1950 · Neue Musik als Spiegel der Zeit
Musica
Als Seitenstück und Ergänzung zu dem Aufsatz von Werner Oehlmann "Ein halbes Jahrhundert" (Heft 1,1950) bringen wir hier einen Beitrag des Direktors der Stuttgarter Musikhochschule, die Zusammenfassung eines Vortrags, den Prof. Keller zur Eröffnung der "Studienwoche für Neue Musik" an der Stuttgarter Hochschule im Januar 1950 gehalten hat.
Wenn ein Musiker sich auf das weite Gebiet der Kultur-Philosophie begibt, wird er dem Vorwurf standhalten müssen, er spreche von Dingen, die er nicht verstehe und die ihn nichts angingen, Schuster, bleib bei deinem Leisten! Aber der Schuster, der Schuhe macht, der macht sie nicht nur um der Schuhe, sondern um der Menschen willen, und der Musiker macht seine Musik ebenfalls um der Menschen willen; und wenn er feststellt, daß die Musik in unseren Tagen im Begriff ist, sich einschneidend zu verändern, so wird er sich fragen, ob die Verwandlung der Musik nicht eine naturnotwendige Folge der Verwandlung des Menschen sei? Wir meinen dabei den Menschen von heute, den "Mann von der Straße" ebenso wie den Mann von der Forschung und den Künstler, der sich außerhalb seiner Kunst oft recht wenig von dem Mann auf der Straße unterscheidet. Es handelt sich also um einfache Beobachtungen, wie sie jedermann machen und nachprüfen kann, aber vielleicht führen von da aus doch Verbindungslinien zur Musik, die hier nicht von ihrer Eigengesetzlichkeit her, sondern nach ihrer soziologischen Verbundenheit betrachtet werden soll.
Vergleichen wir den Menschen von heute mit der Generation vor dem ersten Weltkrieg, so fällt uns zunächst auf, um wieviel disziplinierter der heutige Mensch, besonders der Großstadtmensch ist. Er hat sich, schon allein im Straßenverkehr, in überfüllten Verkehrsmitteln, beim Schlangestehen eine Disziplin anerzogen, die von keiner früheren Generation gefordert worden ist. Damit hängt zusammen, daß er durch die unzähligen Verordnungen des Ernährungsamts, Arbeitsamts, Wohnungsamts, durch Krieg, Kommiß, Gefangenschaft, Lagerleben usw. in einem Maße genormt worden ist, daß man von dem überwiegenden Teil der heutigen Stadtbevölkerung sagen kann, daß die so abgestempelten Menschen mehr gelebt werden als leben.
Diese Disziplin und Normung hat in der Musik vor allem den Stil der Wiedergabe einschneidend verändert. Man fordert vor allem Werktreue, bevorzugt Originalfassungen, man lehnt selbst geniale subjektive Auffassungen, die noch vor einem halben Jahrhundert so hoch im Kurs standen, ab. Diese Entpersönlichung, die zunächst weder positiv noch negativ bewertet werden soll, wird verstärkt durch den immer größeren Einfluß der modernen Klangübertragungs-Verfahren, Schallplatte, Rundfunk, Filmmusik. Diese Normung hat eine immer weiter ausgreifende Nivellierung zur Folge: die Unterschiede von Großstadt, Mittelstadt und Land verwischen sich, wenn die Menschen dieselben Rundfunkprogramme hören, dieselben Schallplatten kaufen, dieselben Illustrierten durchblättern; ja auch Unterschiede der Landschaften werden mehr und mehr aufgehoben: ein Zeitungskiosk in Oberbayern sieht kaum anders aus als einer im Rheinland, sind doch neuerdings wenigstens in Deutschland auch die konservativsten Landschaften durch den Einstrom der Flüchtlinge mit anderen Mundarten, Sitten und Gebräuchen überflutet worden. Eine Gutsfrau in der Nähe von Stuttgart erzählte mir, daß ihre sudetendeutschen Flüchtlinge in den ersten Monaten noch ihre heimischen Volkslieder gesungen haben, seit einem Jahr aber (sie fahren in die Fabrik und verdienen gut) endgültig zum Schlager übergegangen sind.
Des weiteren steht dem heutigen Menschen eine Technik zu Gebote wie nie zuvor; der Entwicklung von der Pferdebahn zur Elektrischen, vom Auto zum Flugzeug entspricht in der Musikindustrie die von der Spieldose zum Plattenspieler, vom "Kinematographen" zum Tonfilm und zur Television, vom Musikinstrument zur elektrisch erzeugten Musik. Wie hat der Mensch auf diese ungeheuren Fortschritte reagiert? Er hat sie sehr bald als selbstverständlich angesehen, hat sie benutzt, ohne über sie nachzudenken, ist automatisch anspruchsvoller geworden, ohne aber innerlich mitzukommen. Ja, das Mißverhältnis von Technik und Mensch hat den Durchschnittsmenschen, so paradox es klingen mag, primitiver gemacht: die Fortschritte der Astronomie sind schwindelerregend, aber die meisten Städter kennen nicht einmal den Abendstern oder wissen kaum mit den Mondphasen Bescheid. Man darf ohne Übertreibung sagen, daß heute ein großes, mit allem Raffinement ausgestattetes Auto gescheiter (und anspruchsvoller!) ist als der Mensch, der darin sitzt. Man kann im Auto Tagesausflüge von Hunderten von Kilometern machen, erlebt aber weniger als zur Zeit Mörikes auf einem Abendspaziergang. Der technisierte Mensch freut sich nicht mehr, sondern läßt sich von einer hochentwickelten Amüsier-Industrie in Schwung bringen; auch der Schmerz wird in unseren modernen Krankenhäusern durch die Vervollkommnung der medizinischen Technik in weitestem Maße überwunden.
Diese Vorherrschaft der Technik zeigt sich in der Musik vor allem in der Reproduktion, an die unbarmherzige Maßstäbe von Exaktheit und Zuverlässigkeit angelegt werden. Auf fast allen Gebieten, besonders aber bei Klavier, Orchester und Chor sind die technischen Anforderungen heute bedeutend höher als vor fünfzig Jahren. Ebenso selbstverständlich verlangt man heute vom Komponisten eine Beherrschung seines technischen Rüstzeugs: Diskrepanzen zwischen einer hohen Intuition und einer mangelhaften Ausarbeitung, wie sie sich z. B. in den Werken von Berlioz, aber auch manchmal bei Schubert und Schumann finden, würden heute nicht mehr geduldet werden. Aber auch hier ist die entscheidende Frage, ob der Komponist den gesteigerten technischen Ansprüchen, die er zu erfüllen hat und erfüllt, innerlich gewachsen ist.
Diese so hoch getriebene Technik hat dem Menschen nicht nur in der Beherrschung der Naturkräfte, sondern auch in geistiger Beziehung neue ungeahnte Reiche erschlossen: der Relativitäts-Theorie und der Quanten-Theorie in der mathematischen Physik entspricht die außerordentliche Erweiterung des Begriffs der Tonalität in der Musik, die vorübergehend als völlige Gesetzlosigkeit, als Anarchie, als Atonalität empfunden wurde. Der Satz von Schönberg "Die Atonalität von heute ist die Tonalität von morgen" spricht mit aller Deutlichkeit aus, daß neue Gesetze bereits wirksam sind, aber von der Allgemeinheit noch nicht erkannt werden. Dasselbe läßt sich von der gegenstandslosen Malerei sagen, während es in der Dichtung zu ähnlich extremen Konsequenzen nur in vereinzelten Ausnahmefällen gekommen ist.
Der Musikverstand, die außerordentlich gesteigerte Kombinationskraft haben zu einer Erweiterung des musikalischen Terrains geführt, die ohne Beispiel in der Musikgeschichte ist. Vorläufig durchziehen noch keine gebahnten Straßen dieses riesige Neuland, in das jeder Entdecker und Forscher sich seinen eigenen Weg zu bahnen sucht. Noch nie sind so viele einander widersprechende Lehren gleichzeitig miteinander entstanden, wie sie die Kompositions- und Kontrapunktlehren von Paul Hindemith, Ernst Pepping, Matthias Hauer, Olivier Messiaen und anderen darstellen.
Eine Folgeerscheinung der Normung und Technisierung des Menschen ist, daß er leichter als in früheren Zeiten der Propaganda unterliegt. Auch deren Mittel sind besonders durch den Rundfunk, mit oder ohne Großlautsprecher, ins Riesenhafte gesteigert worden; durch Propaganda großer Verlage, führender Konzertdirektionen, gewandter Publizisten können heute in kurzer Zeit Prominenzen "gemacht" oder wieder der Vergessenheit ausgeliefert werden.
Die emotionelle Seite des heutigen Menschen, Unmittelbarkeit und Wärme seines Empfindens, ist geringer entwickelt als in früheren, glücklicheren Zeiten. Er hat in Kriegs- und Nachkriegszeiten so viel Grausames erlebt, daß er einen Panzer um sein Herz legen mußte. Der Mensch, der sich seinem Gefühlsleben hingibt ("Aus meinen großen Schmerzen mach' ich die kleinen Lieder"), ist ihm verächtlich. Und darf man es aussprechen, daß es heute auch weniger Liebe gibt als früher, daß z. B. in den großen Romanen der Gegenwart die Liebe, die seit alters bewegendes Moment war, nur eine untergeordnete Rolle spielt? In der Musik war um 1920 die Reaktion gegen das "Gefühl" heftiger als in allen anderen Künsten, und auch heute gibt sich ein großer Teil der modernen Musik betont empfindungskühl. Wenn die Musik (nach Liszt) nur "die Kunst des Gefühls schlechthin" wäre, würde das ein Todesurteil bedeuten (und in den Augen vieler Menschen, zumal der älteren Generation, ist es eines); da die Musik aber noch aus anderen, konstruktiven Kräften lebt, bedeutet es in Wirklichkeit zunächst nur eine Verlagerung des Schwerpunkts, eine Tendenz zu objektiver Haltung.
Endlich findet auch die allgemeine Irreligiosität unseres Zeitalters, die sich in zwei Weltkriegen entladen hat, in seiner Musik in großem Umfang ihren Niederschlag. In einer angesehenen Zeitschrift war neulich zu lesen, daß Messiaen mit seiner betont christlichen Haltung wohl einzig unter den heutigen Komponisten dastehen dürfte.(!) Auch Adorno meint, ein Satz wie "Euch werde Lohn in besseren Welten" könne heute nicht mehr gesprochen und komponiert werden. Ist dem aber wirklich so? Religiöse Strömungen neigen dazu, unter der Oberfläche zu verlaufen, und auch die heutige Musik kennt solche Unterströmungen: die außerordentlich starke, von außen gesehen unbegreifliche Pflege der älteren Musik, besonders Johann Sebastian Bachs, in unserer Zeit ist nur von dem tiefen Bedürfnis der Menschen her zu verstehen, in dieser entgötterten Welt einen Halt zu finden, aus diesem Dasein widerwillig ertragener Zwangsordnungen wieder zu einer höheren Ordnung zurückzufinden, zu einer Musik, die noch Abbild der göttlichen Harmonie ist. Und von daher strömen auch der Neuen Musik Kräfte zu, wie allein im Umkreis der deutschen Musik die Namen Johann Nepomuk David, Hugo Distler, Ernst Pepping und eine Reihe anderer beweisen. Über das Heute hinweg schlägt das Gestern eine Brücke zum Morgen.
Und nur so wird auch "der Verlust der Mitte" wieder zu überbrücken sein, an dem unser ganzes Musik- und Kulturleben auseinanderzubrechen droht: die tieferen, menschlichen und kultischen Kräfte der Musik müssen uns helfen, die Auseinandersetzung mit den normierenden und technisierenden Kräften der Zeit zu bestehen. Die Musikanschauung von heute wird von einem sowohl tieferen wie breiteren Fundament getragen als je zuvor. Die Revolution der modernen Musik hat keineswegs die Fundamente erschüttert sie ruhen zu tief , sondern lediglich die Oberfläche verändert. Sedlmayer hat die wichtige und treffende Bemerkung gemacht, daß die neue Kunst, besonders Musik und Malerei, deswegen so im Vordergrund des Interesses stehen, weil an ihnen der Zustand unserer Zeit abgelesen werden kann, und nicht nur der Gegenwart, sondern auch der nächsten Zukunft, da die in ihr wirkenden geistigen Kräfte die Zukunft bilden werden; und George Orwell hat in seinem Roman "1984" (abgedruckt in der Zeitschrift "Der Monat", Heft 14 ff.) gezeigt, wie die Welt schon in wenigen Jahrzehnten aussehen könnte, wenn diese Kräfte völlig ausgeschaltet würden: er zeichnet das düstere, aber durchaus im Bereich des Möglichen liegende Bild einer völlig entseelten Welt, einer völlig versklavten Menschheit! An uns ist es, dies Schicksal abzuwenden, indem wir uns bemühen, den kostbarsten geistigen Humus der Welt, die Substanz des abendländischen Menschen, vor weiterer Erosion zu bewahren, sie vielmehr zu erhalten und zu mehren.
Quelle:
Musica 4, 1950, S. 194 - 197