1957 · Wie spielt der Laie heute Klavier?

Neue Zeitschrift für Musik

Diese Frage drängte sich mir und meinen Kollegen von der Jury unseres Jugendwettbewerbs im Klavierspiel auf, als wir 69 junge Leute, von 7 bis 19 Jahren, in der Vorauslese dieses Laienwettbewerbs nacheinander anhören mußten - oder vielmehr durften, hinter einer spanischen Wand geborgen, so daß "weder Haß noch Lieben" das Urteil trüben konnte, das wir zu fällen hatten. Um es gleich vorwegzunehmen: der Eindruck war überaus positiv: es gab nur ganz wenige Versager, dagegen so viele ausgezeichnete Leistungen, daß man leicht zwei Konzertprogramme damit hätte bestreiten können. Da hörte man, oft mit einer erstaunlichen musikalischen Reife, von 14- bis 18jährigen Buben und Mädchen Werke wie das Prélude aus "pour le Piano" von Debussy, die Abegg-Variationen von Schumann, die Variations sérieuses von Mendelssohn, an modernen Werken die Suite op. 14 von Bartók, die Burleske von Toch, Stücke von Casella, Teile aus dem Ludus tonalis von Hindemith oder Variationen über ein eigenes Thema eines Fünfzehnjährigen; eine 7jährige (!) spielte Grieg (Schmetterling) und Debussy (The little shepherd) mit erstaunlicher Musikalität.

Sollte das nicht die beste Aussicht für den Nachwuchs unserer Musikhochschulen bedeuten? Nein, eben nicht, und das ist der Grund, warum diese Zeilen geschrieben werden: nur ein kleiner Teil dieser musikalischen Jugend hat die Absicht, die Musik als Beruf zu ergreifen. So erfreulich es auf der einen Seite ist, wenn ein technisch und musikalisch hochgebildetes und anspruchsvolles Laientum herangebildet wird, so muß man sich doch fragen, warum diese jungen Leute, deren Lebenselement die Musik ist (sonst könnten sie nicht so spielen), sie nicht als Beruf wählen? Warum liegt das Niveau einer Aufnahmeprüfung in einer Musikhochschule so oft unter dem Niveau des besten Laienmusizierens? Der Grund ist doch der, daß der Beruf des freien Musikers, das heißt also in fast allen Fällen: der des privaten Musiklehrers, für einen begabten Jugendlichen, dem andere Berufe ungleich bessere Aussichten eröffnen, wenig Anziehendes hat; denn in die kleine Schar derer, die von Konzerten leben können, aufgenommen zu werden, traut sich mit Recht kaum einer zu. Ich halte den jungen Leuten bei derartigen Gesprächen vor, daß es zwischen dem Nur-Virtuosen und dem Nur-Klavierlehrer unzählige Zwischenstufen gibt, die wohl den Einsatz lohnen würden, die vor allem dem, der sie ergreift, eine Freiheit in der Lebensgestaltung geben, die kaum ein anderer Beruf verspricht; denn die Kehrseite des hohen Lebensstandards ist ja, daß man nichts von ihm hat, weil man bis zum letzten vom Beruf beansprucht, ja ausgesogen wird. "Die Deutschen sind ein schreckliches Volk: tagsüber arbeiten sie, nachts schlafen sie, wann leben sie?" Nun, der gehobene Privatmusklehrer, der sich ein paarmal im Jahr in Konzerten als Solist oder Kammermusikspieler oder als Begleiter hören läßt, eben der gehört zu den wenigen, deren Arbeit zugleich auch Leben ist.

Wer sich eine Existenz im freien Beruf in der Musik nicht zutraut, und doch die Musik als Lebensaufgabe ergreifen möchte, der pflegt sich zur Schulmusik zu melden. Da lockt die sichere Beamtenstellung, die spätere Pension, und daraus entstehen Fehlleistungen schlimmster Art. In den wenigsten Fällen ist es der sehnliche Wunsch eines jungen Menschen, später einmal eine widerspenstige Schulklasse in Schach zu halten und zur Musik zu begeistern (jeder Leser weiß aus eigener Erfahrung und aus Erzählungen seiner Kinder, wie das ist, wenn ein zwar musikalischer, aber pädagogisch ungeeigneter Lehrer sich da, man muß schon sagen, an den Marterpfahl stellt); aber die Eltern in ihrer Sorge und Beschränktheit erlauben eben kein anderes Musikstudium. Ebenso groß ist aber die Fehlleistung der Musikhochschulen, die nur nach dem Durchschnitt der Zeugnisnoten einen Prüfling aufnehmen oder nicht aufnehmen; es ist ein wehmütiger Gedanke, daß die pädagogische Eignung erst dann geprüft wird, wenn das künstlerische und wissenschaftliche Studium schon abgeschlossen ist, d.h. im Referendarjahr (*1)

Was soll nun geschehen, damit diese Dinge anders und besser werden? Zunächst müssen die Tonkünstlerverbände unablässig auf die Hebung des Standes von innen her bedacht sein. Mehrmals hatte man in dem obenerwähnten Vorspiel den Eindruck, daß der Lehrer (oder die Lehrerin) den Ansprüchen, die ein hochbegabter Schüler stellen darf, nicht genügte. Ein Jugendlicher aus gutem Haus, der gute Schallplatten besitzt und sie of hört, wird gegen sich und andere anspruchsvoll. Nicht nur im Konzert, sondern auch in der Hausmusik wird heute technisch und musikalisch mehr verlangt als in meiner Jugend. Die Salonstücke spielende höhere Tochter, die vor fünfzig Jahren noch ein beliebtes Objekt der Witzblätter war, ist ausgestorben; der Kreis der Hausmusik treibenden, klavierspielenden Jugend ist enger geworden, steht aber qualitativ viel höher als früher. Dem muß auch eine Hebung des Standes der privaten Musiklehrer entsprechen. Aber das zu erreichen, ist viel schwerer. Um den Stand sozial zu heben, die minderwertigen Elemente auszuscheiden, die gewissenhaften zu schützen, brauchen wir dringend das Gesetz zum Schutz des privaten Musikunterrichts, um das die Verbände seit Jahren sich bemühen, hoffentlich endlich mit Erfolg! Um den Stand in seiner materiellen Existenz zu schützen, bedarf es der Empfehlung von Mindesthonoraren durch die Verbände, die den örtlichen Verhältnissen angepaßt sein müssen. Das war uns seither durch eine keineswegs unumstrittene Auslegung des Kartellgesetzes untersagt; es ist aber zu hoffen, daß das neue Gesetz, das am 1. Januar 1958 in Kraft tritt, weitherziger und vernünftiger ausgelegt wird. Aber all das nützt nichts, wenn nicht jeder Privatmusiklehrer unablässig selbst an seiner Fortbildung arbeitet, für sich allein und mit anderen Kollegen zusammen auf Kursen und Tagunsjen, wie sie die Verbände einrichten. Es wird erreicht werden müssen, daß solche Kurse für Privatmusiklehrer in allen Ländern die wirtschaftliche Unterstützung des Staates finden, wenn die Durchführung mit eigener Kraft nicht möglich ist. Möchten doch alle verantwortlichen Stellen - der Staat, die Verbände, die einzelnen Musiklehrer - sich dessen bewußt sein, was in der heutigen Situation von ihnen verlangt wird!

(*1) Anmerkung der Schriftleitung: Erfreulicherweise wird die pädagogische Arbeit in zunehmendem Ausmaß bereits in die Lehrpläne einiger Ausbildungsanstalten übernommen, also nicht mehr völlig auf die Referendarjahre verschoben. Im Mainzer "Staatlichen Institut für Musik" z.B. besucht der Studierende vom ersten Semester an einmal wöchentlich eine Musikstunde im Gymnasium, hat entsprechende Unterweisung nebst kleinen Lehr-Aufgaben. Man darf hoffen, daß weitere Anstalten dieser Anregung folgen.

Quelle:
Neue Zeitschrift für Musik, Dezember 1957
Schott Music, Mainz