1954 · Takt und Zählzeit

Musik im Unterricht

Ist es nicht eine Vermessenheit, über ein so elementares Thema in einer Zeitschrift für Musiker und Musikerzieher einiges Grundsätzliches sagen zu wollen? Ich würde es nicht wagen, wenn mich nicht die tägliche Erfahrung belehrt hätte, daß es viele Musiker, selbst unter den konzertierenden Künstlern, gibt, die über diese Fragen, von denen für den Vortrag in der Musik alles abhängt, sich schon lange keine Gedanken mehr gemacht haben. Vor zweihundert Jahren scheint Leopold Mozart dieselbe Erfahrung gemacht zu haben, da er in seinem "Versuch einer gründlichen Violinschule" (1756) schreibt: "Man muß nicht nur den Takt richtig und gleich schlagen können: sondern man muß auch aus dem Stücke selbst zu errathen wissen, ob es eine langsame oder geschwindere Bewegung erheische ... Wenn auch gleich der Componist die Art der Bewegung durch Beifügung noch andrer Beywörter und Nebenwörter deutlicher zu erklären bemühet ist; so kann er doch unmöglich jene Art aufs genaueste bestimmen, die er bey dem Vortrage des Stücks ausgedrücket wissen will. Man muß es also aus dem Stücke selbst herleiten: Und hieraus erkennt man unfehlbar die wahre Stärke eines Musikverständigen. Jedes melodische Stück hat wenigstens einen Satz, aus welchem man die Art der Bewegung, die das Stück erheischet, ganz sicher erkennen kann. Ja oft treibt es mit Gewalt in seine natürliche Bewegung; wenn man anders mit genauer Achtsamkeit darauf siehet. Man merke dieses und wisse aber auch, daß zu dieser Erkenntnis eine lange Erfahrung und eine gute Beurtheilungskraft erforderet werde. Wer wird mir also widersprechen, wenn ich es unter die ersten Vollkommenheiten der Tonkunst zähle?"

Was Leopold Mozart meint, ist nicht nur das richtige Zeitmaß, sondern noch mehr der Pulsschlag der Musik, ihr inneres Zeitmaß, das, was hier unter dem Begriff der Zählzeit verstanden werden soll. Wer diese Zählzeit nicht erfüllt, wird trotz aller Bemühungen um Dynamik, Phrasierung usw. ein Stück niemals richtig vortragen können. Ein drastisches Beispiel möge das klarmachen: die sogenannte Mondscheinsonate op. 27, Nr. 2 von Beethoven. Das Zeitmaß des ersten Satzes ist Adagio sostenuto; fast alle mir bekannten Metronomisierungen nehmen daher das Viertel als Zählzeit und schreiben etwa Viertel = 60 - 63 vor. Beethoven schreibt aber Alla breve vor, also ist die Halbe die richtige Zählzeit, und das Zeitmaß muß etwa Halbe = 40-42 sein! Es ist der langsamste Pulsschlag, den wir noch erfühlen können, und die geradezu überirdische Gelöstheit, das Schwebende dieses Satzes kann nur der fühlen und zum Ausdruck bringen, der Halbe zählt. Trotz der metronomisch gemessen rascheren Bewegung ist dabei das innere Zeitmaß ruhiger, wenn Halbe gezählt werden; die falschen Nebenakzente auf zwei und vier fallen weg. Umgekehrt ist es beim letzten Satz, der mit Presto agitato, aber C bezeichnet ist. Hier pflegen die Ausgaben Halbe = 84 anzugeben, das innere Zeitmaß ist aber Viertel = 168. Nur wer Viertel zählt, kann die atemlose Hast, das wie von einem Dämon Gehetztsein dieses Satzes richtig wiedergeben.

In diesem Fall war es nur nötig, die klare Vorschrift des Komponisten nicht zu übersehen. Es gibt aber zahllose Fälle, in denen diese Vorschrift nicht klar und eindeutig ausgedrückt ist. Wenn 2/4 oder 3/4 vorgezeichnet ist, ersieht man daraus nicht, ob Viertel oder Achtel oder, bei rascher Bewegung, Ganze gezählt werden sollen. Natürlich gibt die Tempovorschrift Anhaltspunkte, aber auch nicht mehr als das. So hat - um bei Beethoven zu bleiben - die Vorschrift "Vivace" im ersten Satz der Sonate op. 109 allen Herausgebern Schwierigkeit gemacht; sie versuchten, sie durch die Beifügung von "ma non troppo" abzuschwächen; die Diskrepanz der Tempovorschrift und des zarten, behutsamen Charakters der Musik löst sich aber mit einem Male, wenn man nicht das Viertel, sondern das Achtel als Zählzeit ansieht, also etwa Achtel = 152 - 168. Ein besonders interessanter Grenzfall ist der erste Satz der Eroica. Beethoven schreibt ganze Takte, Punktierte Halbe = 60, vor. Fast alle Dirigenten, von denen ich das Werk früher gehört habe, haben das Zeitmaß langsamer genommen und Viertel dirigiert, etwa Viertel = 152. Das stand, wie ich vermute (aber natürlich nicht beweisen kann), mit der früher üblichen programmatischen Deutung des Satzes als einer Darstellung des Lebens und der Taten des Helden im Zusammenhang, die mehr Taktakzente nötwendig machte, während wir heute den Satz viel mehr als absolute Musik auffassen, seine Einheitlichkeit mehr zum Ausdruck bringen, so daß er nun im Zeitmaß von Punktierte Halbe = 56 - 60 wiedergegeben werden kann. Landdirigenten, die Oratorien aufführen, pflegen Chorsätze im 4/4-Takt mit Sechzehntelbewegung meist durchgehend mit Achteln zu dirigieren; so gut der Chor einstudiert sein mag, die falsche Zählzeit zerhackt die ganze Fuge, und das Gefühl lähmender Langeweile, das uns so oft bei Provinzaufführungen Bachscher oder Händelscher Werke überkommt, hat seine Hauptursache darin. Aber auch der erfahrene Künstler wird bei einem 2/4-Takt in mäßiger Bewegung sich zu besinnen haben, ob er Viertel oder Achtel zählen soll. So hat Czerny den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Bach völlig mißverstanden, indem er lebhafte Viertel (Viertel = 112) als Zählzeit angesetzt hat. Das reich erfüllte Innenleben jedes Taktes legt es aber viel mehr nahe, lebhafte Achtel zu zählen, etwa Achtel = 152 - 168; in diesem Fall wird trotz des metronomisch langsameren Tempos der Eindruck lebendiger sein als bei der Auffassung Czernys, nach der sich hundert Jahre lang unzählige Pianisten und Klavierlehrer gerichtet haben. Es ist aber klar, daß hinter jeder als maßgebend empfundenen Zählzeit die nächst höhere im Hintergrund steht, hinter dieser, entsprechend schwächer, wieder die höhere, ein Vorgang, auf den zuerst H. Riemann aufmerksam gemacht hat. Wenn der Komponist kleine Takte notiert, so tut er es, um diesen Großrhythmus jederzeit aufgeben zu können, ohne die Taktvorzeichnung ändern zu müssen. Wenn Bach den zweiten Satz des Italienischen Konzerts mit "Andante" bezeichnet, so ist klar, daß die gehende Bewegung sich auf die Achtel bezieht, also etwa Achtel = 84; man könnte sich aber auch die Vorschrift Adagio denken, müßte aber dann bei metronomisch gleichem Tempo Viertel = 42 zählen. Fast alle Geiger pflegen die langsamen Sätze der Konzerte und Sonaten Bachs viel zu langsam zu nehmen, da sie langsame Achtel zählen statt langsamer Viertel; dasselbe gilt von manchen Arien Bachs, etwa der "Erbarme dich", Arie aus der Matthäuspassion, die zur Karikatur wird, wenn die Sängerin Achtel statt punktierter Viertel empfindet; ebenso ist es mit der Altarie aus dem Messias "O du, die Wonne verkündet in Zion", um nur zwei der am meisten mißhandelten Arien zu nennen. Dagegen ist die erste Fuge des Wohltemperierten Klaviers, bei der in jedem Achtel etwas geschieht, in einem entschlossenen, mäßig lebhaften Achteltempo zu nehmen, wenn alle vier Stimmen lebendig deklamiert werden sollen. Wird aber das Adagio (As-Dur) aus dem Septett von Beethoven in seinem 9/8-Takt in Achteln musiziert, so fühlt man, wie sich die zu vielen Betonungen wie Bleigewichte an die Melodie hängen; ohne das Tempo metronomisch zu verändern, kann der größere Atem der Viertel den Satz retten.

Beispiele dieser Art ließen sich mit Leichtigkeit vermehren; es soll hier aber nur noch auf einen Punkt bei Bach aufmerksam gemacht werden, der schon den Herausgebern der Ausgabe der Bachgesellschaft aufgefallen ist: die bei Bach häufig sich findende Vorzeichnung (Alla breve in Sätzen, bei denen kein Zweifel sein kann, daß in ihnen das Viertel Zählzeit ist, z.B. die Eingangssätze des Klavierkonzerts in d-Moll und A-Dur, des 3. und 5. Brandenburgischen Konzerts, des Orgelpräludiums Es-Dur und vieler anderer, Rust neigte zur Annahme, die Vorzeichnung Alla breve habe bei Bach überhaupt keine besondere Bedeutung. Vergleicht man aber die von Bach mit Alla breve bezeichneten Sätze mit ähnlichen, bei denen C vorgeschrieben ist, so sieht man, daß im ersteren Fall der Gang der Harmonie einfacher ist, der Harmoniewechsel in der Regel nur auf eins und drei erfolgt, so daß die Halbe, die als höhere Zählzeit im Hintergrund steht, stärker empfunden wird, als in den Fällen, in denen Bach das Viertel als Zählzeit angegeben hat.

Seit Erfindung des Metronoms hat der Komponist, wenn er sein Werk selbst metronomisiert, die Möglichkeit, die Zählzeit genau und unmißverständlich anzugeben. Manche Komponisten, z.B. Brahms, haben aber darauf bewußt verzichtet, und für sie wie für die gesamte Musik von Beethoven an rückwärts bleibt das Problem der Zählzeit offen; die richtige Zählzeit zu finden, gehörte zu den Erfordernissen des Vortrags, die der Spieler selbst erfühlen mußte. In der heutigen Zeit, da man den Begriff der Werktreue oft fälschlich so auslegt, daß man sich bemüht, peinlich genau das zu spielen, was dasteht, und nichts zu spielen, was nicht dasteht, ist es notwendig, von Zeit zu Zeit auf derartige Dinge aufmerksam zu machen, die hinter den Notenköpfen stehen, aber ebenso wichtig sind wie diese selbst.

Quelle:
Musik im Unterricht, Mai 1954