1954 · Neues über Domenico Scarlatti
Musica
Was weiß wohl der Musikfreund oder selbst der Berufsmusiker über Domenico Scarlatti, den größten Klavierkomponisten des 18. und nicht nur dieses Jahrhunderts? Wohl kaum mehr, als daß er zahlreiche einsätzige Klaviersonaten brillanten Stils geschrieben hat, und vielleicht noch, daß Alessandro Scarlatti, der legendäre Begründer der sogenannten neapolitanischen Opernschule, sein Vater war. Wenn er von diesen Sonaten es sind etwa 550 im ganzen ein halbes Dutzend kennt, ist das schon viel; und wenn er von den äußeren Lebensumständen dieses großen Meisters sonst nichts weiß, so ist das keineswegs verwunderlich, denn bis vor kurzem wußten auch die Musikgeschichten nur ein paar dürftige (und zum Teil unrichtige!) Daten über ihn anzugeben. Erst seit kurzem besitzen wir aus der Feder des amerikanischen Cembalisten Ralph Kirkpatrick eine umfassende Darstellung seines Lebens und seiner Kunst (1), und nun bestehen günstigere Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit diesem merkwürdigen und wenig bekannten Künstler, der so viel mehr war als ein glänzender, etwas oberflächlicher Virtuose.
Im gleichen Jahr wie Bach und Händel (1685) in Neapel geboren, verlebte Domenico Scarlatti die ersten 35 Lebensjahre in Italien; wäre er um 1720 gestorben, so würde die Musikgeschichte kaum Notiz von ihm nehmen. In diesem Jahr berief ihn der portugiesische König Johann V. nach Lissabon, wo er der Klavierlehrer der Prinzessin Maria Barbara wurde, die, als sie 1729 den spanischen Kronprinzen Ferdinand heiratete, ihren "getreuen Musikmeister" nach Madrid mitnahm. 1724 war Scarlatti noch einmal in Italien gewesen, um seinen betagten Vater zu besuchen, der 1725 starb; 1728 heiratete er die 16-jährige Römerin Catalina Gentili; seit der Zeit hat er Spanien bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen. Er lebte am spanischen Hof in einem goldenen Käfig, in nahezu völliger Abgeschlossenheit von der Welt; wir kennen kein Bild von ihm, keine Anekdoten oder Berichte über ihn, keinen Brief außer einem des 71-jährigen Meisters an den Herzog Alba, ja, was noch schwerer wiegt, nicht eine Zeile seiner Sonaten ist uns in seiner eigenen Handschrift erhalten, so daß wir nur von seiner Umgebung auf ihn selbst Rückschlüsse machen können.
Das Leben am spanischen Hof muß merkwürdig und trübselig gewesen sein; der König war ein Sonderling, und man kann verstehen, daß die Musik ziemlich die einzige Erheiterung des jungen kronprinzlichen Paares bildete. Man ließ berühmte Sänger aus Italien kommen, darunter den berühmtesten, Carlo Broschi, der unter dem Namen Farinelli der meistgefeierte Kastrat Europas war. Ihn "kaufte" der Hof um das enorme Abstandsgeld von 2000 engl. Pfund im Jahr, und er mußte dafür, wie weiland David dem gemütskranken Saul, allabendlich dem König dieselben Arien vorsingen; Scarlatti stand neben ihm in ähnlicher Weise zurück wie Philipp Emanuel Bach am Hof Friedrichs des Großen hinter Quantz und Graun.
Im Jahre 1746 starb endlich der kranke König, Ferdinand und Maria Barbara bestiegen den Thron; die Musik wurde nun noch mehr gepflegt als vorher, man sprach von einer "Melomanie" des spanischen Hofes. Aber auch jetzt trat Scarlatti nicht in den Vordergrund; wir wissen auch weiterhin über sein Leben fast nichts. Nach dem Tode seiner ersten Gattin heiratete er eine Südspanierin, Anastasia Ximenes, die ihm Kinder schenkte, deren Nachkommen noch heute in Madrid leben. Er starb in Madrid am 23. Juli 1757, sieben Jahre nach Bach, zwei Jahre vor Händel.
So wissen wir also trotz aller fleißigen Nachforschungen von Kirkpatrick und anderen in den Archiven von Lissabon und Madrid von Scarlattis Leben und Persönlichkeit so wenig wie wohl von keinem großen Künstler der letzten Jahrhunderte. Man sollte meinen, der funkelnde Geist seiner Klavierwerke habe die Menschen bezaubert, aber wir besitzen keinen Bericht darüber, wir erfahren nicht einmal, ob er außerhalb des Hofes öffentlich aufgetreten ist. Mit seiner Übersiedlung nach der Pyrenäenhalbinsel verschwindet Scarlatti wie in einer Versenkung. Das einzige Lebenszeichen, das er der Welt gibt, sind die 30 "Essercizii per Gravicembalo", die er 1738 erscheinen ließ und dem portugiesischen König als Dank für die Erhebung in den Adelsstand widmete.
So ist es auch zu verstehen, daß Scarlatti auf die Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts nur wenig Einfluß hatte. Zwar fand er begeisterte Verehrer in England, aber die unbedeutenden englischen Komponisten jener Zeit hatten ihm nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen. In Portugal war Carlo de Seixas sein Schüler und Nachfolger, aber um wieviel schwächer ist er als sein Lehrer! Auf Bach konnte Scarlatti nicht einwirken, da die erste deutsche Ausgabe von Sonaten Scarlattis erst 1753 in Nürnberg erschien. Auch die Musikgeschichte Italiens, seiner Heimat, hat Scarlatti wenig beeinflußt, aus dem einfachen Grunde, weil man dort in den Jahrzehnten nach 1730 fast gar nichts von ihm wußte. Tatsächlich würde man in der Klaviermusik von Galuppi, Alberti und anderen vergeblich nach Spuren von Scarlattis Stil suchen, obwohl die Italiener ihn heute als einen ihrer Großen und als Wegbereiter des klassischen Stils feiern (so z. B. Valabrega).
So scheint es wirklich, als ob all dieses Feuerwerk von Geist, Virtuosität, Zärtlichkeit und Anmut nur für eine junge Prinzessin und spätere Königin abgebrannt worden ist! Wie nahe läge die Vorstellung, daß Scarlatti für seine erlauchte Schülerin und Herrin eine schwärmerische Neigung empfunden habe; aber Maria Barbara war nicht besonders anziehend, sie neigte zur Korpulenz und es heißt, daß in den späteren Sonaten Scarlattis die Überschlagtechnik nicht mehr die Rolle spiele wie früher, weil sowohl er wie seine Schülerin zu dick geworden waren, um noch die dazu erforderliche Gewandtheit aufzubringen!
So bleibt uns mangels anderer Anhaltspunkte nur das Werk selber und das ist erstaunlich genug. Einmal die Beschränkung auf das Klavier, und innerhalb der Klaviermusik wieder auf die einsätzige Sonate. Italien hat eine Ehrenpflicht erfüllt, als das Haus Ricordi durch Alessandro Longo im Jahr 1906 eine erste Gesamtausgabe der Sonaten herausbrachte, die man studieren muß, um ein Bild davon zu bekommen, wie universal Scarlatti innerhalb dieser selbst gewählten (oder ihm auferlegten?) Beschränkung gewesen ist. Man kennt von ihm fast nur die gleichen, immer wieder nachgedruckten virtuosen Stücke mit ihrer waghalsigen Sprungtechnik, ihren schwierigen Tonrepetitionen, aber das ist nur ein kleiner Teil der 543 Sonaten, die zum Teil nur mittelschwer, zum Teil sogar technisch leicht sind. Es scheint, als ob Scarlatti die Sonaten für den Unterricht geschrieben habe, die leichten und mittelschweren für die Prinzessin, die schwierigen für sich selbst zum Zweck des Vorspielens. Es wäre aber verfehlt, sie lediglich als "Etüden" zu betrachten, es sei denn, man verstehe den Begriff nicht in dem bürgerlich eingeengten Sinn des 19. Jahrhunderts, sondern so, daß die Etüden von Chopin und von Debussy als legitime Nachfolger Scarlattis angesehen würden; in dem Sinne, in dem Bach verschiedene seiner Werke "Klavierübung" nannte, ist auch der Titel "Essercizii" zu verstehen, den Scarlatti 1738 seiner Sammlung gab.
Freilich, in dem, was er in seinen virtuosen Stücken technisch vom Spieler verlangt, geht er weit über alles hinaus, was alle anderen Meister des 18. Jahrhunderts einschließlich Bachs, Haydns, Mozarts und des frühen Beethoven verlangen. Er ist darin seiner Zeit etwa hundert Jahre voraus: in seiner Oktaven- und Sprungtechnik wird er erst durch Chopin und Liszt (Campanella) übertroffen, in seiner Repetionstechnik erreicht ihn nur Liszt (13. Rhapsodie), in der Überschlagstechnik ist er vollends unerreicht geblieben. Aber diese virtuosen Stücke geben nur einen unvollkommenen Eindruck von dem musikalischen Reichtum, der in vielen anderen lebt, in denen Anmut des Vortrags gelehrt wird. Wie oft schlägt Scarlatti dabei satztechnisch allen Schulregeln ins Gesicht, aber es klingt! Im Gegensatz zu Bach und Händel hat sich Scarlatti völlig von der Generalbaßzeit und ihrer Technik gelöst. Nur in einigen frühen Suiten, die auch musikalisch unbedeutend sind, schreibt er einen zweistimmigen Satz, bei dem man an eine harmonische Ausfüllung denken könnte; in den späteren Sonaten kann keine Note zugefügt und keine weggelassen werden.
Aber für welches Instrument hat er eigentlich geschrieben? Man hat seither seine Sonaten für ideale Cembalomusik gehalten, aber muß es dann nicht befremden, daß er die Klangmöglichkeiten des Cembalos Gegenüberstellung zweier Manuale, Terrassendynamik durch Gegenüberstellung von 8' allein und vollem Werk nirgends vorschreibt oder in Rechnung zieht? Ja, macht sein ganzer Stil nicht vielmehr den Eindruck einer Musik für Hammerklavier? Da gibt es Oktaven in beiden Händen, was dem Cembalo direkt widerspricht, Stimmkreuzung, die auf dem Cembalo selten befriedigend klingt, glissando (!), was auf dem Cembalo fast unausführbar ist, und vieles andere! In diesem wichtigsten, noch völlig ungeklärten Punkt hat uns Kirkpatrick ein Stück weiter gebracht. Er hat festgestellt, daß Scarlatti in Madrid nur ein-manualige Cembali zur Verfügung gehabt hat mit Ausnahme eines einzigen, das wahrscheinlich 8', 4' und 16' besaß, die vielleicht auf zwei Manuale verteilt waren. Die Königin besaß aber nicht nur 7 Cembali (die auf die verschiedenen Schlösser verteilt waren), sondern auch 5 Pianoforti von Christofori oder einem seiner Schüler!
So erhebt sich die Frage, ob Scarlatti seine Sonaten nicht viel mehr für das Pianoforte als für das Cembalo geschrieben hat. Kirkpatrick verneint diese Frage: die ersten Pianofortes, deren der Hof fünf besaß, hatten nicht den Klangreichtum eines großen Cembalos, auch nicht den Tonumfang, den die großen Sonaten von Scarlatti verlangen. Mögen die beigebrachten Zeugnisse auch noch keine endgültige Entscheidung zulassen, so sind sie doch bedeutungsvoll, weil sie zeigen, daß Scarlatti das Hammerklavier zum mindesten gekannt und gespielt hat und wohl auch in seiner Phantasie von dem weicheren, biegsameren Ton dieses neuen Instruments beflügelt worden ist.
Man hat seither Scarlatti hauptsächlich auf seine Formgebung hin untersucht, aber das ist der schwächste Punkt seiner Musik und bei weitem nicht der wichtigste. Bei der Schöpfung der klassischen Sonatenform waren die Italiener maßgebend beteiligt, ebenso Philipp Em. Bach, die Mannheimer usw., Scarlatti hat sich offensichtlich für diese Probleme wenig interessiert. Bezeichnend sind in diesem Sinne z. B. die stereotypen Schlußwiederholungen vor dem Doppelstrich, der den ersten Teil abschließt (während manche andere Wiederholungen offenbar pädagogische Bedeutung haben: der Schüler soll die schwierige Stelle gleich noch einmal spielen). Alfred Einstein schreibt in seinem geistvollen Buch "Größe in der Musik", daß Scarlatti trotz seines blendenden Stils nicht zu den wirklich Großen gezählt werden dürfe, weil er zu einseitig sei; es genüge, von den 500 Sonaten 30 zu kennen.
Ich möchte das bezweifeln. Alle mir bekannten Auswahlsammlungen der Sonaten geben ein unvollständiges Bild, von diesem Typus genügen allerdings dreißig; hinter dem liegt aber, noch ungehoben, "der unbekannte Scarlatti", den es wieder zu entdecken gilt (2). Dann wird man aber den Empfindungsreichtum dieser Sonaten nicht genug bewundern können. Denn sie sind viel mehr als etwa nur eine hohe Schule des Klavierspiels sie sind ein Mikrokosmos der Musik und in ihrer Art ebenso universal wie das Wohltemperierte Klavier, die Sonaten von Beethoven und die Klavierwerke von Chopin.
(1) Ralph Kirkpatrick, Domenico Scarlatti, Princeton University Press, 1953, 459 Seiten.
(2) Eine umfassende Neuausgabe der Sonaten von Scarlatti ist in Vorbereitung.
Quelle:
Musica, 48, 1954, S. 436 - 439