1955 · Künstler und Wissenschaftler

Musikleben

Wissenschaftler: Guten Morgen, Herr Kollege, Sie fahren auch nach Bonn? Wie nett, daß wir uns hier mal sehen, sonst ja leider selten genug!
Künstler: Gewiß, wir leben in derselben Stadt, meine Musikhochschule und Ihre Universität sind nur eine Viertelstunde voneinander entfernt, und doch leben wir wie auf verschiedenen Planeten.
Wissenschaftler: Ja, der leidige Zeitmangel!
Künstler: Ist es nur das?
Wissenschaftler: Was denn sonst?
Künstler: Ja, wie soll ich es sagen - ich habe manchmal das Gefühl, daß wir Musiker uns in einer Art Verteidigungszustand gegen den übermächtigen Einbruch der Wissenschaft in unsere Kunst befinden!
Wissenschaftler: Das verstehe ich nicht, wir helfen Ihnen ja, wo wir können. Denken Sie doch an die ungeheure Hilfe, die die Musikwissenschaft dem praktischen Musiker bietet mit Denkmälern der Tonkunst, mit Urtextausgaben, Forschungen zur Aufführungspraxis, mit Musikgeschichtswerken, Biographien, Spezialstudien zu einzelnen Stilen und Gattungen und was noch alles, ich geniere mich fast, vor Ihnen das aufzählen zu müssen! Und dagegen wollen Sie sich auch noch verteidigen?
Künstler: Natürlich wissen wir, daß wir ohne die beständige Hilfe und Korrektur durch die Musikwissenschaft nicht existieren könnten. Und wir sind dankbar dafür. Wie hat sich doch unser Horizont erweitert seit der Zeit, da wir beide studierten! Aber wenn ich an unsere jungen Leute denke: denen hängt manchmal die Musikwissenschaft wie ein schwerer Ballast an den Füßen. Und jedes Jahr wird er schwerer. Glauben Sie wirklich, daß sie bessere Musiker werden, wenn sie immer noch mehr wissen müssen, mehr als sie verdauen können? Und, ganz grundsätzlich gesprochen: sind Kunst und Wissenschaft nicht zwei Großmächte, jede souverän, keine der anderen unterstellt, jede mit ihrer eigenen Gesetzgebung? Wir haben aber heute schon Studierende, die mehr wissen als können, ein unleidlicher Zustand für den praktischen Musiker, das werden Sie mir zugeben.
Wissenschaftler: Wenn das ein Vorwurf gegen uns sein soll, so trifft er uns nicht. Aufgabe der Wissenschaft ist es, das Wissen ständig zu vermehren; was die Praxis davon annehmen und - mit Ihrem Ausdruck - verdauen kann, das geht uns nichts an. Aber die Zeiten, in denen ein begnadeter (oder ein sich dafür haltender) Künstler mit nachtwandlerischer Sicherheit seinen Weg ging, die sind vorbei.
Künstler: Glücklicherweise - wenn es sie überhaupt gegeben hat. Heute sehen wir eher das Gegenteil: Leute, die vor lauter Ehrfurcht vor der Gelehrsamkeit nicht mehr wagen, Künstler zu sein. Sie schreiben im Seminar gelehrt aussehende Arbeiten über den Improvisationsstil des 17. und 18. Jahrhunderts, aber selber riskieren sie gar nichts. Wenn Mozart in seinen Klavierkonzerten den Klavierpart mit Cembalo überschreibt, dann meinen sie, man müsse das wirklich stilecht auf dem Cembalo spielen! Und wie oft hören Sie heute alte Musik blutleer und ausdruckslos gespielt oder gesungen, nur aus Respekt vor der wissenschaftlichen Werktreue!
Wissenschaftler: Die bekämpfen wir genau so wie Sie. Aber die Schuld daran trägt nicht die vermaledeite Wissenschaft, sondern der heute überall herrschende Intellektualismus. Auch die Komponisten bejahen ihn ja grundsätzlich, z.B. Hindemith, wenn er in seiner "Unterweisung im Tonsatz" sagt, daß sich "der Trennpunkt zwischen bewußtem und unbewußtem Tun außerordentlich weit hinauftreiben läßt".
Künstler: Ja, die Folge ist, daß wir heute ein Kunstwerk viel mehr betrachten als genießen. Das, was man früher maliziös einen "wissenschaftlichen Genuß" nannte, das ist heute das Normale.
Wissenschaftler: Darf ich einwenden, daß diese Art von Genuß fester gegründet und dauerhafter ist als der romantische Gefühlserguß ...?
Künstler: Gemach -, glauben Sie wirklich, daß die erste Fuge des Wohltemperierten Klaviers anders besser wird oder anders besser verstanden wird, wenn ich weiß, daß das Thema aus 14 Tönen besteht, weil b + a + c + h = 2 + l + 3 + 8 = 14 ist!? Selbst wenn Bach daran gedacht haben sollte, und wenn das Thema wirklich aus 14 Noten bestehen sollte (was beides nicht sicher ist), hat das mit der Fuge irgend etwas zu tun?
Wissenschaftler: Das wissen wir nicht. Aber alle derartigen Untersuchungen schieben die Grenze dessen, was rational erfaßbar ist, weiter hinaus, und das zu tun, ist unsere Aufgabe, ob sie Ihnen gefällt oder nicht.
Künstler: Das Schlimme ist nur, daß wir allmählich einen geradezu abergläubischen Respekt vor der Wissenschaft bekommen haben: Roma locuta, causa finita! Da hat doch Smend herausgebracht (was man übrigens doch schon immer gewußt hat), daß die h=Moll=Messe kein organisches Ganzes sei - und gehorsam führen fast alle Bachdirigenten seither nur mehr das Kyrie und Gloria als "Missa" auf! Als ob die fehlende musikalische Einheit (die leicht zu beweisen ist) nicht durch die Einheit des Messetextes ersetzt würde und auch durch eine hundertjährige Tradition? Ich schlage vor, Smend ein Denkmal zu setzen; "Dem Zertrümmerer der h=Moll=Messe, die dankbare Bachgemeinde".
Wissenschaftler: Ich gestehe, daß ich die scharfsinnigen Ausführungen von Smend mit Interesse und - ja ich möchte sagen - mit Genuß gelesen haben.
Künstler: Haben Sie auch das mit Genuß gelesen, was in einem der letzten Bachjahrbücher, also im zentralen Organ der Bachforschung, über den zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers gestanden hat?
Wissenschaftler: Ich gestehe, das ist mir entgangen.
Künstler: Da ist Ihnen wirklich etwas entgangen. Diese 24 Präludien und Fugen bedeuten nämlich die christliche Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht: Das C=Dur=Präludium den Schöpfungsakt Gottes, in der Fuge wimmelt es dann von erschaffenen Wesen, im c=Moll=Präludium naht listig der Versucher, das E=Dur=Prälu-dium bedeutet das Urteil Salomos, fis=Moll=Präludium und Fuge den zwölfjährigen Jesus im Tempel und so weiter bis zum B=Dur=Präludium, wo Jesus am Kreuz hängt (!), aber schon den Himmel offen sieht, und zum Schluß die h=Moll=Fuge, wo alles übereinanderpurzelt.
Wissenschaftler: Ich kann Ihre Empörung nachfühlen, aber die Wissenschaft hat, soviel ich weiß, weder dafür noch dagegen Stellung genommen, d.h. sie läßt einen solchen Versuch, wenn er konsequent einen Gedanken verfolgt, gelten, auch wenn er sich möglicherweise als mißlungen herausstellen sollte.
Künstler: Ist das nicht allzu bequem und friedlich gedacht? So wie ja auch die Wissenschaft sich ängstlich davor hütet, Werturteile auszusprechen, Werturteile, an denen uns Praktikern vor allem andern gelegen ist! Jeder Musiker hat diesen Zentralbegriff in sich, auch wenn er ihn nicht erklären oder zergliedern kann.
Wissenschaftler: Auch das fehlt bei uns nicht ganz, wenn es auch - da muß ich Ihnen recht geben - sehr zurücktritt. Kennen Sie Einsteins "Größe in der Musik"?
Künstler: Ja, solche Bücher sind nach unserem Geschmack, nur sind sie viel zu selten. Wir möchten auch in den Biographien großer Meister nicht nur immer Lobeserhebungen lesen. Man sollte auch von den Schwächen der Meister reden dürfen. Wie manche Biographen glauben, sie müßten auch das letzte Stäubchen vom Sonntagsanzug ihres Helden wegbürsten! Meint man denn wirklich, daß solche Einschränkungen dem Ruhm eines Meisters schaden könnten? Ebenso unkritisch verfährt die Wissenschaft bei Neuausgaben alter Musik: Nehmen Sie z. B. die Kantaten von Buxtehude. Kann man sich etwas Ärmlicheres an Form und Erfindung vorstellen als die Kantate "Lobet, Christen, euren Heiland"?
Wissenschaftler: Vielleicht mögen Sie auch da recht haben mit diesem Urteil, aber, ich muß es noch einmal sagen, das darf nicht unser Standpunkt sein. Die Wissenschaft hat das Werk eines Meisters vollständig vorzulegen, die Entscheidung über den Wert bleibt den Musikern vorbehalten.
Künstler: Das ist nun wieder zu bescheiden! Gerade von euch Wissenschaftlern möchten wir das objektive Urteil hören, das wir uns so oft selber nicht zutrauen. Aber ihr macht es uns oft allzu schwer, durch den Panzer eurer Fachgelehrtensprache durchzudringen. Man hat manchmal den Eindruck, als ob ihr es direkt darauf anlegen würdet, unbefugte Eindringlinge fernzuhalten!
Wissenschaftler: Die Musikwissenschaft kann auf ihre Fachsprache so wenig verzichten wie irgendeine andere Wissenschaft. Aber sie bemüht sich doch auch, gerade in Biographien und Musikgeschichten einem größeren Leserkreis entgegenzukommen.
Künstler: Ja, da steigt sie gnädig zu uns herab, aber dann werden automatisch auch die Ansprüche an das Musikverständnis des Lesers so nieder angesetzt, daß der Musiker sich verstimmt fühlt. Und wenn wir in das Dickicht eurer Fachpublikationen vordringen, wie oft bietet ihr uns da Steine statt Brot! Sollen wir uns etwa für den Streit zwischen Ficker und Besseler über die Anfänge des Faux Bourdon interessieren?
Wissenschaftler: Solche Florettgefechte sind doch auch in ihrer Art notwendig und außerdem für den Außenstehenden ergötzlich. Aber ich hoffe doch, daß das nicht das einzige Vergnügen ist, das unsere Wissenschaft zu bieten hat?
Künstler: Nein, aber ich fühle, mehr als ich es beweisen kann, daß sich die Wissenschaft allzusehr vom Kunstwerk zurückzieht und versucht, ihm von außen beizukommen. Wieviel Unsinn haben doch die Theologen schon über Bach und Schütz geschrieben! Und um wieviel mehr haben die Historiographien die äußere Biographie der Meister erhellt als die innere, auf die es einzig ankommt.
Wissenschaftler: Vielleicht haben Sie wieder recht, aber Sie verlangen Unmögliches von uns. Vergessen Sie doch nicht, daß die Musik keinen Stoff hat wie die Dichtung und die bildende Kunst, von dem man ausgehen, den man in Händen halten könnte.
Künstler: Das ist wahr. Um so mehr brauchen wir einander. Es ist viel gewonnen, wenn wir überhaupt miteinander ins Gespräch kommen wie eben ...
Wissenschaftler: Ein andermal auf Fortsetzung!
Künstler: Hoffentlich bald! Auf Wiedersehen!
(Sie gehen auseinander und sehen sich ein Jahr später beim nächsten Kongreß wieder.)

Quelle:
Musikleben, September 1955