1956 · Die h moll Sonate von Franz Liszt
Beitrag zur Festschrift für Hans Mersmann
Lieber Herr Mersmann!
In der langen Schar der Gratulanten zu Ihrem Geburtstag möchte auch ich mich bescheiden anstellen und Ihnen meine Glückwünsche darbringen. Aber was soll ich Ihnen an Selbstverfertigtem schenken, was Sie nicht schon besässen und besser, als ich es Ihnen geben könnte, und grundsätzliche Gedanken zur Musikerziehung in Verbindung mit Neuer Musik oder Fragen des Hochschulstudiums in Musik und vieles Ähnliche werden Ihnen von anderer, berufenerer Seite dargebracht werden, etwas Persönliches soll es sein, was nun? Da kam ich auf den Gedanken, Sie einfach einzuladen, einer Vorlesung von mir beizuwohnen, und zwar einer Vorlesung über die h moll Sonate von Liszt, die ich gestern im Rahmen meiner Vorlesung über die musikalische Romantik (1830 1850) in der Technischen Hochschule in Stuttgart gehalten habe. Der grosse Hörsaal, der, wenn ich im Winter und über Bach spreche, fast ganz voll ist, ist kaum zum 4. Teil besetzt, weil es Sommer ist und ich über Romantik spreche. Ich denke mir nun Sie mit nachsichtig-gütigem Lächeln in der ersten Reihe sitzen und beginne.
Sie hörten das letzte Mal die b moll Sonate von Chopin; Liszt ist eine bedeutend weiter ausgreifende Erscheinung, sein Lebens- und Wirkungskreis ist reicher als der Chopins, aber er ist auf keinem Gebiet zu einer Konzentration gelangt, wie Chopin in seinem einzigen Gebiet, der Klaviermusik. Man kann Liszt unter verschiedenen Aspekten betrachten: als genialen Virtuosen und als Virtuosen-Komponisten, als Programm-Musiker in seinen Symphonischen Dichtungen, als Vorkämpfer der sogenannten neudeutschen Richtung, als Vater Cosimas, der zweiten Gattin von Richard Wagner.
Er ist 1811 in Ungarn von deutschen Eltern geboren, hat sich aber immer als Ungar gefühlt. Trotzdem hat die ungarische Folklore für ihn eine viel geringere Bedeutung als die polnische für Chopin: ausserhalb der ungarischen Rhapsodien tritt sie kaum hervor, vielmehr ist sein Stil international, europäisch. Bis 1847 führt Liszt das Leben eines international gefeierten reisenden Virtuosen, dann aber tritt eine Wendung in seinem Leben ein: unter dem Einfluss der fanatischen, in ihrer Ehe unbefriedigten, reichen Fürstin Wittgenstein, die er in Kiew kennenlernt, gibt er das Virtuosentum auf, zieht mit ihr nach Weimar, wirkt für eine Regeneration des Musik- und Theaterlebens in Deutschland, stellt sich als Komponist hohe Aufgaben (symphonische Dichtung, Faust-Symphonie u.a.). Hier zeigt sich aber, dass sein Charakter, vielleicht infolge einer zu langen und zu starken Verwöhnung durch Huldigungen nicht zur Reife und zur Vertiefung gekommen ist.
Diese Werke halten strengen Massstäben nicht stand. Während bei Chopin das Leben nur die farblose Folie für seine Kunst ist, sehen wir bei Liszt das Gegenteil: ein reiches, grosses, verschwenderisches auch verschenkendes Leben, von dem die Kunst nur einen Abglanz darstellt. Wer sich heute nur an die Werke hält, wird Liszt abschätzig beurteilen (das ist heute die Regel); wer seine Werke als Spiegel seiner reichen Persönlichkeit auffasst, der wird ihn richtig verstehen und lieben (zu der kleinen Gruppe dieser Menschen zähle ich mich). Aber auch, wenn man ihn liebt und zu verstehen glaubt, muss man sich darüber klar sein, wie verschieden im Wert seine Kompositionen sind. Manche sind so schludrig hingeworfen, dass man peinlich berührt ist, manche sind in einem Wurf genial geworden. Aufschlussreich ist ein Vergleich der Etuden von Chopin und der Etuden von Liszt. Chopins Etuden sind eine Hohe Schule des Klavierspiels, die niemand umgehen kann, sie haben ihren Wert heute wie vor hundert Jahren. Liszts Etuden dagegen kann man nur spielen, wenn man eine Hohe Schule schon durchgemacht hat; man lernt an ihnen nicht, sondern zeigt, was man gelernt hat. Zudem: während in Chopins Etuden jede Note sitzt, jede Etude bis zum Letzten ausgearbeitet ist, finden sich in den 12 grossen Etuden erbärmlich schwache Stücke. So muss man also bei Liszt auswählen und werten. Da uns hier die Zeit von 1830 1850 beschäftigt, so handelt es sich nur um Klaviermusik, und diese möchte ich in aufsteigender Linie in vier Gruppen einteilen:
Die unterste Gruppe das sind die Phantasien über beliebte Themen aus Opern, reine Salonmusik, die uns ein ebenso deutliches Bild der reichen Pariser Gesellschaft dieser Jahrzehnte gibt wie die Literatur über diese Zeit (Flaubert, Balzac, Stendal). Auch die Paraphrasen über Lieder von Schubert gehören dahin.
Die zweite Gruppe bilden die Charakterstücke, in denen Liszt Eindrücke von seinen Reisen festgehalten (Années de pelerinage), Natureindrücke, oder Eindrücke von Dichtungen (Petrarca-Sonnette) oder von Bildern (Sposalizio von Rafael) oder religiös-philosophische Schwärmereien (Bénédiction de Dieu dans la solitude, nach Lamartine) u.v.m. Gerade die Bénédiction de Dieu ist ein Beispiel dafür, was Liszt voraussetzt, wenn man ihn verstehen will: eine Einfühlung in das Gedicht, das ihn inspiriert hat "D"ou vient, mon Dieu, cette paix qui m"inonde? D"ou me vient cette foi dont ma coeur surabonde, usw.) Wer das in sich aufnehmen und nachempfinden kann, der erlebt in Liszts Musik ein Sichauflösen in höheren Sphären, das von ferne dem Erlebnis der mittelalterlichen Mystiker nahe kommt; wer nur die Noten liest und spielt, hört nichts weiter als ein unaufhörliches Geklingel in Fis dur, und, da man von einem Konzertpublikum nur die zweite Haltung erwarten kann, ist es unmöglich, dieses grossartige Stück öffentlich zu spielen. Neben solchen genialen stehen aber auch flache und abgeschmackte Stücke wie die Tellkapelle und andere in den Années de pelerinage.
Die dritte Gruppe bilden Liszts Beiträge zur Virtuosenliteratur im engeren Sinn, seine Etuden, von denen ich schon gesprochen habe. Man glaubte damals, Liszt habe die Virtuosität bis an die Grenzen des Erreichbaren vorgetrieben. Die Folgezeit hat gezeigt, dass sie ständig erweitert worden sind: durch die Generation der eigentlichen Lisztschüler, besonders durch Busoni weiterhin (Übertragung der Chaconne von Bach), weiterhin durch Reger (Bachvariationen), durch Debussy und Ravel, durch die Modernen aber jetzt scheint wirklich eine Sättigung eingetreten! Schon die 6. Paganini-Etude von Liszt (Variation über die 24. Caprice für Violine allein) ist durch Brahms Paganini-Variationen überboten worden!
Die vierte Gruppe wird nur durch ein einziges Werk gebildet, das Werk, dem die heutige Vorlesung gilt, die Sonate in h moll.
Sie ist zwar erst ein paar Jahre nach 1850 entstanden, (1852/53) Schumann zugeeignet, der seine grosse Phantasie op. 17 seiner Zeit Liszt gewidmet hatte (beide Widmungen sind zugleich programmatische Erklärungen: so mache ich es!). Sie ist nicht nur Liszts bedeutendstes Klavierwerk, sondern auch der einzige mit zulänglichen Mitteln unternommene Versuch, die Sonatenform im Sinn des Fortschrittsgedankens weiter zu entwickeln. Bei den Romantikern fällt Aussage und Form nicht mehr zusammen wie bei Haydn und Mozart und dem frühen Beethoven. Schubert ist das nach meiner freilich sehr persönlichen Ansicht nur zweimal gelungen: im ersten Satz der h moll Symphonie und im 1. Satz der Sonate op. 42. Beidemale sind damit Kunstwerke höchsten Ranges entstanden. Weber, Mendelssohn, Schumann, Brahms in seinen drei Klaviersonaten, haben an den Fundamenten der Sonatenform nicht gerüttelt. Liszt tut es, indem er alle vier Sätze in einem zusammenfasst. In diesem einen Satz sind aber unschwer ein erstes Allegro, ein langsamer Teil, ein scherzoartiger Teil (das Fugato), ein Finale und eine Coda zu erkennen. Wäre das alles, so wäre die Sonate nicht "moderner" als Schuberts Wandererphantasie, die in ihren vier Sätzen ohne Pause zwischen den Sätzen und überdies mit einer alle vier Sätze durchziehenden einheitlichen Thematik gestaltet ist. Liszt geht aber noch weiter: Neben der Viersätzigkeit kann die Sonate auch wie ein riesenhaft erweiterter erster Satz aufgefasst werden: man darf dann nicht von Thema, sondern muss wie bei Bruckner von Themengruppen sprechen. Dann schliesst die zweite, lyrische Themengruppe, vor dem Fugato, dieses selbst trägt den Charakter einer allerdings kurzen Durchführung, dann folgt die Reprise (abgekürzt) und die Coda. Eine eingehende Analyse zu geben, wäre sinnlos, denn eine Analyse hat nur Sinn, wo das Einzelwerk zu einer fest gegebenen Form in Beziehung tritt, also in einer normalen Sonate. In einem Einzelwerk, das in dieser Formgebung keine Vorläufer und keinen Nachfahren gehabt hat, ist die Form noch flüssig, noch nicht erstarrt. Die ganze Sonate macht ja den Eindruck einer genialen Improvisation und muss auch so gespielt werden. Liszt unterschied zwischen komponieren und dichten. Komponieren, das war eine schulmässige Angelegenheit, nach gegebenen Regeln eine dreiteilige Liedform, ein Rondo, eine Sonate "zusammenzusetzen". Der Künstler soll dichten (so wie Beethoven über seine Ouvertüre zu Coriolan gesetzt hatte "gedichtet von L. v. B."). Auch über die Verwandlung und Weiterentwicklung der Themen brauche ich hier nicht zu sprechen. Auch diese Sonate hat Schwächen wie alle Werke Liszts, aber wir werden über sie hinübergetragen. Und nun sollen Sie sie hören; Erwin Kemmler, ein früherer Schüler unserer Musikhochschule (H. v. Besele) und dann von Alfred Cortot, wird sie jetzt spielen.
Quelle: Schreibmaschinen-Manuskript