1957 · Hut ab, ihr Herren, ein Genie!

Stuttgarter Zeitung

Der Deutsche Tonkünstlerverband veranstaltet zum 200. Todestag Domenico Scarlattis (23. Juli) am 13. Juli einen Scarlatti-Abend in der Musikhochschule Stuttgart.

Im Jahr l675 entstiegen in Neapel dem von Palermo kommenden Schiff drei sehr junge Geschwister, die da als Musiker ihr Glück machen wollten. Die beiden Mädchen waren Sängerinnen und übten daneben noch den Beruf aus, den Daniele Varè "den ältesten, wenn auch nicht anständigsten Beruf der Frau" genannt hat, aber mit Hilfe dieses Nebenberufs gelang es ihnen, ihrem Bruder, der Alessandro Scarlatti hieß, eine Stellung beim spanischen Vizekönig zu verschaffen. Er entwickelte sich rasch zu einem Komponisten von Bedeutung, wurde der Gründer der sogenannten neapolitanischen Opernschule; allerdings gehört er heute zu den Klassikern, "die hauptsächlich von ihrem Ruhm leben", denn außer ein paar Arien und Kantaten ist wenig mehr von ihm lebendig geblieben. Er hatte in rascher Folge zehn Kinder, von denen das sechste, ein Sohn Domenico, den Ruhm des Vaters übertreffen sollte, zwar nicht in der Oper und der Kammermusik für Gesang, in denen sich der Vater auszeichnete, sondern auf dem Gebiet der Klaviermusik. Er brach aus dem Weltstil der italienischen Musik aus, der auf die Unterhaltung einer aristokratischen Gesellschaft zugeschnitten war, er ging in dem, was er technisch vom Spieler verlangte, weit über das hinaus, was Bach, Haydn, Mozart, ja selbst der mittlere Beethoven voraussetzen, er schuf sich eine ganz eigene Tonsprache, die ihn als Einzelgänger außerhalb jeder geschichtlichen Entwicklung stellt

Scarlatti ist im selben Jahr 1685 geboren wie Bach und Händel, zwei Jahre nach Rameau, sechs nach Vivaldi welche Anhäufung von Sternen erster Größe! und wurde wie Mozart natürlich von seinem Vater erzogen. Im Jahr 1701 brach der spanische Erbfolgekrieg aus, und, wenn auch damals Kriege nicht viel mehr bedeuteten als eine lästige Unterbrechung des gesellschaftlichen Lebens, so zog der Vater es doch vor, Neapel zu verlassen und mußte in Rom eine mäßig bezahlte Kirchenstellung annehmen. Als er es an der Zeit fand, seinen Sohn in die Welt zu entlassen, wählte er für ihn nicht Rom, "wo die Musik wie eine Bettlerin leben muß", sondern die glänzendste Fremdenstadt Italiens und der Welt, Venedig. Die Lagunenstadt hatte damals 140 000 Einwohner (also so viele wie zu Ende des 19. Jahrhunderts!); sie besaß eine ganze Anzahl privat betriebener Operntheater und bot einem zahlungskräftigen Publikum jede Art von Genüssen (so gelang zum Beispiel dem württembergischen Herzog Karl Eugen und seiner Suite, in ein paar Wochen so viel Geld auszugeben, wie der Gehalt seiner Beamten auf zwei Jahre betrug, die eben dann warten mußten, bis Serenissimus wieder bei Kasse war).

Dort traf Domenico mit seinem Altersgenossen Händel zusammen, der eben eine mehrjährige Kavalierstour durch Italien antrat und mit seiner Oper Agrippina in Venedig stürmischen Erfolg hatte. Später trafen sie auch in Rom wieder zusammen, wo sie im Palast des kunst- und prachtliebenden Kardinals Ottoboni ein Wettspiel veranstalteten, bei dem Scarlatti auf dem Klavier, Händel auf der Orgel Sieger blieb. Wie fast alle Musiker damals, wechselte Scarlatti häufig die Stellung, ja er war sogar einige Jahre Kapellmeister an der Capella Giulia im Vatikan. Dies darf uns nicht erstaunen: Opernmusik und Kirchenmusik waren damals so nahe miteinander verwandt, daß viele Musiker beiden dienten; ja, die Veroperung der Kirchenmusik erstreckte sich sogar auf das protestantische Norddeutschland, wie die Koloratur-Arien J. S. Bachs beweisen. 1718 erreichte Scarlatti der Ruf des Schicksals, der seinem Leben und seiner Kunst eine ganz andere Wendung geben sollte: der König Johann V. von Portugal berief ihn als seinen Hof- und Kirchenkapellmeister nach Lissabon, und Scarlatti nahm an.

Scarlatti war nun 33 Jahre alt und hatte bis dahin wenig oder nichts für die Unsterblichkeit geleistet, denn so wie er komponierten Dutzende von begabten jungen Komponisten Italiens. Bach war ebenso alt, als er sich anschickte, als Hofkapellmeister nach Cöthen zu gehen, Händel war 34 Jahre, als er an die Spitze der italienischen Oper in London trat, und beide hatten sich bis dahin schon einen geachteten Namen als Komponisten gemacht. Wäre das Schiff untergegangen, das ihn nach Lissabon trug, so hätten wir wenig Veranlassung, noch heute von Scarlatti zu sprechen.

Zehn Jahre blieb Scarlatti in Lissabon, aber wir wissen nur wenig von seinem Leben in diesen Jahren, da das furchtbare Erdbeben von 1755, das fast die ganze Stadt zerstörte, auch die meisten Archive vernichtete. Er reiste in dieser Zeit einmal nach Neapel, um seinen betagten Vater noch einmal zu sehen, und verlobte sich mit einer jungen Römerin, Maria Gentilli, die er heimführte, als sie 16 Jahre alt war. Der König bewilligte ihm für diese Brautfahrt nicht weniger als 2000 Thaler Reisegeld, ein Beweis, wie geschätzt Scarlatti bei Hofe war. Merkwürdigerweise sind aber seine Kompositionen für den Hof und die Kirche restlos verlorengegangen, nur von einer Oper "Narziss", die 1720 in London mit mäßigem Erfolg gegeben wurde, sind Arienauszüge erhalten. Scarlatti war auch als Klavierlehrer verpflichtet worden; er hatte der jungen, hochmusikalischen Prinzessin Maria Barbara Klavierstunde zu geben, und es scheint, daß diese Nebentätigkeit bald zu seiner Haupttätigkeit wurde: als Maria Barbara sich mit dem spanischen Kronprinzen verlobte und nach Madrid übersiedelte, nahm sie Scarlatti, ihren "getreuen Musikmeister" dorthin mit, und so wurde Madrid die zweite Heimat Scarlattis, in der er 28 Jahre bis zu seinem Tod gelebt hat, wiederum die Vergleiche drängen sich geradezu auf wie Händel in London und Bach in Leipzig.

Der spanische König Philipp V., ein Enkel von Ludwig XIV., war ein schwerer Psychopath und wohl ebenso zu bedauern wie das Land, das er regieren sollte. Zu seinen Marotten gehörte, daß die Hauptmahlzeit, an der der ganze Hof teilzunehmen hatte, um 3 Uhr morgens stattfand; dann verschlief er den Tag, stand nur einmal kurz auf, um die heilige Messe zu hören, und erst am Abend begann das Leben an diesem merkwürdigen Hof. (Als der König endlich gestorben war, hatte sich seine Witwe so an diese Zeiteinteilung gewöhnt, daß sie sie beibehielt!) Um den König aufzuheitern, wurde der berühmteste Sänger Europas, der Kastrat Carlo Broschi, genannt Farinelli, um ein märchenhaftes Honorar auf Lebenszeit an den Hof verpflichtet. Scarlatti hatte ihn zu begleiten und stand hinter dem gefeierten Sänger ebenso im Hintergrund wie ungefähr zu gleicher Zeit am Hofe Friedrichs des Großen Philipp Emanuel Bach hinter Quantz und Graun.

Auch in dem Vierteljahrhundert, in dem Scarlatti in Madrid lebte und wirkte, wissen wir von seinem Leben so gut wie gar nichts. Er lebte in einem vergoldeten Käfig wahrscheinlich durfte auch er außerhalb des Hofes nicht öffentlich auftreten, und er hat Madrid, abgesehen von den jährlichen Uebersiedlungen des Hofes auf die Lustschlösser (im Frühling nach Aranjuez, im Sommer ins Gebirge, wo der König sich eine Anlage gebaut hatte, die Versailles noch übertreffen sollte), bis zu seinem Ende nicht mehr verlassen.

Nur einmal trat Scarlatti an die Oeffentlichkeit: In seinem 53. Lebensjahr gab er dreißig virtuose Sonaten heraus, die er dem König von Portugal widmete, der ihn wohl auf Betreiben von Maria Barbara in den Adelsstand erhoben hatte er war nun Cavaliere, was sein Vater in Rom auch geworden war. Diese Sonaten sind zum Teil so schwer, daß noch heute trotz dem ungeheuer gesteigerten Niveau der Klaviertechnik viele Pianisten das Kreuz davor machen. Handels Klavierwerke, die allerdings unter seines Kompositionen wohl an letzter Stelle rangieren, sind dagegen kaum mittelschwer, Bach ist in dem, was er geistig vom Spieler verlangt, natürlich viel anspruchsvoller als Scarlatti, aber rein klaviertechnisch gehen viele Sonaten Scarlattis weit über die schwersten Werke Bachs, etwa die Goldbergvariationen, hinaus. Da gibt es waghalsige Sprünge über zwei oder gar drei Oktaven weg in raschem Tempo, blitzschnelles Ueberschlagen einer Hand über die andere, rasche, lang anhaltende Tonrepetitionen (für die Scarlatti schon Fingerwechsel vorschreibt), Oktavengänge in beiden Händen und anderes mehr, was die Zeitgenossen verblüffen mußte, und was uns noch heute erstaunen macht.

Scarlatti erregte damit Aufsehen und wurde in London, Paris und Amsterdam angestaunt, aber soviel sich heute mit Sicherheit sagen läßt, wurde kein Werk von ihm in Italien gedruckt und als Bach starb, war noch keine Sonate Scarlattis in Deutschland bekannt. Der Großteil seiner Werke schlummerte fast 150 Jahre, also länger als die meisten Werke Bachs. Das ganze aus mehr als fünfhundert einsätzigen Sonaten bestehende Werk Scarlattis kennen wir nur aus den kalligraphischen Reinschriften in 15 Prachtbänden, die für den spanischen Hof angefertigt worden waren (die Autographe sind verschollen) und die Farinelli, als er mit seiner Pension nach Italien ging, dorthin mitnahm: heute sind sie eine Zierde der Markusbibliothek in Venedig. Diese 545 Sonaten wurden vor 50 Jahren von Alessandro Longo bei Ricordi herausgegeben, aber in den Vortragszeichen so modernisiert, daß es schwer ist, dabei noch an Musik des 18. Jahrhunderts zu denken. Ralph Kirkpatrick, von dem wir seit drei Jahren die erste große, breit fundierte Biographie Scarlattis besitzen, hat 60 Sonaten im Urtext herausgegeben, der Verfasser gibt in diesem Jahr mit Wilhelm Weismann zusammen in drei Bänden 150 Sonaten heraus, so daß zu hoffen ist daß dieser bis jetzt entweder unbekannte oder als bloßer Vorläufer der Wiener Klassiker verkannte Meister nun endlich in seiner wirklichen Größe gesehen werde.

Freilich bleibt trotz den fleißigen Forschungen Kirkpatricks noch vieles im Leben und in der Kunst Scarlattis dunkel. Es ist ja nicht möglich, daß er, der auf der Sonnenseite des Lebens im Hofdienst lebte, nicht auch die Armut und das Elend der unteren Schichten gesehen haben sollte. Taine ("das große Jahrhundert in Spanien") berichtet geradezu Unglaubliches über den Stumpfsinn und die sinnlose Verschwendung am spanischen Hof. Fünfzig Jahre nach Scarlatti hat Goya den spanischen Hof gemalt so wie er aussah: diese Bilder sind fast schon eine Majestätsbeleidigung. Wir erfahren, daß Scarlatti sich bisweilen unter das Volk, "die Maultiertreiber und andere gemeine Leute" mischte, daß er dem Glücksspiel frönte, so daß die Königin, seine alte Gönnerin, oft seine Schulden bezahlen mußte. Waren das nicht Ausbrüche aus einem Gefängnis, das freilich keine Gitter hatte, aber ein ebenso dichtes Netz von Etikette wob? Es gab nur einen Ausweg für einen Künstler, der nicht im geistlosen Komfort dieses Hoflebens ersticken und untergehen wollte: er mußte sich auf sich selbst stellen, sein technisches Können als Komponist und Spieler immer höher treiben, so daß schließlich auch die Schulregeln, die von den italienischen Komponisten brav befolgt wurden, für ihn überhaupt keine Gültigkeit mehr besaßen, und er sagen konnte: Wenn etwas klingt, wozu braucht man dann noch Regeln? So ließe es sich erklären, daß Scarlatti seiner Zeit so weit voraus war, wie wir das heute staunend sehen. Aber das ist nicht alles. Von wie vielen Spannungen er innerlich geschüttelt wurde, das zeigt uns seine Musik (sind doch die Werke eines Künstlers die einzigen verläßlichen Zeugnisse seiner inneren Biographie!). Sie gibt sich auf ganze Strecken konventionell, wie das seine Stellung am Hof verlangte, dann aber sagte er manchmal in Tönen das, was er in Worten nicht sagen durfte. Es gibt da plötzliche Umschläge der Stimmung, Dissonanzen, die selbst unseren heutigen Ohren als gewagt vorkommen, Ausbrüche von Traurigkeit und Melancholie, bei denen man an Chopin denken möchte, aber neben einer lauten Fröhlichkeit auch zarteste Tönungen in Dur wie bei Velasquez.

Wir haben so viele kleinere Komponisten wieder ans Licht gezogen, die wir allzu bereitwillig mit dem Ehrentitel eines alten "Meisters" bedacht haben, über deren Leben wir Bescheid wissen, deren Werke in Neuausgaben vorliegen hier wartet ein großer Künstler darauf, endlich nach seiner ganzen Bedeutung erkannt zu werden. Wie sollen wir ihn zu seinem 200. Todestag feiern, wenn wir ihn noch viel zuwenig kennen? Gewiß, wer sich so auf ein einziges Instrument beschrankt wie er, und innerhalb dieses einen Instruments auf eine einzige Form, die einsätzige, zweigeteilte Sonate, den kann man nicht zu den ganz großen Meistern der Musik zählen. Aber er steht doch auch noch über den Talenten zweiten Rangs, die in der Musik des 18. Jahrhunderts eine so große Zahl ausmachen. Wie sagte doch Florestan, als er den Davidsbündlern ein neues unbekanntes Werk vorlegte: "Hut ab, ihr Herren, ein Genie!"



Quelle:
Stuttgarter Zeitung Nr. 159, 1957, S. 39