1958 · Bach gestern und heute
Stuttgarter Zeitung
Zum 33. Deutschen Bachfest, das morgen in Stuttgart beginnt.
Wir sprechen so gern und oft von unsterblichen Kunstwerken und denken nicht daran, daß auch ein Kunstwerk wie jeder lebende Organismus einmal geboren wird, eine gewisse Zeit lebt und dann mehr oder weniger rasch sich auflöst. Rasch ansteigend und wieder rasch verlöschend ist der Ruhm der großen Virtuosen, denen die Nachwelt keine Kränze flicht, langsamer und bedächtiger steigt die Bahn des Ruhms bei den großen Denkern an, von denen die Mitwelt oft nur wenig Notiz nimmt, die aber desto länger in der Nachwelt fortwirken; zugleich hoch und rasch ansteigend ist die Ruhmesbahn der großen schaffenden Künstler, wenn sie von ihrer Zeit getragen werden; sie werden dann ebenso gefeiert wie die großen Virtuosen, und ihr Nachruhm dauert so lange wie der der großen Denker. Die meisten dieser Künstler haben divinatorisch das ausgesprochen, was die Zeit hören wollte, und sind daher von ihr verstanden worden. Der Humanismus des späten achtzehnten Jahrhunderts spricht sich am reinsten in der Zauberflöte und in Haydns Oratorien aus, der französische Klassizismus hat seinen adäquatesten Ausdruck nicht in Félicien David, sondern in Gluck gefunden, das heroische Zeitalter Napoleons den seinen in Beethoven.
Wie aber, wenn ein großer Geist in einer kleinen Zeit lebt, die seine Gedanken nicht aufnehmen kann und will und ihn mit ihrer Enge zu ersticken droht? Das war der Fall bei Johann Sebastian Bach, zwar noch nicht in der ersten Hälfte seines Lebens, als er durch unablässigen Fleiß sich die gesamte musikalische Bildung der Zeit anzueignen bemüht war, aber später, als er, mit einem imponierenden Können und einer universalen Bildung ausgestattet, das Thomaskantorat in Leipzig übernahm.
"Ob es mir nun zwar anfänglich gar nicht anständig seyn wollte, aus einem Capellmeister ein Cantor zu werden", schrieb er ein paar Jahre nach seinem Amtsantritt an seinen Jugendfreund Erdmann nach Riga; aber er war ja nicht nur Cantor, sondern der erste Musiker in einer eleganten und gebildeten Universitätsstadt, die von ihrer eigenen Vortrefflichkeit viel mehr überzeugt war, als von der ihres neuen Kantors und Musikdirektors. Man hatte schon die Musik von Johann Kuhnau, Bachs Amtsvorgänger, als steif und altmodisch gerügt und verlangte von dem neuen Mann, daß er sich auf der Höhe der Zeit halte. Dieser wiederum war bestrebt, dem verfeinerten Geschmack Rechnung zu tragen und in den Kantaten, die er jeden Sonntag aufzuführen hatte, und auch in den vielen Gelegenheitsmusiken, zu denen er verpflichtet war, den neuen in die Kirchenmusik eingedrungenen theatralischen Stil zur Geltung zu bringen. Die Texte lieferten dichtende Pastoren und Bürger der Stadt, wie der Ober-Post-Commissarius Henrici, der unter dem Namen Picander geistliche und weltliche Gedichte zu allgemeiner Zufriedenheit verfaßt hatte. Er war es, der Bach die freien Texte zur Matthäuspassion geliefert hat.
Hier stießen nun zwei Welten hart zusammen: das "Klein-Paris", von dessen leichtem, genußsüchtigem Leben uns Goethes "Buch Annette" einen anschaulichen Begriff gibt, und das Genie eines Erzmusikanten, dem die Musik kein Spaß war. Der Zusammenstoß war schmerzhaft für beide Teile; der Thomaskantor wurde höchstens von einem kleinen Häuflein von Schülern und "Kennern von dergleichen Arbeit" verstanden, und die Gemeinde mußte Sonntag für Sonntag eine Musik über sich ergehen lassen, die wohl die geforderten modernen opernhaften Mittel verwandte aber wie verwandte! In einer tieferen Auslegung der Worte nämlich, der sie nicht zu folgen vermochte. Und wie wenig waren dabei die Musiker, die dem Kantor zur Verfügung standen, den Anforderungen gewachsen, die er in seiner Musik an sie stellte! Vielleicht hat Bach früher resigniert, als man seither annahm, wenn nämlich die neuen Untersuchungen von Georg von Dadelsen (Tübingen) stichhaltig sind, der aus den Handschriften der Kantaten ihre Entstehungszeit zu bestimmen versuchte. Demnach hätte Bach alle in Leipzig aufgeführten Kantaten in den ersten Jahren seiner Amtstätigkeit, zwischen 1723 und 1727, komponiert! Man kann sich die Erleichterung vorstellen, die der Magistrat empfand, als der große, unbequeme, oft rechthaberische Mann endlich gestorben war, und nun der sanftere, gefälligere Kirchenstil einziehen konnte, den das Zeitalter der Empfindsamkeit mehr mochte.
Die Kräfte, die in Bachs ungeheurem Lebenswerk ungenützt beschlossen lagen, mußten sich eines Tages freimachen und das Schweigen durchbrechen, das seit dem Tod seines Schöpfers über ihnen lag. Die Zeit der Auferstehung kam, als der Geschichtssinn der beginnenden Romantik die deutschen Kunstaltertümer, wie man sie damals empfand, neu entdeckte, als durch die Freiheitskriege das Nationalbewußtsein erwacht und gestärkt war, als man der faden und süßlichen Frömmigkeit in der Zeit des Rationalismus und Pietismus leid wurde, als die Kirche anfing, sich auf ihre große Tradition wieder zu besinnen, wozu auch die untergegangene Kirchenmusik gehört als diese Voraussetzungen sich fast gleichzeitig erfüllten, zu Anfang des 19. Jahrhunderts, da begann das Gestirn Bachs aufzugehen und allmählich immer heller zu leuchten. Die Wiedererweckung Bachs war zugleich der Anfang zur alten Musik überhaupt, jener Renaissance, in der wir seit fast hundert Jahren leben und die unseren Horizont so unermeßlich erweitert hat.
Schon um 1900 steht nun an allen Musikausbildungsstätten der Welt, in Berlin wie in Kapstadt, in Rom wie in Sydney, Bach im Mittelpunkt der Musikerziehung. Wie sehr er die Komponisten in den letzten hundert Jahren beeinflußt hat, das zeigt die Verbindungslinie, die man von Brahms zu Reger ziehen kann und die weiter zu Johann Nepomuk David und Paul Hindemith führt. Nachdem man Bachs Musik ausgegraben, seine Werke in einer Monumentalausgabe veröffentlicht hatte, ging man daran, auch die originalen Klangmittel Bachs wieder zu rekonstruieren: Cembalo, Klavichord, Bach-Orgel, Bach-Trompeten und Oboe d'amore. Von da aus mußte sich zwangsläufig auch die Frage stellen, wie man auf diesen Instrumenten zu spielen habe. Die Frage der stilistischen Wiedergabe Bachs und das Problem der Wiedergabe alter Musik in neuer Zeit wurde langsam und etappenweise in Angriff genommen. Die erste Etappe war eine rücksichtslose Modernisierung nach dem Motto: wie wäre Bach froh gewesen, hätte er statt seiner dürftigen Instrumente einen Bechsteinflügel zur Verfügung gehabt! In der zweiten Etappe erwachte jedoch das historische Gewissen: wir können Bach überhaupt nur auf den alten Instrumenten, nur in der kleinen Besetzung, die er selbst zur Verfügung hatte, stilistisch richtig aufführen. Also keine Ausdrucksdynamik, sondern eine flächige, eine Terrassen-Dynamik; man darf in das Werk nichts hineintragen, man soll es sachlich interpretieren, dann würde es schon für sich selbst sprechen.
Heute haben wir diese beiden Stadien überwunden und wissen, daß beide absolut genommen falsch oder besser unzureichend sind. Jedes Kunstwerk verlangt ja vom Interpreten in der Wiedergabe den ganzen Einsatz; eine kühle Zurückhaltung wäre bei Bach ebenso stillos wie eine romantische Uebersteigerung. Wir wissen zudem heute von den Theoretikern des Bachschen Zeitalters, daß diese Zeit nicht geringere Anforderungen an die Wiedergabe stellte als die unsrige, nur waren ihre Ausdrucksmittel andere. Diese zu kennen und richtig anzuwenden, ist Aufgabe der Stilerziehung, ohne die heute kein Musiker mehr auskommen kann. Fühlt er sich da auf sicherem Boden, so darf ihm jede Freiheit zugestanden werden, ja, es ist bekannt, daß die Zeit Bachs dem Interpreten viel mehr Freiheit zugestand, als wir es heute tun würden. So gibt es für uns bei Bach strenggenommen keine grundsätzliche Problematik mehr, was die Wiedergabe betrifft; Probleme, wie sie vor einem halben Jahrhundert noch für die Wiedergabe Bachscher Musik bestanden, gibt es für uns heute der Musik des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts gegenüber.
Das 35. Deutsche Bachfest, das nun in Stuttgart beginnt, wird diese hier dargelegten Gedanken auf die mannigfaltigste Weise in die Praxis umsetzen und klingend veranschaulichen. Die Teilnehmer sollen aber nicht nur genießen, sondern durch Vorträge und Rundgespräche auch zum Nachdenken und Mitdenken angeregt werden. Schließlich sei auch noch auf die seltene Gelegenheit hingewiesen, die in diesen Tagen geboten ist, einzigartige Autographe Bachs zu sehen. Sie waren im Besitz der Preußischen Staatsbibliothek, wurden im Krieg nach Tübingen verlagert, und werden nun von der dortigen Universitätsbibliothek freundlicherweise als Leihgabe in das Landesgewerbemuseum gegeben, wo sie während der Dauer des Festes täglich besichtigt werden können. Jeder Musikfreund, der Bachs Werke nur aus der klingenden Wiedergabe kennt, wird sie gerne auch in der originalen Niederschrift, in dem so eigenwilligen und kraftvollen Duktus seiner Handschrift sehen wollen.
Quelle:
Stuttgarter Zeitung, Nr. 142, 25.06.1958, S. 5