1954 · Musik des Oberschwäbischen Barock

für Orgel od. Klavier; Alte Orgelmusik

(Bach-Strebel, M. Schildt). 2. bezw. 3. Veröffentlichung der Gesellschaft der Orgelfreunde. Verlag C. Merseburger, Berlin-Darmstadt.

Es hat lange gedauert, bis der deutsche Süden sich darauf besonnen hat, welchen Beitrag er zur deutschen Orgelbewegung zu geben habe. Die Anfänge der norddeutschen Orgelbewegung, die eine jähe Stilwende sowohl im Orgelspiel wie in der Orgelkomposition und im Orgelbau heraufführte, liegen nun schon fast dreißig Jahre zurück, aber erst im letzten Sommer hat die schon mehrmals verschobene, längst geplante Tagung für Oberschwäbische Orgelkunst endlich stattgefunden. Sie gruppierte sich um die süddeutschen Spätbarockorgeln in Ochsenhausen, Weingarten und Ottobeuren und einige kleinere Werke und stellte die enge Verbundenheit dieser Orgelkunst mit den behaglich-prächtigen Klosterbauten dieser Zeit, mit der Weite und Beseeltheit dieser Voralpenlandschaft und dem auf einen harmonischen, anständigen Lebensgenuß eingestellten Klosterleben dieser glücklichen Zeit deutlich ins Licht. Am Schluß dieser Tagung, die der Architekt, Denkmalpfleger und Orgelexperte Dr. ing. Walter Supper geleitet hatte, wurde unter seinem Vorsitz eine Gesellschaft der Orgelfreunde ins Leben gerufen, die sowohl durch literarische Veröffentlichungen wie durch die Herausgabe von Spielmusik weiter für die Verbreitung des Gedankens wirken will, daß neben der überragenden nord- und mitteldeutschen Orgelkunst des 18. Jahrhunderts auch der Süden, besonders der katholische Süden, beanspruchen dürfe, gehört und beachtet zu werden.

Das erste der beiden Hefte zeigt nun den süddeutschen Barock gerade von seiner schwächsten Seite: nämlich von der Seite der Komposition. Es fehlt die Spannung; auch zum gregorianischen Choral fehlen fast alle inneren Beziehungen, und der Stil der Kompositionen ist so, daß sie ebenso gut auf dem Klavier wie auf der Orgel gespielt werden können. Wenn schon die italienische Orgelkunst auf das Pedalspiel nie irgend einen Wert gelegt hat, so fehlt es hier völlig. Und doch hat diese Kunst die Forscher, die in sie einzudringen begannen, nicht mehr losgelassen. Es ist das Verdienst eines "nobile dilettante", Willi Siegele, auf Grund langjähriger Studien das Material vorgelegt zu haben, das sein Sohn nun für diese erste Ausgabe oberschwäbischer Orgel- und Klaviermusik verwenden konnte. Wo die norddeutsche Orgelmusik ihre Größe verliert (s. den Band der Reichsdenkmale "Orgelmusik um J. S. Bach"), da wird sie formalistisch, flach und trocken; das passiert aber diesen liebenswerten Kleinmeistern, die wir hier kennenlernen, nicht. Es sind sieben, meist kurze Stücke von S. Bachmann, Isfried Kayser, Carlmann Kolb, J. Lederer, F. A. Maichelbek, C. M. Schneider und Fr. Schnitzer, unter denen ein toccatenartiges Präludium in a von Kolb, pedaliter erfunden, die übrigen Stücke weit überragt.

Das zweite Heft enthält eine etwas merkwürdige Zusammenstellung: eine von dem verstorbenen letzten Stiftsorganisten in Stuttgart, Arnold Strebel, ergänzte 5stimmige Fantasie von Bach aus dem ersten Notenbuch der Anna Magdalena, und eine von Kurt Utz bei der Tagung gespielte und von ihm herausgegebene Partita von Melchior Schildt, dem zuletzt in Hannover wirkenden Sweelinckschüler, über "Herr Christ, der einig Gott's Sohn", die immerhin einen interessanten Vergleich mit der Bearbeitung derselben Melodie durch Sweelinck (Orgel- und Klavierwerke, Amsterdam, 1943, S. 161) ermöglicht.
Hermann Keller, Stuttgart



Quelle:
Die Musikforschung
Jahrgang VII, Heft 1, 1954