in die Praxis gefunden.
Formal stellen die sechs 1686 erschienenen Triosonaten für zwei Violinen, Viola da Gamba und bezifferten Baß eine merkwürdige Mischung von Sonaten- und Suiten-Elementen dar: einem dreigeteilten Präludium Adagio, fugiertes Allegro, recitativisches Adagio folgen die vier feststehenden Suitensätze Allemande, Courante, Sarabande, Gigue. (Reinken numeriert die Sätze einzeln durch, so daß die zweite von Bach bearbeitete Sonate mit "6", die dritte mit "11" beginnt, woraus in der Ausgabe der B. G. das Mißverständnis entstanden ist, es handle sich um Bearbeitungen der 11., bezw. 6. Sonate.) Bach hat die erste Sonate ganz, von der zweiten nur Präludium und Allemande, von der dritten nur das fugierte Allegro übertragen. Das einleitende Adagio verziert er reich in hochbarocker Weise, geringer wenngleich interessant genug sind die Abweichungen in den ersten drei Suiten-Sätzen, während die fugierte Gigue der ersten Sonate durch Einführung einer vierten Stimme wesentlich umgearbeitet wird. Die Haupt-Überraschung bieten aber die drei Fugen; sie sind keine Umarbeitungen sondern völlige Neuschöpfungen; wir haben also drei große Klavierfugen von Bach mehr, als bis jetzt angenommen worden war! Man versteht leicht, warum Bach es hier nicht bei einer Umarbeitung bewenden ließ. Reinkens fugierte Allegro-Sätze bringen das Thema pausenlos, abwechselnd in Tonika und Dominante und in einem stets gleich dichten Satz; dreißig Jahre später mußte diese Technik einem Fugenmeister wie Bach allzu primitiv vorkommen, so daß er vorzog, ganz neue Fugen zu komponieren. Als er erst auf den Geschmack gekommen war, lockte ihn die bloße Bearbeitung der teilweise trockenen Kompositionen Reinkens nicht mehr sonderlich: er ließ schon die zweite Sonate unvollendet und entnahm der dritten nur noch das Fugenthema. Schon zweimal vorher war er in ähnlicher Weise verfahren, als er über Allegro-Themen von italienischen Triosonaten Fugen für Tasten-Instrumente schrieb: das Doppelthema der Sonata da chiesa h-moll (op. 3, Nr. 4) von Corelli liegt der bekannten Orgelfuge h-moll (Pet. IV, Nr. 8) zu Grunde, über das Thema der h-moll-Triosonate op. 1 von Albinoni schrieb er eine große, bedeutende Klavierfuge (B. G. 36, S. 178). Vielleicht entstammt auch das noch nicht ermittelte Thema der Legrenzi-Orgelfuge in c-moll (Pet. IV, Nr. 6) einer Triosonate? Corellis Satz zählt 39, Bachs Fuge 102 Takte, bei Albinoni sind es 36, bei Bach 112 Takte! Vielleicht darf man es aussprechen, daß beide Fugen nur deswegen nicht ganz befriedigen, weil sie im Verhältnis zu den aufgewendeten Mitteln zu lang geraten sind? Straffer ist die Formgebung der drei Reinken-Fugen Bachs:
Reinken: a-moll-Fuge: 50 Takte C-dur-Fuge: 47 Takte B-dur-Fuge: 50 Takte
Bach: 85 Takte 97 Takte 95 Takte

Diese großen konzertanten Klavierfugen tragen einen ganz anderen Charakter als die Fugen des Wohltemperierten Klaviers. Sie setzen eine Reihe fort, die mit dem Capriccio E-dur, der Schlußfuge des Capriccios B-dur und den großen Schlußfugen der Toccaten beginnt, worauf nach den Fugen über Themen von Albinoni und Reinken die Entwicklung sich mit zwei großen a-moll-Fugen fortsetzt: der bekannten im 3/4-Takt, deren Thema mit dem Allegro-Thema des achten Konzerts nach Vivaldi eine auffallende Ähnlichkeit hat und die später noch einmal zu der großen Orgelfuge in a-moll (Pet. II, Nr. 8) umgebildet wurde, und der stark konzertmäßigen, streckenweise auf Stimmigkeit überhaupt verzichtenden a-moll-Fuge (12/16), die später zum Finale des Tripelkonzerts umgearbeitet wurde. Den krönenden Schlußstein dieser Entwicklungsreihe bildet die Fuge zur Chromatischen Phantasie; nach ihr hat Bach keine großen Klavierfugen mehr geschrieben, wenn man nicht das dreistimmige Ricercare aus dem Musikalischen Opfer (1747) als einen, freilich völlig anders gearteten, späten Nachkömmling dieser Gattung ansehen will. Da die Chromatische Phantasie wohl schon zur Zeit der g-moll-Phantasie für Orgel, also etwa 1720 entstanden sein dürfte, so sind die Reinken-Fugen wahrscheinlich etwas früher, also schon vor dem bekannten Zusammentreffen von Bach und Reinken in Hamburg anzusetzen. Sie zeigen in ihrer Gliederung in Haupt- und Nebensätze und ihrer Auflockerung des Satzes Bach bereits als Meister der Form; daß sie sich harmonisch in engeren Bahnen bewegen als die Fugen des Wohltemperierten Klaviers, ist vielleicht auf das Vorbild Reinkens zurückzuführen. Nicht nur die Bearbeitungen nach Reinken, sondern sämtliche instrumentalen Übertragungen Bachs bieten der Forschung noch eine Reihe von bisher wenig genutzten Ansatzpunkten. Besonders auffallend ist der große Qualitäts-Unterschied zwischen so manchen ziemlich handwerksmäßig gemachten Transkriptionen und anderen, geradezu genialen Neuschöpfungen. Bearbeitet hat Bach nur fremde homophone Musik; wo er auf fugierte Sätze stieß, zog er es vor, über deren Themen eigene Fugen zu schreiben. Es sei der Wunsch ausgesprochen, daß die Bachforschung sich dieses Gebietes über die Arbeiten von Waldersee und Schering hinaus annehme, und daß insbesondere nun die drei Reinken-Fugen (*2) endlich auch gespielt werden mögen!

(*1) J. Müller-Blattau hat in seinen "Grundzügen einer Geschichte der Fuge" zwei Fugen einer eingehenden Analyse unterzogen.

(*2) Sie erschienen inzwischen im Bärenreiter-Verlag Kassel unter dem Titel: J. S. Bach, Drei Fugen für Klavier über Themen von Johann Adam Reinken, herausgegeben von Hermann Keller, BA 474.



Quelle:
IGfM Kongressbericht, 1949, S. 160 + 161