1957 · Zwischen Sweelinck und Bach

Musica

Die Blütezeit der norddeutschen Orgelmusik

Es waren unruhvolle Zeiten, als der achtzehnjährige Jan Pieterszon Sweelinck im Jahr 1580 als Nachfolger seines Vaters das Organistenamt an der Alten Kirche (Oude Kerk) in Amsterdam übernahm, ein Amt, das er vierzig Jahre bis zu seinem Tode verwaltete. Zwei Jahrzehnte vorher hatte der Abfall der Niederlande vom spanischen Weltreich und vom katholischen Glauben begonnen, und die Kriege dauerten noch an; im Jahr 1578 war der reformierte Glaube Calvins verpflichtend eingeführt worden, und das bedeutete das Ende der glorreichen Tradition eines Zeitalters, in dem die Niederländer in der Musik führend in Europa gewesen waren.

Sweelinck wird vor dem fast völligen Verlöschen der musikalischen Schöpferkraft in den nördlichen Niederlanden als Letzter von der großen Überlieferung getragen, aber sein Hauptfeld ist nicht mehr die polyphone Chormusik sondern die Orgel, und seine Bedeutung in der Geschichte der Musik besteht darin, daß er als Lehrer einer ganzen Zahl norddeutscher Organisten die einzigartige Blüte der norddeutschen Orgelkunst im 17. Jahrhundert heraufführen half. Die Seestädte Hamburg, Lübeck, Danzig, Königsberg, auch Lüneburg und andere waren von der Geißel des Dreißigjährigen Kriegs fast verschont geblieben, ja, sie hatten ihren Reichtum noch mehren können, ihr patrizischer Bürgerstolz und die musikfreundliche Haltung des Luthertums schufen die Grundlage für eine Blüte des Orgelbaus, des Orgelspiels und der Orgelkomposition, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Europa ihresgleichen nicht hat. Auch in anderen deutschen Landen nicht: auf den katholischen Süden (München, Wien) strahlt noch etwas von der Kunst Girolamo Frescobaldis aus, in Nürnberg wirkt Johann Pachelbel; aber so wie Sweelinck der erste und letzte große Orgelmeister der Niederlande war, so ist Frescobaldi der erste und letzte große Organist in Italien, denn im Süden beansprucht bald die Oper, die allen Sinnen ein Fest bietet, den unbedingten Vorrang. In Mitteldeutschland erhält sich eine Tradition, die noch hinter Sweelinck und Frescobaldi zurückgeht, in einer Reihe von Kleinmeistern, aus deren Reihen die dominierende Erscheinung Johann Sebastian Bachs hervorgehen sollte; Samuel Scheidt in Halle, der bedeutendste unter den unmittelbaren Schülern Sweelincks bildet die Brücke von Mittel- zu Norddeutschland. Seine "Tabulatura Nova", eine riesige Sammlung von Orgel- und Klavierkompositionen, erschien 1624, ehe auch Kursachsen in die Verwüstungen des Kriegs hineingezogen wurde; mit ihren rund 800 Seiten stellt sie das größte Druckwerk dar, das bis zu Bachs Tod an Orgelmusik überhaupt erscheinen konnte, und gibt uns einen imposanten Begriff vom Reichtum Deutschlands vor der Zerstörung. Fast alle großen Orgelwerke späterer Meister wie Tunder, Buxtehude, Bruhns, Lübeck und selbst Bach, blieben ja ungedruckt.

Es war eine kühle, auf Repräsentation bedachte Kunst, wie sie Seefahrern und Handelsherrn ansteht, die von Amsterdam nach den Hansestädten herübergetragen wurde: Toccaten mit viel Laufwerk, das auf dem Klavier gespielt, trocken und seelenlos klingt, für das man sich aber den scharfen, erregenden Mixturklang der norddeutschen Orgel vorstellen muß; gewaltig lange Fugen Ricercari in denen das Thema in fast unerschöpflich scheinender Weise auf jede nur mögliche Art durchgeführt wurde, und Choralbearbeitungen, die auf den Inhalt des Lieds weniger Rücksicht nahmen als auf die kontrapunktische Verarbeitung des cantus firmus. Alle Möglichkeiten, die das Spiel auf einer Orgel mit mehreren Manualen ("Werken") und einem reich besetzten Pedal bot, waren schon den Meistern des frühen 17. Jahrhunderts bekannt, die Beseelung und Vergeistigung aller dieser Formen hat aber erst mit Johann Sebastian Bach ihren Abschluß gefunden.

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Faksimile: Titelseite des Hochzeitsgedichtes für Dietrich Buxtehude und Anna Margaretha Tunder

Es wäre falsch, in den Meistern vor ihm nur seine "Vorläufer" zu sehen. In der Mitte zwischen Sweelinck und Bach steht Dietrich Buxtehude, dessen Gedächtnis dieses Heft gewidmet ist. Seine großen Orgelwerke die fälschlich und irreführend den Namen "Präludium und Fuge" tragen (den ihnen erst spätere Abschreiber gegeben haben), sind in Wirklichkeit Toccaten, die dadurch eine Beseelung und Bereicherung erfahren haben, daß zwei Fugenteile in sie eingebaut sind, von denen der erste im geraden, der zweite im ungeraden Takt steht, wobei das Thema aber für beide Fugen dasselbe ist. Diese merkwürdige Form leitet sich von der Kanzone des 16. Jahrhunderts her; dort waren die beiden fugierten Teile meist durch ein kurzes Zwischenspiel getrennt (wofür Bachs Kanzone in d-moll ein gutes Beispiel bietet). Es entsteht auf diese Weise eine fünfteilige Großform von eigentümlichem Reiz; diese Teile sind nicht streng gegeneinander abgeschlossen, sondern gehen ineinander über, auch das Fugenthema wird zuweilen wie durch Zufall aus einem Motiv der Eingangstoccata genommen. Die Mehrzahl der großen freien Orgelwerke von Buxtehude weisen diese Form auf. Aber alles ist im Fluß: nach kaum zwei Jahrzehnten vereinfacht sich diese Form durch Wegfall der zweiten Fuge zur Dreiteiligkeit, von da aus zur Zweiheit von Präludium und Fuge, wie wir sie bei Bach finden, eine Zweiheit, die also nicht von jeher bestanden hat, sondern lediglich den Endpunkt einer langen, vom 16. Jahrhundert ausgehenden Entwicklung darstellt. Diese Abklärung zur klassischen Doppelform Präludium und Fuge erfolgte unter der Einwirkung des Rationalismus, dem Buxtehude noch weniger ausgesetzt war als Bach.

Die Form, die bei Bach ihre letzte Verfestigung erfährt, ist bei Buxtehude noch flüssig. Daher geben uns die freien Orgelwerke Buxtehudes nicht die formale Befriedigung (das Wort von "Friede" abgeleitet), die uns Bach selbst in seinen kleinsten Gebilden zu geben vermag. Den Feuergeist von Buxtehude spüren wir bei Bach noch in einigen Jugendwerken, wie Präludium und Fuge D-dur und besonders in der Toccata d-moll, bei der im Anfangs- und Schlußteil der Ausdruck ins Dämonische gesteigert erscheint. Rational ist Buxtehude nur in den drei Passacaglien (bzw. Chaconnen), einer Gattung, die er als einziger unter den norddeutschen Meistern gepflegt hat, besonders in der Passacaglia d-moll, die man vielleicht als das vollkommenste aller Orgelwerke vor Bach bezeichnen darf. Ihre fast romantische Schönheit hat schon Spitta begeistert, ihre vollkommene Architektonik ist erst in unserer Zeit beachtet worden: es sind vier genau gleich lange Teile von je sieben Variationen über ein aus sieben Tönen bestehendes Thema. Daß von Buxtehudes c-moll-Ciacona zur Passacaglia Bachs ein gerader Weg führt, ist bekannt.

Man hat lange Zeit angenommen, daß die Ausbildung aller Formen der Choralbearbeitung auf der Orgel ihren Anfang von Samuel Scheidt genommen habe, aber neue Manuskriptfunde haben gezeigt, daß auch diese Formen schon von Sweelinck zusammen mit seinen Schülern geübt worden sind. Der konzertante Charakter der norddeutschen Orgelmusik war aber einer Vertiefung des Ausdrucks im Orgelchoral nicht günstig; hier konnte Bach mehr von seiner mitteldeutschen Heimat und ihren Kleinmeistern lernen als von den Norddeutschen. Insbesondere scheinen uns die großen, weit schweifenden Choralfantasien von Buxtehude, Bruhns und Lübeck mehr einem unerschöpflichen Spieltrieb als einer echten Frömmigkeit entsprungen zu sein. Und wer könnte etwa die dreißig kleinen Orgelchoräle Buxtehudes mit denen Bachs auf eine Ebene zu stellen wagen?

Alle Ströme laufen bei Johann Sebastian Bach in seiner Orgelmusik zusammen: das Ungebändigte, Schweifende der Norddeutschen, das mehr nach Innen wirkende der mitteldeutschen Schule, Frescobaldi und sein Schüler Froberger, die französischen Organisten alle haben auf Bach gewirkt, er hat mit seinem überlegenen Können diese zum Teil stark auseinanderstrebenden Richtungen zusammengezwungen und sie seinem persönlichen Stil dienstbar gemacht. Das ist zugleich auch ein Prozeß der Rationalisierung, den wir ebenso im Orgelbau beachten können, wo sich die große viermanualige Orgel Arp Schnitgers im 18. Jahrhundert zur Silbermann-Orgel vereinfacht, oder im Orgelspiel, wo die Technik des Doppelpedalspiels, in der besonders Bruhns sich ausgezeichnet hat, bald verlorengeht. Wäre Bach nicht geboren worden, so würden wir nach 1700 einen erst langsameren, dann immer rascheren Verfall der Orgelkunst feststellen, bis zu ihrem fast völligen Verlöschen in der Generation nach Bach. Dann würden wir den Höhepunkt der barocken Orgelkunst bei Buxtehude, seinem Vorgänger Tunder, seinem genialen Schüler Bruhns und vielleicht noch bei Vincent Lübeck sehen. So aber nimmt uns die Riesengestalt Bachs nur zu leicht die richtigen Maßstäbe für die Größe der genannten Meister. Die fünfteilige Toccatenform Buxtehudes bedeutet eine Hochform der Musik wie die Form des italienischen Konzerts, wenn auch ihre Ausstrahlung wesentlich geringer war.
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Auch diese Kunst war untergegangen und mußte erst wiedererweckt werden. Das geschah fast hundert Jahre später als bei Bach. Wenn schon bei der Auferstehung Bachs im 19. Jahrhundert die Orgelwerke am spätesten allgemeiner Besitz wurden, da alle Tradition abgerissen war, so ist das noch mehr bei den Meistern vor Bach der Fall: schon im Jahr 1875/76 hatte Philipp Spitta die Orgelwerke Buxtehudes in einer mustergültigen, kritischen Monumentalausgabe herausgegeben, aber die Organisten nahmen so gut wie keine Notiz davon; 1892 wurde die Reihe der Denkmäler deutscher Tonkunst mit der Tabulatura Nova von Scheidt eröffnet, aber die Organisten wußten nichts damit anzufangen; erst 1904 machte Karl Straube mit seinem ersten Band "Alte Meister" einen Versuch, diese Schätze für die Praxis zu heben; er verfuhr dabei ungefähr ebenso unhistorisch in der Auffassung dieser Musik, wie Mendelssohn bei der ersten Wiederaufführung der Matthäuspassion im Jahr 1829. Erst nach dem ersten Weltkrieg wurde die Barockorgel, die barocke Orgelkomposition und der ihr gemäße Stil der Wiedergabe von der Orgelbewegung fast schlagartig entdeckt und zu neuem Leben erweckt. Ja, nicht nur Organisten und Orgelfreunde, sondern viele, die der Orgel bis dahin fern gestanden waren, begeisterten sich nun an diesen Schöpfungen; viele junge Komponisten nahmen diesen Stil als Ausgangspunkt für ihre eigenen Schöpfungen, so war unserer Zeit eine ähnliche Entdeckerfreude beschieden wie der Zeit vor hundert Jahren mit dem Werk Johann Sebastian Bachs. Wir besitzen heute Schallplattenaufnahmen dieser Werke, die auf den erhaltenen Orgeln jener Zeit gespielt wurden. Bedenkt man, wie eng zeitlich und örtlich beschränkt die Wirkung jener Musik war, als sie geschaffen wurde, und wie viele Tausende von Menschen heute an ihr teilhaben, dann möchte man glauben, daß es für jedes Kunstwerk, für jede Kunstepoche eine Zeit gibt, in der sie aufsteigt, eine andere Zeit, in der sie ihren größten Glanz ausstrahlt, um dann langsam oder schneller sich wieder zum Untergang zu neigen.

Heute steht die Kunst des Orgelmeisters Buxtehude, der vor 250 Jahren starb, im Zenith. Vielleicht schlägt auch ihr die Stunde, in der sie untergehen oder von neuen helleren Sternen überstrahlt werden wird; das aber, was sie uns zu bedeuten hat, ist schon heute unverlierbar in die Geschichte eingegangen.



Quelle:
Musica, 11, 1957, S. 261 - 264