1952 · Von der musikalischen Artikulation

Zeitschrift für Hausmusik

Ein Beitrag zu der Frage, wie man unbezeichnete Musik spielen soll

Der jetzigen Generation ist es eine Selbstverständlichkeit geworden, alte Musik aus unbezeichneten Ausgaben zu spielen: so, wie der Komponist sie aufgezeichnet hat, also ohne Angabe des Zeitmaßes, der Stärkegrade und anderer Vortragszeichen, und ohne Angabe der Artikulation. In meiner Jugend waren solche Ausgaben äußerst selten und eigentlich nur dem Wissenschaftler zugänglich (Gesamtausgaben, Denkmälerbände), der praktische Musiker musizierte dankbar und kritiklos aus den bearbeiteten Ausgaben großer Verlage, und auch unter den Berufsmusikern haben damals viele nicht gewußt, daß beispielsweise die "Klavierbegleitung" zu den Violinsonaten von Händel nicht von Händel komponiert, sondern vom Herausgeber verfertigt worden war. Heute ertönt allenthalben der Ruf nach Urtextausgaben, nicht nur für alte Musik, sondern auch für die Wiener Klassiker, die durch Bearbeiterzutaten willkürlich entstellt worden waren. Diese Forderung war zuerst von der Singbewegung aufgestellt und in ihren Liederbüchern verwirklicht worden. Der Bärenreiter-Verlag und der Georg Kallmeyer-Verlag stellten sich an die Spitze dieser immer mehr erstarkenden Bewegung und brachten Chor- und Instrumentalsätze alter Meister grundsätzlich ohne Zutaten des Herausgebers: die Spieler dieser Musik sollten sich in das Werk einarbeiten, wie ein gut geleiteter Singkreis sich eine Motette von Schütz allmählich erarbeitet. Hier stieß man aber auf Grenzen, die sich aus dem Unterschied von chorischem und instrumentalem Musizieren ergaben: der Chor kann und soll sich der Führung seines erfahrenen Leiters anvertrauen, die Kammermusikspieler aber bilden eine Republik ohne sichtbares Haupt: der Chor singt sich langsam in ein Werk hinein, der Kammermusikkreis will es sich rascher, meist mit ein bis zwei Proben erarbeiten. Und wie sollen die fehlenden Vortragsanweisungen ergänzt werden? Hier stehen die Spieler vor Fragen, die mit dem Gefühl allein nicht zu lösen sind. Welches Zeitmaß ist das richtige, welche Dynamik, welche Stricharten? Wer sich Belehrung darüber in den Büchern über Aufführungspraxis älterer Musik von Schering und Haas sucht, erfährt, daß alles noch viel verwickelter ist, als er gedacht; liest er gar Philipp Emanuel Bach oder Quantz oder Heinichen oder für die Frühzeit des Generalbasses Michael Praetorius, so wird er völlig verwirrt von der Fülle der da gezeigten Möglichkeiten: der Interpret darf fast alles (wenn er es kann!), der Notentext gibt nur den Anhalt zur Wiedergabe. Fest steht nur das eine: so wie sie da steht, ist die alte Musik nicht gespielt worden! Nachdem wir sie von romantischer Verfälschung befreit hatten und glaubten, sie in ihrer edlen Einfalt und stillen Größe wieder entdeckt zu haben, erfahren wir, daß dem Spieler dieser Musik eine viel größere Freiheit, aber auch Verantwortung gegeben ist, als bei der Musik der Wiener Klassiker und des 19. Jahrhunderts. Selbst wo Bezeichnungen stehen, können sie mißverstanden werden: so heißt z.B. in der Generalbaßzeit ein "Adagio" am Schluß eines Allegrosatzes nur "etwas ruhiger", es ist beileibe kein Beethovensches "Adagio". Ein anderes Beispiel: Bach schreibt in seinen Arien bei jedem Ritornell "forte", beim Einsatz der Singstimme "piano". Es ist klar, daß damit nur dem Orchester, das ohne genügende Proben spielen mußte, zugerufen wird: "deckt die Singstimme nicht zu!" Da es aber "so dasteht", so kann man selbst bei sehr guten Aufführungen, der Werktreue zuliebe, wie der Dirigent meint, alle Orchester-Vor- und -Nachspiele in einem sturen forte hören!

Aber nicht davon soll ich nach dem Wunsch der Schriftleitung sprechen, sondern von der Artikulation. Was ist denn das? Es ist das, was die Geiger durch die verschiedenen Stricharten ausdrücken, was viele Musiker auch heute noch fälschlich "Phrasierung" benennen, nämlich die Bindung bzw. Trennung der Töne, wie sie uns durch die Begriffe legato, non legato, staccato, portato geläufig ist. Das ist etwas ganz anderes als die Phrasierung: die Aufgabe der Phrasierung ist dieselbe wie die der Interpunktionen in der Sprache, sie grenzt die musikalischen Satzteile gegeneinander ab; es gibt also im allgemeinen nur eine richtige Phrasierung, aber viele Möglichkeiten der Artikulation. Die Phrasierung ist verantwortlich für den Sinn einer musikalischen Phrase, die Artikulation für den Ausdruck. "Was ich sage", das hat die Phrasierung zu verdeutlichen, "wie ich es sage", das hat die Artikulation zu bestimmen. Beide sind also gleich wichtig, aber im Wesen völlig verschieden.

Gerade für die ältere Musik ist die Artikulation, durch die erst die melodische Linie ihr Leben erhält von besonderer Bedeutung. Bei einer Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier kommt es mehr auf die lebendige Artikulation als auf Zeitmaß oder Dynamik an. Nur ein sehr kleiner Teil der älteren Musik ist mit Artikulationszeichen versehen, aus denen wir wichtige Rückschlüsse auf die Ausführung der unbezeichneten Musik machen können. Es gibt noch weit verbreitete Mißverständnisse, so z.B., wenn die französische Schule annimmt, daß Bachs Orgelwerke durchgängig legato zu spielen seien, da in ihnen jede Bezeichnung fehlt. Hier lassen aber die bezeichneten Stimmen Bachs (besonders obligate Stimmen zu Kantaten-Arien) genügend Rückschlüsse zu, die eine sorgfältige Artikulation auch der Orgelwerke rechtfertigen und nötig machen. Darüber hinaus ist es notwendig, sich über das Wesen der musikalischen Artikulation Gedanken zu machen.

Legato heißt "gebunden". Der Bogen, der eine kleine oder größere Gruppe von Noten zusammenhält, bindet sie zusammen, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Auch das Wort Religion bedeutet ja "Bindung" des Menschen an das göttliche Gesetz, und daher ist ein legato-Vortrag vor allem für jede kultische Musik angebracht, darüber hinaus für alle gedankliche, reflektierende Musik. Wenn Melodie "strömende Kraft" ist (Kurth), so ist legato ihr vollkommenster Ausdruck. Im staccato wird dieser Fluß unterbrochen: die Einzeltöne stellen sich gegen ihn, statt einer durchgezogenen Linie entsteht eine "punktierte", und der Ausdruck des staccatos ist daher "Ungebundenheit" in jedem Sinne. Da sich dem einen Begriff der Gebundenheit viele Arten der Ungebundenheit entgegenstellen lassen, so ist der Ausdrucksbereich des staccatos ungleich größer als der des legatos: Kraftgefühl, Übermut (etwa in den Scherzi von Beethoven), Humor, Leichtigkeit, Grazie, aber auch Angst, Zittern, Beben und anderes mehr kann durch staccato ausgedrückt werden. Hierbei spielen die Intervallbeziehungen eine große Rolle. Für Tonleiterschritte ist das legato der natürliche Ausdruck, für große Intervalle, die nur durch einen "Sprung", wie wir anschaulich sagen, überbrückt werden können, ist das staccato die gegebene Artikulation, für mittlere Intervalle (Quarte, Quinte) ist es das betonte, geringe Absetzen im Portato. Nach diesen Grundsätzen können wir bereits eine Anzahl Fugenthemen von Bach sinngemäß artikulieren (ohne damit andere Arten der Ausführung ausschließen zu wollen); z.B. die allbekannte erste Fuge des Wohltemperierten Klaviers wird wohl am überzeugendsten so ausgeführt, daß die Sekundschritte des Themas gebunden, die Quart- und Quintschritte ein wenig abgesetzt und damit etwas betont werden. Ähnlich kann man in der es-Moll-Fuge verfahren, wenn man nicht vorzieht, das ganze Thema zu binden. Wo eine innere Bindung den Charakter eines Themas bestimmt, sind selbstverständlich auch Quarten und Quinten zu binden, so z. B. in dem Thema der f-Moll-Fuge des Wohltemperierten Klaviers I, oder im Thema der Tripelfuge Es-Dur für Orgel. Alle in der alten Musik durch kleine Nötchen bezeichneten Nebennoten, besonders Vorhalte, schmiegen sich legatissimo an die Hauptnote an. Werden Sekundfolgen nicht gebunden, so will der Tonsetzer damit etwas Besonderes ausdrücken; so wirken die chromatischen Staccato-Passagen im Finale der Sonate op. 2, Nr. 2 von Beethoven polternd, in der 5. Variation von Mozarts A-Dur-Sonate kokett, das "sempre staccato" im e-Moll-Scherzo von Mendelssohn klingt wie Elfenmusik usw. Weiterhin ist auf die Tonhöhe von Einfluß: man muß in der Baßlage der Deutlichkeit halber mehr trennen als in der Mittellage und noch weniger in der zweigestrichenen Oktave.

Die Artikulation wurde im 16. Jahrhundert im Notenbild noch nicht kenntlich gemacht, denn die Artikulation gehörte zur Verzierungstechnik im weitesten Sinn, die dem Spieler freigestellt war; auch im 17. Jahrhundert finden wir Artikulation fast nur in Violinmusik, aber auch da meist nur Bögchen über zwei Noten (so noch bei Corelli), nur in der heute kaum mehr gespielten virtuosen Violinmusik des Jahrhunderts (Farina, Marini) finden sich größere Bogen, auch Punkte mit Bogen darüber für das "fliegende staccato", ferner Keile und Punkte. Meist - und das gilt bis ins 18., ja noch ins 19. Jahrhundert hinein - endigen die Bogen zusammen mit der Balkung; so schreibt z.B. Bach im Orgelchoral "Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ" bei durchgehender Sechzehntel-Bewegung der linken Hand Bogen über je vier Sechzehntel, gemeint ist aber ein durchgängiges legato. In anderen Fällen wiederum, wenn etwa vier Sechzehntel in eine betonte Note münden, ist diese von den Streichern mit Bogenwechsel zu spielen und auch auf dem Klavier unmerklich zu trennen. Die Entscheidung in solchen Fällen bleibt dem Spieler überlassen.

Zur Bezeichnung des staccato kennt die Notenschrift sowohl den schrägen Keil wie auch den runden Punkt. Im 17. und 18. Jahrhundert wird der Keil mit Vorliebe gebraucht, wenn durch das Abstoßen der Note zugleich eine Akzentuierung ausgedrückt werden soll, ja oft ist die Betonung im Sinne eines sforzato wichtiger als die Verkürzung, der ja ohnehin Grenzen gesetzt sind, wenn die Note ihr Gewicht behalten oder sogar vermehren soll. Punkte treten gleichfalls schon im 17. Jahrhundert auf; sie dienen nur der Verkürzung, nie der Betonung. Manche Komponisten allerdings halten diese Unterscheidung nicht ein und benützen Keile wie Punkte (nie aber Punkte mit der Bedeutung von Keilen). Nach 1750 setzen manche Komponisten durchgehend Keile oder feine schräge Striche, die aber in modernen Ausgaben meist in Punkte verwandelt worden sind, weil der Keil im 19. Jahrhundert die Bedeutung eines heftigen staccato behalten hat (z. B. bei Wagner, Anfang der Walküre).

Nach 1700 beginnt man, der Artikulation erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Couperin bezeichnet seine Klaviermusik sorgfältig und erklärt das legato-Spiel als die Grundlage des Cembalospiels, Bach bezeichnet besonders seine Kammermusik genau. Man darf sagen, daß bis 1750 die Artikulation auf der Violine maßgebend auch für die Tasteninstrumente gewesen ist (s. Bachs Italienisches Konzert!); ja selbst die Bläser müssen sich bei ihm oft widerwillig nach der Artikulation der Violine richten. Man muß sich also bei Musik der Generalbaßzeit immer fragen: wie würde eine Violine das spielen? Die zweite Frage muß lauten: ist diese Musik vokal oder instrumental erfunden? Jede unverzierte Melodie ist ja "gesanglich" im eigentlichen Sinn des Worts, sie soll so gespielt werden, wie wenn sie von einem Chor oder einer Solostimme gesungen würde. Dies gilt besonders für die dem Vokalstil des 16. Jahrhunderts noch nahestehende Frühzeit. Reine Instrumentalismen (Arpeggien über mehrere Saiten, verzierte Melodien) dagegen sind nach dem Charakter und der Technik des betreffenden Instruments zu artikulieren. Erst nach 1750 verliert die Violine einen Teil ihrer Vorherrschaft; Orgel, Cembalo, Clavichord treten vom Schauplatz ab, das Hammerklavier übernimmt die Führung und schafft sich seinen eigenen, durch Finger-, Hand- und Arm-Spiel bedingten Artikulationsstil. Auch die Komponisten bezeichnen nun ihre Werke so genau, daß etwa bei Beethoven, wo die Artikulation ein ebenso eigenwilliges Ausdrucksgebiet ist wie etwa die Dynamik, nie ein Zweifel über den Willen des Komponisten entstehen kann, Trotzdem sind nicht nur die praktischen landläufigen Ausgaben der Wiener Klassiker voll von Fehlern, was die Artikulation betrifft, sondern auch die Gesamtausgabe der Werke Mozarts (wie Blume in seiner Einleitung zur kleinen Partiturausgabe des c-Moll-Klavierkonzerts feststellt). Auch die Herausgeber der alten großen Bachausgabe und Bischoff führen Varianten in der Artikulation in ihren Revisionsberichten als zu belanglos in der Regel nicht an. Heute sind wir in diesem Punkt anderer Auffassung.

Es ist unmöglich, im Rahmen eines kurzen Aufsatzes alle mit dem Problem der Artikulation zusammenhängenden Fragen zu behandeln, geschweige denn zu lösen. Es sollte hier lediglich das Grundsätzliche gesagt und der Versuch gemacht werden, die Musiker, besonders auch die Laienmusikanten, auf die Wichtigkeit dieses Gebietes überhaupt and auf seine besondere Wichtigkeit für die ältere Musik hinzuweisen.

Quelle:
Zeitschrift für Hausmusik, April 1952