1957 · Gibt es eine h-Moll-Messe von Bach?

Musik und Kirche / Universitas

Eine Frage zu stellen wie die obige, wäre noch vor kurzem als sinnlos, ja als lächerlich erschienen, denn es gab ja die h-Moll-Messe, ein Werk, in dem viele Kenner einen Gipfel des Bachschen Schaffens erblickten, ein Werk, dem man ehrfurchtsvoll den Namen einer "Hohen Messe" gegeben hatte. Auf Grund der Forschungsergebnisse von Friedrich Smend aber wäre es, wenn wir sie als richtig anerkennen, "nicht nur ein historisches Mißverständnis, sondern auch ein künstlerischer Fehlgriff, von einer Messe in h-Moll, oder gar von der Hohen Messe zu sprechen und alle Sätze vom Kyrie bis zum Dona hintereinander aufzuführen". Diese erregende These, der Versuch einer "Zertrümmerung der h-Moll-Messe" (wie ich sie an anderer Stelle halb scherzhaft genannt habe), legt uns die Verpflichtung auf, zu ihr Stellung zu nehmen, sie gewissenhaft nachzuprüfen, nicht mit Anrufung von Gefühls- oder Pietätsgründen, sondern mit dem Rüstzeug wissenschaftlicher Kritik.

Friedrich Smend darf wohl als einer der berufensten Bachkenner unserer Zeit gelten: Zugleich Theologe und Musikwissenschaftler, von seiner langjährigen Tätigkeit in der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek in Berlin her mit Bachhandschriften vertraut wie kein zweiter, als Deuter Bachs mit scharfsinnigen Forschungsergebnissen hervorgetreten, hat er alle diese Fähigkeiten auf die lange vernachlässigte Quellenforschung zur h-Moll-Messe gewandt; nachdem er Teilergebnisse schon im Bachjahrbuch 1937 veröffentlicht, auch mehrere Vorträge darüber gehalten hatte (z.B. auf dem Bachfest 1955 in Ansbach), hat er nun als Herausgeber der Messe in der Neuen Bachausgabe seine Forschungsergebnisse in einem rund 400 Seiten umfassenden Revisionsbericht niedergelegt. Der Leser dieses hochbedeutsamen Berichts fühlt sich durch die Unzahl exakter Einzelheiten der Quellenforschung und ihrer Auswertung förmlich erschlagen und gerät leicht in Gefahr, den Konjekturen und Vermutungen Smends, die bisweilen an einem recht dünnen Faden aufgehängt sind, von vornherein dieselbe Beweiskraft zuzugestehen. So ist es zu erklären, daß die Thesen von Smend sich so weit und widerspruchslos durchsetzen konnten, wie das heute der Fall ist.

Wir wissen ja nur wenig Sicheres über die Entstehung der h-Moll-Messe, aber dieses Wenige wird von Smend mit ein paar nebensächlichen Bemerkungen abgetan, weil es nicht in die Richtung führt, in die er den Leser führen möchte: daß die Messe ein Konglomerat einzelner, aus protestantischem Geist und für den protestantischen Gottesdienst geschriebener Teile darstelle. Wie verhält es sich damit?

Jedermann weiß, daß Bach nach dem Tod von August dem Starken (Januar 1733) bei dessen Nachfolger, Friedrich August III. ein Gesuch um die Verleihung eines Titels als Hofkapellmeister und Hof-Compositeur eingereicht hat. Er tat dies, weil er als Musikdirektor in Leipzig hatte "ein und andere Bekränckung unverschuldeterweise auch jezuweilen eine Verminderung derer mit dieser Function verknüpften Accidentien empfinden müssen, welches aber gänzlich nachbleiben möchte, daferne Ew. Königliche Hoheit mir die Gnade erweisen und ein Prädicat von Dero Hoff-Capelle conferiren und deswegen zur Ertheilung eines Decrets gehörigen Orts hohen Befehl ergehen lassen würden; solche gnädigste Gewährung meines demüthigsten Bittens wird mich zu unendlicher Verehrung verbinden, und ich offerire mich in schuldigstem Gehorsam, jedesmal auf Ew. Königlichen Hoheit gnädigstes Verlangen in Componirung der Kirchen-Musique sowohl als zum Orchestre meinen unermüdeten Fleiß zu erweisen ..." Dem Gesuch war eine aus Kyrie und Gloria bestehende "Missa" in Partitur und Stimmen beigefügt: "Ew. Königlichen Hoheit überreiche in tiefster Devotion gegenwärtige geringe Arbeit von derjenigen Wissenschaft, welche ich in der Musique erlanget, mit ganz unter-thänigster Bitte, Sie wollen dieselbe nicht nach der schlechten Composition sondern nach Dero Welt-berühmten Clemenz mit gnädigsten Augen anzusehen und mich darbey in Dero mächtigste Protection zu nehmen geruhen."

Niemand wird dieses Schreiben ohne Befremden lesen: Der erste Kirchenmusiker im protestantischen Sachsen bewirbt sich, weil er Ärger im Amt gehabt hat, bei seinem katholischen Landesherrn um einen Titel und übersendet nicht nur zwei Sätze des katholischen Ordinarium missae, die er zu diesem Behuf komponiert hat als Probe seines Könnens, sondern erbietet sich darüber hinaus, auf Verlangen noch weitere Werke für den katholischen Hofgottesdienst in Dresden und für das dortige Orchester zu schreiben! Schering meint wohl mit Recht, daß Bach Glück gehabt habe, daß dieses Angebot ignoriert worden sei; denn es hätte ihm wohl eine ernstliche Rüge seiner vorgesetzten Behörde eingetragen. Die konfessionellen Gegensätze waren ja in Sachsen besonders scharf, seitdem August der Starke (im Jahr 1698) zum Katholizismus übergetreten war, aus Opportunismus, um sich als König von Polen behaupten zu können. Auch der neue Kurfürst hatte Mühe, die Polen zu überreden, daß es nur zu ihrem Heile sei, wenn sie von Sachsen aus regiert würden; er mußte Aufstände niederschlagen, und Bachs Gesuch, das er am 27. Juli 1733 in der Dresdener Hofkanzlei abgegeben hatte (eine persönliche Audienz beim König wird er wohl kaum gehabt haben), blieb drei Jahre unerledigt liegen, die Messe wurde sicher nicht aufgeführt - vielleicht nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Den Titel erhielt Bach 1736 durch Fürsprache des Grafen Keyserling. Ob er ihm da noch wichtig war, wissen wir nicht, wichtiger ist, daß Bach daran ging, in großen Abständen die Messe nach und nach zu vollenden; das Credo (Symbolum Nicenum), von dessen Entstehungszeit weiter unten die Rede sein soll, das Sanctus, ohne das in der römischen und in der frühlutherischen Messe dazugehörende Osanna, wofür er eine bereits bestehende Komposition überarbeitete (etwa 1736), den Rest - vom Osanna bis zum Dona nobis pacem - etwa 1738/39. Diese vier Teile, jeder durch einen quergelegten Bogen zusammengehalten, jeder mit eigener Überschrift (s. die Facsimiles im Bachjahrbuch 1937 nach S. 2), zu einem Band zusammengeheftet - das ist das Autograph der Messe, das sich mit der Signatur P 180 heute in der Universitätsbibliothek Tübingen befindet.

Sind Aufführungen der Messe oder von Teilen daraus zu Bachs Zeit nachzuweisen? Die ganze Messe konnte weder damals noch heute im Hochamt der katholischen Kirche aufgeführt werden, da allein die Musik über drei Stunden beanspruchen würde (dieser Versuch ist m.W. nur ein einziges Mal gemacht worden: im Jahr 1950 im Kloster Einsiedeln in der Schweiz). Auch die einzelnen Sätze waren zu umfangreich für den Gottesdienst; Scherings Hypothese, Kyrie und Gloria seien vielleicht für die Königskrönung in Krakau in Aussicht genommen gewesen, aber nicht zur Aufführung gekommen, ist durch nichts zu belegen und heute wohl allgemein aufgegeben. Nur das Sanctus ist zu Lebzeiten Bachs auf katholischer Seite aufgeführt worden, von dem Reichsgrafen Sporck in Böhmen, der als Katholik zu den edlen Geistern gehörte, die sich im Zeitalter der Aufklärung um eine Versöhnung der Konfessionen bemühten. Spitta widmet ihm eine ganze Seite, Smend erwähnt ihn nur eben ganz am Rande. Leider wissen wir gar nichts darüber außer der Notiz von Bachs Hand, daß die Stimmen (zum Sanctus) beim Grafen Sporck seien, denn dieser starb bald darauf, seine Kapelle wurde aufgelöst, die Musikalien zum Teil zum Umwickeln der Bäume benutzt.

Was haben wir für Anhaltspunkte, daß die einzelnen Teile der Messe im protestantischen Gottesdienst Verwendung fanden? Auch da ist die sichere Überlieferung mehr als spärlich. Bach hat 1741 das auf drei Sätze zusammengestrichene Gloria als lateinische Weihnachtskantate aufgeführt, das beweist aber nur, daß er keine Lust hatte, eine neue Kantate zu komponieren. Dagegen ist wahrscheinlich das Sanctus für den Leipziger Gottesdienst bestimmt gewesen, wie auch die übrigen fünf einzelstehenden Sanctus-Sätze, die unter Bachs Namen überliefert sind, aber - zum Teil wenigstens - wahrscheinlich Übernahmen von Werken anderer Tonsetzer darstellen. Diesen Sätzen folgte kein Osanna. Das Sanctus ist aber nur einer von 24 Sätzen von Bachs Messe-Oratorium. Wie steht es mit den übrigen? In normalen Gottesdiensten konnten weder Kyrie, noch Gloria, noch Credo ihrer übermäßigen Ausdehnung wegen Platz finden. Smend konstruiert eine Möglichkeit für Kyrie und Gloria: Sie konnten vielleicht bei dem Gottesdienst anläßlich der Erbhuldigung für den neuen Landesherrn im April 1733 in der Thomaskirche aufgeführt worden sein. Smend meint, der König sei natürlich als Katholik nicht dabei gewesen, aber Angehörige seines Hofstaats, die ihm günstig über Bachs Kompositionen berichten konnten. Überliefert ist gar nichts, und Smends Hypothese ist ebenso unwahrscheinlich wie die Scherings von einer möglichen Aufführung in Krakau. Bei der bestehenden konfessionellen Spannung ist dieser Gottesdienst wahrscheinlich mit nicht mehr Aufwand als unbedingt nötig absolviert worden; außerdem, wie hätten sich die Dresdener Höflinge bei den 11 Sätzen mit ihrer zum Teil ungeheuren Ausdehnung gelangweilt! Noch schwieriger ist es für Smend, eine Aufführung des Credo in Leipzig glaubhaft zu machen: er meint, es könnte vielleicht bei der Einweihung der renovierten Thomasschule am 5. Juli 1732 zur Aufführung "gekommen sein,- im Gottesdienst, da für die Feier selbst Bach die Kantate "Froher Tag, verlangte Stunden" verfaßt hatte. Auch darüber ist nichts überliefert, und es ist mehr als unwahrscheinlich, daß Bach außer der Kantate noch das neunsätzige Credo aufgeführt habe. Der Anlaß dazu war zu unbedeutend, und zwei Kantaten an einem Tag aufzuführen, das wäre für Bach eine Ausweitung seiner Amtspflichten gewesen, die er sehr ungern übernommen hätte. Freilich: wenn erwiesen wäre, daß das Credo schon vor den beiden nach Dresden eingereichten Sätzen bestanden hätte, dann wäre der spezifisch protestantische Charakter der Messe um einiges wahrscheinlicher. Scherings Hypothese, daß das Credo im Herbst 1733 entstanden sei, weil sich eine Skizze zu dem Anfang des Duetts "Et in unum Deum" auf einem Blatt findet, das die auf den 5. September verfaßte Kantate "Herkules am Scheidewege" enthält, ist wohl auch nicht unwiderlegbar, hat aber doch mehr Wahrscheinlichkeit für sich; Blume erhebt (in MGG.) diese Wahrscheinlichkeit sogar zur Sicherheit.

Damit scheiden Kyrie, Gloria und Credo als Amtskompositionen Bachs für den Leipziger Gottesdienst aus, und es bleibt der Rest, der in Bachs Manuskript den vierten Teil bildet: Osanna bis Dona nobis pacem. Dafür war in der Liturgie kein Raum; Smend nimmt daher an, diese Stücke seien als Abendmahlsmusik verwendet worden. Was soll nicht schon alles damals Musik "sub communione" gewesen - selbst die vier Duette für Klavier im "Dritten Teil der Klavierübung"! Um die Andacht der Gläubigen zu vermehren, konnte andächtige Musik bei der Austeilung der heiligen Mahls gemacht werden, Orgelchoräle oder Instrumentalmusik, so wie ja auch heute noch da und dort das Abendmahl mit leisem Orgelspiel begleitet wird - aber lärmende Stücke mit Pauken und Trompeten, wie das Osanna? Das kann auch Smend wohl nicht annehmen.

Damit scheiden die Versuche aus, die Messe oder ihre Teile als gottesdienstliche Musik im engeren Sinn aufzufassen. Man muß Blume beistimmen, wenn er (MGG. Spalte 1000) schreibt: "Die Dimensionen, die Verstöße gegen den Wortlaut des römischen Hochamtes, die Aufnahme der im Leipziger lutherischen Gottesdienst wenig gebräuchlichen Teile Credo, Sanctus und Agnus Dei lassen das Gesamtwerk für beide Konfessionen ungeeignet erscheinen. Der Verwendungszweck bleibt daher ebenso zweifelhaft wie die Frage, ob die Messe als einheitliches Werk geplant war. Von der Gesamtform her (die freilich im vierten Teil Torso blieb) ist die Einheit der Gesamtplanung zu bejahen, von der Quellenlage her zu verneinen."

Ich möchte statt des letzten Satzes sagen: aus der Quellenlage allein nicht zu beweisen. Was hat es denn mit den angeblichen vier "Teilen" auf sich? Sind das wirklich Teile eines Kunstwerks? Kann man im künstlerischen Sinn von proportionierten Teilen reden, wenn im Klavierauszug der erste Teil 74 Seiten, der zweite 47, der dritte 15 (!), der vierte 20 Seiten umfaßt? Ist es nicht vielmehr so, daß Bach, da an eine Aufführung des ganzen Werks nicht zu denken war, diese vier Teile eben so zusammenfügte, wie sie entstanden waren, ohne daß wir darin eine künstlerische oder gar liturgische Absicht vermuten dürften? Jeder Kenner Bachs weiß, wie wohlabgewogen gerade bei ihm die Teile eines organischen Kunstwerks zum Ganzen stehen. Und hier, in einem seiner größten Werke, sollte er wie ein Dilettant vorgegangen sein?

Gehen wir nun zu den positiven Kriterien über, die für die Einheitlichkeit der Messe sprechen. Daß sie in langen Zwischenräumen entstanden, ist kein Gegenbeweis, sonst müßte auch Wagners Ring des Nibelungen, durch den ein Riß von mehr als zehn Jahren geht, kein einheitliches Kunstwerk sein. Die Bruchstelle zwischen Sanctus und Osanna hat Bach nachträglich dadurch überbrückt, daß er die Orchestereinleitung von 32 Takten zum Osanna, das bekanntlich aus der Kantate "Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen" fast unverändert übernommen wurde, wegließ. Denken wir an die schwungvollen Orchestereinleitungen so vieler festlicher D-Dur-Chöre Bachs im 3/8-Takt, so ist das sehr ungewöhnlich und nur zu erklären, wenn man annimmt, daß Bach damit das Osanna, wie es in der römischen Messe geschieht, unmittelbar an das Sanctus anschließen wollte.

Noch ein gewichtiger Grund spricht für die Einheit: die Einheit der Tonart. Aber nicht einmal die Tonart h-Moll läßt Smend gelten: nach ihm ist D-Dur die Grundtonart. Dann müßten wir also das erste riesige Kyrie, das den Grundton des ganzen Werkes anschlägt, als in der Tonika-Parallele stehend auffassen! Wahr ist, daß von der Mitte der Messe ab D-Dur allzusehr dominiert. Man muß von einer Doppeltonart h-Moll / D-Dur sprechen, und diese wird entschiedener festgehalten als in vielen anderen großen Werken Bachs, besonders den Passionen, in denen von einer Einheit der Tonart im Ganzen keine Rede mehr ist. Wohl aber läßt sich das - freilich sehr viel kleinere Magnificat als Parallele heranziehen. Smend urteilt sehr fein über die tonartliche Ausgewogenheit der ersten drei Teile bis zum Credo und über das allzu viele D-Dur in den folgenden Teilen, die formal ja überhaupt nicht mehr die Geschlossenheit und Spannkraft der ersten aufweisen. Er wertet das als ein weiteres Argument gegen die Zusammengehörigkeit des Werks: "Unsere Gesamtaufführungen der "Hohen Messe" sind vielleicht eines der bemerkenswertesten Beispiele dafür, was eine irrige, aber festgefahrene Tradition gegenüber dem künstlerischen Urteil vermag." (!) Wieviel klassische Symphonien sind in den beiden letzten Sätzen schwächer als in den beiden ersten - ist es darum eine Verirrung, sie als Ganzes aufzuführen?

Nein, so wertvoll, ja unschätzbar Smends philologische Ergebnisse für die Bewertung der Quellenlage und der Lesarten sind, so versagt diese Methode doch vor der Größe und Geschlossenheit des Werks. Es ist wahr, die formende Kraft wird gegen Schluß schwächer, aber das Dona nobis pacem, das die Musik des Gratias wieder aufnimmt, klammert damit auch den letzten Teil fest mit den übrigen zusammen. Vielleicht war gerade das Bachs Absicht, als er darauf verzichtete, zum Dona nobis eine eigene Musik zu schreiben? Machen wir uns frei von dem (Adorno würde sagen beleidigenden) Gedanken, daß die h-Moll-Messe nur ein Konglomerat von Amtskompositionen darstelle, dann wird der Blick frei für ihre eigentliche Bedeutung. Wir sehen, daß Bach von etwa 1735 ab als Komponist immer weniger Rücksicht auf das Publikum und die Erfordernisse des Gottesdienstes in Leipzzig nimmt. Nicht, als ob er sich verärgert oder müde zurückgezogen hätte, aber er wußte, daß sein Genius ihm anderes auftrug. Der "Dritte Teil der Klavierübung" (1739) enthält Choralbearbeitungen von solch technischer Schwierigkeit und geistiger Transzendenz, daß selbst unter den Schülern Bachs kaum einer war, der das hätte begreifen und spielen können; das "Musikalische Opfer" (1747) enthält Ricercari und Kanons, mit denen Bach beim König von Preußen bestimmt keine Ehre einlegen konnte, weil dieser davon nicht das mindeste verstehen konnte, und doch schrieb Bach dieses Werk so, wie er es eben schreiben mußte; die Kunst der Fuge hielt sich schon durch Herausgabe in den alten Schlüsseln das profane Volk weit vom Leibe, ja selbst die Verbesserungen, die Bach in den dreißiger Jahren an der Matthäuspassion anbrachte, galten nicht den Aufführungen in der Kirche, an denen ihm allmählich herzlich wenig lag (sie seien ihm nur ein "onus", eine Last, schrieb er an den Rat}, sondern dem Werk. Dem Werk! Hier steht es und spricht für sich selber! Wer dürfte die Einheit der Messe ernsthaft bezweifeln? Schafft nicht schon der altgeheiligte Messetext eine Einheit, enger als bei vielen Kantaten? Ich habe diese Einheit immer als ebenso stark empfunden wie in den Passionen, stärker als etwa im Weihnachtsoratorium. Es war gewiß kein imposanter Beweggrund, der Bach veranlaßte, die beiden ersten Teile der Messe zu schreiben. Nachdem aber der Genius ihn einmal gepackt hatte, ließ er ihn nicht mehr los, Bach nahm den Kampf auf und führte ihn (mit leichten Ermüdungserscheinungen) bis zum Ende durch.

Ich sehe die Problematik der h-Moll-Messe an einer anderen Stelle: in der Aufteilung in Chöre, Duette und Arien. Beethoven ist darin liturgischer als Bach, da er in seiner Missa solemnis (die Smend so oft und glücklich als Gegenbeispiel anführt) keine geschlossene Gesangsnummern innerhalb der fünf Teile zuläßt. Ich halte auch - auf die Gefahr hin, als Ketzer gebrandmarkt zu werden - das Magnificat für keine der besten Kompositionen Bachs, wegen des zu großen Anteils opemhafter Arien und Duette. Bei der h-Moll-Messe möchte ich zu Ehren von Bach annehmen, daß die beiden Baß-Arien, die zu ihren Texten wie die Faust aufs Auge passen, Parodien aus verlorenen Kantaten sind; dasselbe möchte ich für Qui sedes annehmen, für Benedictus hat es schon Spitta vermutet, vom Agnus Dei ist bekannt, daß es eine (geniale!) Überarbeitung einer Arie aus Kantate 11 ist, und von dem reizenden Gezwitscher der Arie Laudamus te und von dem so gar nicht bittenden Duett Christe eleison möchte ich dies ebenfalls vermuten. Wenn dem so wäre, so wäre das ein Beweis, daß Bach empfand, wie wenig die übliche Arienform dem Messetext angemessen ist, so daß ihm für diese Texte nichts Rechtes einfiel, weswegen er, da er doch ohne Arien glaubte nicht auszukommen zu können, sie aus anderen Werken übernahm.
Smend kommt in seinen Ausführungen zu dem Schluß: wenn schon für dieses Sammelwerk ein einheitlicher Titel gefunden werden müsse, so nicht der einer Messe, sondern dann könne er nur so lauten wie die Überschrift des zweiten Teils der Leipziger "Kirchenandachten" von 1694: "Cantica quaedam Sacra veteris ecclesiae selecta, quae Festis diebus in Templis Cathedralibus cantari et adhuc retineri solent" (Geistliche aus der alten Kirche übernommene Gesänge, die man an Sonntagen in großen Kirchen zu singen und weiter zu erhalten pflegt). Würde sich nicht ein homerisches Gelächter in der ganzen Welt erheben, wenn wir der h-Moll-Messe künftig diesen schönen Titel geben wollten? Muß man nicht hier "Bach gegen seine Liebhaber verteidigen" oder wenigstens gegen einen Teil seiner Liebhaber, nicht den schlechtesten, wie man in aufrichtiger Bewunderung des wissenschaftlichen Teils von Smends Arbeit sagen muß? Den darüber hinausführenden Beweis, daß die Messe ein zusammengestückeltes opus und ihre Teile liturgisch-protestantisch aufzufassen seien, ist er uns glücklicherweise schuldig geblieben. Wir begehen also weder "ein historisches Mißverständnis" noch einen "künstlerischen Fehlgriff", wenn wir auch künftig die Messe als ein zwar aus vielen Quellen gespeistes, aber organisch zu einer Einheit zusammengewachsenes und nun für immer unteilbares Kunstwerk, als das in der Arbeit langer Jahre gereifte "opus summum" des Meisters verehren, als eines der größten Werke der europäischen Geistesgeschichte, das auch in Zukunft allen Sprengungsversuchen widerstehen wird.

Quelle:
Musik und Kirche, Februar 1957

Fast textgleich erschienen auch in:
Universitas, 15. Jahrgang / März 1960 / Heft 3
S. 323 - 330

sowie:
"Musikerkenntnis und Musikerziehung"
Festgabe für Hans Mersmann
Herausgegeben von Walter Wiora im Bärenreiter Verlag Kassel und Basel