1953 · Max Reger, Werk und Persönlichkeit
Vortrag
Die staatliche Hochschule für Musik gedenkt des 80. Geburtstages von Max Reger mit drei Aufführungen, nicht nur, um der Öffentlichkeit diesen großen, zu früh gestorbenen Meister wieder in Erinnerung zu bringen, sondern auch wegen der nahen Beziehungen, die Reger zu unserer Hochschule gehabt hat - ich brauche nur den einen Namen Karl Wendling zu nennen -, und schließlich auch, um unserer studierenden Jugend, die heute von manchen Tagesberühmtheiten mehr weiß, als von den Meistern der letztvergangenen Generation, ein Bild dieses großen Künstlers vor die Seele zu stellen.
Man pflegt vier Namen zu nennen, wenn man die Hauptvertreter der Zwischengeneration zwischen der Spätromantik und der Moderne aufzählt: Gustav Mahler, Richard Strauss, Hans Pfitzner und Max Reger, alle vier im Abstand von etwa 4 Jahren nacheinander geboren; Reger war der Jüngste unter ihnen. Mahler starb 1911, Reger 1916, Strauss und Pfitzner sind beide erst vor kurzem im Jahr 1949 hochbetagt gestorben, beide haben auf eine fast tragische Weise ihren Ruhm überlebt, denn ihre Hauptwerke liegen weit zurück: Strauss schrieb seine symphonische Dichtungen, die "Salome" und den "Rosenkavalier" vor dem ersten Weltkrieg, Pfitzner den "Palestrina" im Todesjahr Regers. Aber sind nicht auch Regers Werke, die einst so revolutionär wirkten, durch die nachfolgende sich überstürzende Entwicklung der Musik längst überholt? Sie wären es, wenn es auf die Entwicklung ankäme. "Die Kunst ist aber immer am Ziel", nach einem schönen Wort Schopenhauers. Haydn ist durch Beethoven nicht entwertet und Schubert nicht durch Bruckner, und - fügen wir hinzu - Reger nicht durch Hindemith, der als sein unmittelbarer Erbe angesehen werden kann.
Die Kultur, die wir uns als tragenden Untergrund für das Schaffen der genannten vier Meister denken müssen, ist die reiche großbürgerliche Kultur der Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg. Ich sage mit Absicht nicht, daß es das Zeitalter Kaiser Wilhelms II. gewesen sei, denn es war nicht sein Zeitalter, den Ton gab das reiche und hochgebildete Bürgertum an. Richard Strauss wurde in diese Gesellschaft schon hineingeboren, Reger mußte sich den Zugang zu ihr erst erkämpfen, aber es war ein kurzer und siegreicher Kampf. Reger stammte aus kleinen Verhältnissen und aus der tiefsten Provinz Bayerns. Als Sohn eines Lehrers, soll auch er Lehrer werden, (- er hat uns erzählt, wie im Seminar die Seminaristen in einem Zimmer gleichzeitig auf drei Klavieren üben mußten, was sicher zur Abhärtung der Gehöre beitrug!), aber ein nicht zu bändigender Drang führt ihn zur Musik; der berühmte Theoretiker Hugo Riemann in Sondershausen nimmt ihn als Schüler, erkennt die ungewöhnliche Begabung des jungen Provinzlers und fördert ihn auch menschlich in jeder Weise. Er verschafft ihm sogar einen Verleger, den englischen Verlag Augener, wo Regers op. 1-18 erschien, vieles nur nachempfunden, noch wenig Eigenes dabei. Nach seiner Lehrzeit bekam Reger eine Anstellung am Konservatorium in Wiesbaden, diente dort sein Militärjahr, aber nicht zu Ende, denn ein körperlicher und seelischer Zusammenbruch ließ ihn nach Hause zurückkehren. Dort fing er an, zu komponieren, und in dieser erzwungenen Ruhe schuf er seine ersten wirklich bedeutenden Werke, besonders die ersten großen Orgelphantasien, die trotz ihrer außerordentlichen Schwierigkeit einen Verleger fanden, Aibl in München, und für die sich der junge Weseler Organist Karl Straube begeistert einsetzte. Alle diese Beziehungen lockten ihn heraus aus Weiden, nach München, wo er als avantgardistischer Musiker, mißtrauisch angesehen von den Komponisten der Münchner Schule, sich rasch bekannt machte. Nur kurz ist er an der Münchner Akademie der Tonkunst tätig; 1907 geht er nach Leipzig, und mit jedem Jahr wächst die Zahl der Aufführungen seiner Werke, der Widerstand der Kritik wird schwächer, der Ruhm größer, die Ehrungen häufen sich. In weniger als acht Jahren hatte Reger durch seine unbeirrbare Zähigkeit, durch seine enorme Arbeitskraft diesen Aufstieg geschafft. Aber interessiert uns dies noch heute nach vierzig Jahren? Uns interessiert nur der Komponist Reger. Es war schon die Rede davon, wieviel er Riemann zu verdanken hat. Leider sind Reger und Riemann später ganz auseinander gekommen, aber es muß gesagt werden, daß hier der seltene Fall eintrat, daß ein Theoretiker einem Komponisten neue Wege zeigte: Riemann hatte mit seiner Funktionslehre neue, entfernte Bezirke der Tonalität erschlossen, aber diese Möglichkeiten waren vor Reger von keinem Komponisten erkannt und ausgenutzt worden. So erweiterte Reger die Grenzen der Tonalität beträchtlich, ohne den Begriff der Tonalität jemals aufzugeben; für die ersten, heute wieder so viel diskutierten, atonalen Versuche von Schönberg hatte er nur eisige Ablehnung. Reger konnte mit Überspringung von Zwischenstufen blitzschnell entfernte Tonarten berühren und wieder zum festen Stand zurückkehren, so daß sein Gegner Rudolf Louis, der Kritiker der M.N.N. Regers Modulationslehre spöttisch (aber nicht ganz unberechtigt) einen "Fahrplan für Schnellzüge nach entfernten Tonarten" nennen konnte. Für diese sehr erweiterte Harmonik bediente sich Reger einer rücksichtslos chromatischen Schreibweise, so daß es in seinen Kompositionen von Versetzungszeichen nur so wimmelt; in einer Fastnachtsnummer der Allgemeinen Musikzeitung sollte Reger für seine Sünden vom Teufel geholt werden; zur Strafe wird ihm der Gebrauch der Versetzungszeichen entzogen, so daß er nicht mehr komponieren kann (die schlimmste Strafe für Richard Strauss war, in dieser Nummer, daß er zusehen muß, wie seine Werke tantiemenfrei gespielt werden!). Aber mit dieser funktionell erweiterten, chromatischen Harmonik haben wir nur ein Stilelement der Musik Regers genannt, und nicht einmal das wichtigste; wichtiger ist seine Anknüpfung an die alten im 19. Jahrhundert fast in Vergessenheit geratenen Formen der Fuge, der Passacaglia, der Choralbearbeitung. "Andere machen Fugen, ich denke in Fugen" pflegte er zu sagen. Zu einer Zeit, da sich die klassischen und romantischen Formen, besonders die Sonatenform erschöpft zu haben schienen, waren diese alten Formen ausgeruht, und Reger zeigte, daß die Fuge nicht nur eine Form für Prüfungsaufgaben (die berühmte "Schulfuge"), sondern eine lebende, höchst ergiebige Form sei, mit der man sogar moderne Musik machen könne. Aber auch diese Wiederaufnahme der Stilmittel Bachs ist nicht das wichtigste Stilelement in der Musik Regers, sondern das ist die unmittelbare Fortführung des Stils von J. Brahms. Brahms hatte zahlreiche Nachahmer gehabt, die "Brahminen", aber die waren sämtlich konservativ und hielten sich meist in noch engeren Grenzen als ihr Meister; Reger war der Erste, der Brahms nicht nur fortsetzte, sondern seinen Stil weiterbildete. Besonders in seinen Variationswerken setzt er die Linie Beethoven - Brahms unmittelbar fort, ebenso in seiner Pflege der Kammermusik in jeder Besetzung und in seinen Liedern über oft recht mäßige Texte. Der weitgriffige Brahms'sche Klaviersatz, seine intrikate Rhythmik, seine sorgfältige motivische Arbeit, - all das nimmt Reger auf, erweitert es satztechnisch, harmonisch in ungeahnter Weise, differenziert und spaltet das Brahms'sche Melos zu den feinsten, subtilsten Wirkungen. Diese Differenziertheit läßt uns in manchen Adagiosätzen (etwa in der Suite in altem Stil) Wunder an Klang und einer unendlichen Verfeinerung des Ausdrucks erleben, - (in manchen Fällen freilich wirkt diese Verfeinerung gegenüber der gesunden Diatonik von Brahms auch morbid, um nicht zu sagen dekadent). Wenn schon rein objektiv gesehen eine Mischung von drei so heterogenen Stilelementen wie Brahms'sche Spätromantik, Fugenstil und moderne chromatische Harmonik eine ganz eigentümliche Mischung ergeben mußte, so wurde das Bild seiner Musik noch farbiger, schillernder durch die Einwirkung seiner Persönlichkeit auf seine Musik. Diese persönliche Komponente ist nicht etwa, wie man meinen könnte, in den eben genannten musikalischen Stilmerkmalen schon mitenthalten. Es ist aber zu sehen, wie alle Einzelheiten von Regers Persönlichkeit auch in seiner Musik sich wiederfinden: das Massige in Regers Person, in seinem Körperbau, seine oft beträchtliche bajuvarische Grobheit seinen Gegnern gegenüber, finden wir wieder in den massierten ff - Teilen seiner großen Orgelwerke und vieler Klavier- und Kammermusikwerke; Reger war aber als Mensch auch äußerst sensitiv, scheu, zart, und auch das findet sich wieder in seinem Klavierspiel (ich habe nie wieder ein so samtweiches pp gehört wie das von Reger, wenn er Fis-Dur Präludium und Fuge von Bach spielte), und ebenso in den wundervollen, zerfliessenden pp-Stellen seiner Adagiosätze. In den Nachsitzungen nach seinen Konzerten war Reger ein nicht zu schlagender Witzeerzähler, Zigarettenraucher, ein großer Esser und Biervertilger; die Witze waren oft starker Tabak, aber sie waren gut, und ebenso gut und oft auf eine geradezu phantastische Art witzig waren viele Scherzo-Sätze Regers. Dabei war Reger ein starker Arbeiter, der fast zu jeder Stunde und in jeder Umgebung komponieren konnte. Ich erinnere mich an einen Schülerabend in seiner Wohnung in München, wo es Bier und Würstchen gab; eigentlich war der Abend langweilig, aber er war dadurch bemerkenswert, daß sich Reger beständig mit uns unterhielt, dabei aber ohne Konzept ein Orgelstück niederschrieb (das er natürlich längst im Kopf hatte), und das wir noch in derselben Nacht per Eilboten an den Verleger senden mußten! Später, in Leipzig, kam er während der Saison überhaupt nicht mehr zum Komponieren; er brachte die Nächte meist im Schlafwagen, die Tage mit Proben, die Abende mit Aufführungen seiner Werke zu, und zum Komponieren blieben nur noch die Sommerferien. Da konnte es passieren, daß für eine Sonate, die im Juli noch garnicht komponiert war, schon das Datum der Uraufführung im September festgelegt war! Ist es aber gut, wenn man dergestalt die Poesie kommandiert? Sicher hat Reger auf diese Weise auch manches schwache Werk geschrieben, aber er hat durch diese beständige Übung seine Technik so hoch getrieben, daß sie ihm in jedem Augenblick zur Verfügung stand, und wenn dazu dann die Inspiration trat, so entstanden Meisterwerke. So kommt zu den genannten Merkmalen des Regerschen Personalstils noch als letztes nicht unwichtigstes Moment der Fleiß und die Fruchtbarkeit dazu. Schumann hat bekanntlich von Schubert gesagt: "Wenn Fruchtbarkeit ein Kennzeichen des Genies ist, dann ist Schubert eines der größten". Sicherlich hat es im 18. Jahrhundert fruchtbare Komponisten gegeben, die deswegen noch keine Genies ersten Ranges waren, Vivaldi, Telemann, Graupner und viele andere; aber vielleicht hat Reger das mit Schubert gemein, daß beide - in einem Vorgefühl ihres frühen Todes? - von einem unaufhörlichen Drang zu schaffen beseelt waren; Reger hat kurz vor seinem Tod gesagt: "Kinder, ich fange ja erst an!" Vielleicht hängt es auch mit einem solchen Vorgefühl zusammen, daß er sich die Welt, in der er lebte, so schnell eroberte (darin ganz im Gegensatz zu Schubert!)?
Der Bohemien der Wiesbadener und Weidener Jahre, der sich so manchen tollen Streich geleistet hat, wird später als gefeierter Künstler und mehrfacher Dr. h.c. ganz Weltmann und versteht es, sich in der großen Welt so hochmütig und blasiert zu benehmen, daß er schon dadurch die Bewunderung der Gesellschaft erregt. Einflüsse dieses oberflächlichen Gesellschaftslebens glaube ich in manchen Werken seiner Leipziger Zeit zu sehen. Auch Brahms ist ja in seinen späteren Jahren von der Wiener Gesellschaft verwöhnt worden, aber es hat ihm nicht mehr geschadet, denn er stammte aus einer Zeit, da das deutsche Bürgertum noch ungebrochen dastand, da es Persönlichkeiten wie Jakob Grimm, Gervinus, Friedrich Chrysander und viele andere hervorbrachte. In den letzten Jahren vor 1914 war wohl äußerlich noch alles in Ordnung, ja glänzend, aber manches doch schon morsch und unterhöhlt. Damit hängt es auch zusammen, daß Reger wohl nicht mehr als ein stimmungsmäßiges Verhältnis zur Religion hatte, - wie alle Künstler seiner Zeit, den einzigen Bruckner ausgenommen. Obwohl Katholik, hat er die Schönheit der ev. Choräle erkannt (aber nur ihre Schönheit!), so, wie das "Deutsche Requiem" von Brahms wohl als Kunstwerk von hohem Rang ist, aber nur eine geringe religiöse Ausstrahlung besitzt, so ist es auch mit Regers Choralphantasien für Orgel; sie behalten ihren Wert, wenn sie auch infolge des radikalen Stilumschwungs durch die norddeutsche Orgelbewegung in den letzten Jahrzehnten in den Hintergrund getreten sind. Die meisten heutigen Orgeln sind ja in einem Sinn umgebaut worden (und nicht immer glücklich umgebaut worden), so daß schon rein klanglich auf ihnen eine befriedigende Wiedergabe der Reger'schen Orgelwerke kaum mehr möglich ist. Daß aber in den letzten Monaten der törichte Angriff eines bekannten deutschen Organisten gegen Regers Orgelwerke fast einmütig von den Organisten aller Richtungen zurückgewiesen worden ist, läßt uns hoffen, daß die Sterne Reger'scher Orgelkunst, die zur Zeit unter dem Horizont liegen, in vielleicht nicht allzuferner Zeit wieder leuchten werden. Wenn ich noch einige persönliche Erinnerungen an Reger als Lehrer hier zufügen darf, so möchte ich sagen, daß Reger viel zu sehr Komponist war, um ein guter, systematischer Lehrer sein zu können. Er korrigierte alles, was man ihm vorlegte, mit unglaublicher Raschheit, aber nur Satzfehler; man mußte daher viel schreiben und man schrieb sich dadurch frei. Wer Komponist werden will, muß in seiner Studienzeit möglichst viel und vielerlei komponieren, ohne viel dabei zu grübeln. Der Wert solcher Studienarbeiten ist gering, ihr Nutzen groß. Auf diese Weise hat auch Josef Haas, der älteste heute noch lebende Regerschüler, das Komponieren, d.h. die Leichtigkeit zu komponieren gelernt. Am meisten habe ich in München als Privatschüler bei Reger gelernt, besonders als er mir sein harmonisches System mit wenigen Worten so erklärte, daß mir die angeblich überladene Reger'sche Harmonik keine Probleme mehr bot. In Leipzig war es eine Massenabfütterung von 30 Schülern von sehr verschiedener Qualität an 1 oder 2 Vormittagen, bei der nur die paar wirklich Begabten etwas lernen konnten. Von dem außerordentlich differenzierten Klavierspiel Regers habe ich schon gesprochen, es bewegte sich aber fast nur in Extremen, entweder im zartesten pp, worin Reger wirklich unnachahmlich war, oder in einem massigen ff, die Zwischentöne fehlten meist. Es war ein großes Verdienst von Karl Straube, dem treuesten Freund und Mentor Regers, daß er ihn aus Leipzig herausholte und ihn bewog, nach Meinigen zu gehen, wo er zum ersten Mal als Chef einem Orchester gegenüber treten mußte. Das Meininger Orchester hatte eine Glanzzeit unter Hans von Bülow gehabt, war inzwischen abgesunken, aber es gelang Reger, durch eine minutiöse Probenarbeit erstaunliche Leistungen mit diesem weder großen noch klanglich hervorragenden Orchester zu erzielen. Seine Schüler und Assistenten mußten vor den Proben jede Orchesterstimme nach seinen Angaben ganz genau bezeichnen, so daß nichts dem Zufall überlassen war und der Dirigent in der Aufführung eigentlich entbehrlich war: tatsächlich legte Reger auch an irgend einer Stelle den Dirigentenstab weg und ließ das Orchester eine Zeit lang allein spielen, was immer sehr bestaunt wurde. Zu Beginn des ersten Weltkriegs zog sich Reger ins Privatleben zurück, übersiedelte nach Jena, konzertierte aber ununterbrochen. Auf einer derartigen Konzertreise erlag er im Alter von erst 43 Jahren am 11. Mai 1916 in Leipzig einem Herzschlag.
Obwohl damals in diesen Wochen und Monaten, während der menschenmordenden Sommeschlacht täglich mehr als tausend junge Deutsche für ihr Vaterland in den Tod gingen, wurde der Verlust dieses großen Künstlers sofort mit allgemeiner Trauer aufgenommen. Die Frage ist aber damit noch nicht beantwortet, was Reger uns zu bedeuten hat? War er nicht so sehr mit seiner Zeit verwurzelt, daß er mit ihr auch untergegangen ist? Haben wir nicht in den letzten Jahrzehnten eine ungeheure Zeitwende erlebt, die uns ganz andere Maßstäbe gegeben hat, als sie die Zeit hatte, in der Reger lebte (oder sollen wir sagen leben durfte)? Der amerikanische Dichter William Faulkner hat, als er den Nobelpreis entgegennahm, in einer Rede gesagt, das Lebensgefühl unserer Zeit sei "eine allgemeine und alles umfassende Angst, die nun schon so lange besteht, daß wir sie sogar ertragen können". In dem ersten der Konzerte, die unsere Hochschule unter der Devise "Ars nova" veranstaltete, waren nicht weniger als drei Werke, die dieser Angst auf eine erschütternde Weise Ausdruck gegeben haben. Kann man aber von der Angst leben? Ich glaube: nein. Kann man von der Aufhebung aller Gesetze der Naturkonsonanz, die seit 2500 Jahren, also seit den Griechen, bis heute gegolten haben, leben? Ich glaube ebenfalls: nein; bestenfalls kann man damit experimentieren. Sicher werden so ganz neue Bereiche des Klangs entdeckt, aber führt das nicht immer weiter vom Menschen weg in eine Welt, in der die heutige Supertechnik autonom wird und der Mensch nichts mehr zu suchen hat? "Hat die Zukunft schon begonnen?!" Ich zitiere wieder Faulkner; "Nur das Herz ist es wert, daß man darüber schreibt". Das sagt ein Amerikaner! Gilt das nicht doppelt und dreifach für uns und für die Musik? Müssen wir nicht auch wieder den Menschen suchen? Auch in der Musik, und da gerade?
Sie fragen, was hat das mit Reger zu tun? Ich antworte; sehr viel. Dieses "Herz", das uns in der Politik, in der Wirtschaft, in der Technik, in der Kunst abhanden zu kommen droht, das Einzige, um was es sich lohnt zu leben, zu schreiben, zu komponieren, das war der Generation Regers noch ein selbstverständlicher Besitz. Und Reger lebte nicht von seiner Zeit allein. Er wurzelte tief in der Vergangenheit: als Mensch lebte er von der unverbrauchten Kraft seiner Vorfahren, eine Kraft, die sich in ihm fast explosiv entlädt; als Musiker lebte er vom Erbe der Klassik und von J. S. Bach, der für ihn A und O der Musik war. Daß und wie diese Kräfte nun mit einem Mal zusammenschießen, wie sie sich entladen, wie diese so verschieden gearteten Partikelchen zusammenschießen, so daß der Musiker Max Reger daraus wird, das ist genau so unbegreiflich, wie, daß zweihundert Jahre früher aus den vielen Kleinbegabungen ein J.S. Bach hervorgegangen ist. Reger war - wie Ulrich von Hütten - "kein ausgeklügelt Buch, er war Mensch mit seinem Widerspruch".
Quelle:
Vortrag in der Stuttgarter Musikhochschule, März 1953