1958 · Die Hammerklavier-Sonate

Neue Zeitschrift für Musik

Wir wissen natürlich, daß alle Klaviersonaten Beethovens für das Hammerklavier, für ein Tasteninstrument mit Hammermechanik geschrieben sind, wir wissen wohl auch, daß Beethoven von op. 101 an versuchsweise die übliche Bezeichnung Pianoforte durch die deutsche "Hammerklavier" zu ersetzen versuchte, aber nach einem stillschweigenden Übereinkommen nennt die ganze Welt eben doch nur die Riesensonate op. 106 Hammerklaviersonate, vielleicht aus einem unbestimmten Gefühl heraus, daß, so wie Nietzsche mit dem Hammer philosophieren wollte, so hier stahlhart Musik gemacht werde. Noch heute umweht die Sonate op. 106 ein Schauer von Unnahbarkeit. Schon ihre Länge schreckt ab: sie dauert 45 Minuten, also mehr als Liszts h -Moll-Sonate oder die f-Moll-Sonate von Brahms, und dann ihre technische Schwierigkeit, die aber nur in der Schlußfuge größer ist als etwa die Schwierigkeit von op. 111. Dazu kommt als Problem Beethovens Metronomisierung, nach der der erste Satz in einem so unsinnig schnellen Tempo zu spielen wäre, daß dieses Tempo nicht nur kaum ein Spieler erreichen kann, sondern daß dadurch auch der musikalische Inhalt des Satzes völlig zerstört werden würde. So viel auch schon über die Sonate geschrieben worden ist, so hat sich doch, soweit ich sehe, noch niemand getraut, dieses heiße Eisen anzufassen, und so möchte ich den Versuch hier wagen und rundweg erklären, daß Beethovens Vorschrift Halbe = 138 auf einem Irrtum beruht.

Prüfen wir zunächst die Quelle für diese Bezeichnung. Es ist ein Brief Beethovens an Ries in London. Der betreffende Teil des Briefes lautet:

"Wien, 16. April 1819.
Hier, lieber Ries, die Tempos der Sonate.
Erstes Allegro, allein Allegro, das assai muß weg. Maelzels Metronom Halbe =138.
Zweites Stück Scherzoso. M. Metronen Halbe = 80.
Drittes Stück M. Metronom Achtel = 92.
Viertes Stück. Introduzione largo. Maelzels Metronom Sechzehntel = 76.
Fünftes Stück dreiviertel Takt und letztes Maelzels Metronom Halbe = 144."

Der Kenner der Sonate wird sogleich bemerken, daß die Metronomisierung des 2. Satzes falsch ist, es muß anstatt Halbe = 80 Punktierte Halbe = 80 heißen. Ebenso bei der Fuge; es muß statt Halbe = 144 Viertel = 144 heißen. Muß das nicht mißtrauisch machen gegen die Metronomisierung des 1. Satzes? Unser Zweifel wird bestärkt durch die anderen originalen Metronomisierungen Beethovens. Es sind die neun Symphonien, die Streichquartette op. 18, 59, 74 und 95 und noch ein paar kleinere Werke. Schon Nottebohm hat diese Bezeichnungen kritisch untersucht. Manche sind so auffallend danebengeraten, daß man glaubte (und das ist auch heute noch die herrschende Ansicht), Beethovens Metronom sei defekt gewesen oder hätte sich auf eine andere Zeiteinheit als die Sekunde bezogen. Diese Ansicht ist aber unhaltbar, weil dann alle Bezeichnungen gleichmäßig falsch sein müßten. Studiert man die Vorschriften Beethovens, so kommt man vielmehr zu dem Resultat, daß Beethoven sich der lästigen Mühe des Metronomisierens offenbar sehr nachlässig unterzogen hat. Er hat nur nach den Anfängen der Sätze bezeichnet, wie er sie im Ohr hatte. Daher sind diejenigen Bezeichnungen leidlich richtig, die sich auf Sätze beziehen, in denen die zu Anfang eingeschlagene Bewegung den ganzen Satz durch dieselbe bleibt, also besonders bei Scherzo-Sätzen. In den Fällen aber, in denen sich die Bewegung später kompliziert, paßt die Metronomisierung des Anfangs auf den weiteren Verlauf nicht mehr. Das Musterbeispiel dafür ist bekanntlich der zweite Satz der 7. Symphonie, den Beethoven mit Viertel = 92 ausgezeichnet hat. Das ist zur Not noch denkbar für den Anfang, später, wenn mit Sechzehnteln fugiert wird, nicht mehr. Wir verdanken Schindler die Mitteilung, daß Beethoven, als er einmal diesen Satz in dem von ihm vorgeschriebenen Tempo hörte, außer sich vor Wut geriet, wahrscheinlich wäre es ihm ähnlich gegangen, wenn ihm jemand den 1. Satz der Hammerklaviersonate in Halbe = 138 vorgespielt hätte, aber die Sonate wurde ja zu seinen Lebzeiten überhaupt von niemand öffentlich gespielt! Es ist ähnlich beim 1. Satz der Eroica: Punktierte Halbe = 60 geht gerade noch bis zum Auftreten des Rhythmus Achtel / zwei Sechzehntel, - von da an nicht mehr. Niemand nimmt ja heute mehr den 2. Satz der 7. Symphonie nach Beethovens Vorschrift, und ebenso ist es im Adagio unserer Sonate mit der Vorschrift Achtel = 92: das geht zur Not in den ersten zwanzig Takten, dann nicht mehr; das gebräuchliche und musikalisch richtige Tempo ist Achtel = 76. Aber auch von hier aus verstehen wir Halbe = 138 für den 1. Satz noch nicht, denn gerade der Anfang verlangt ja eher ein noch breiteres Tempo als die Fortführung (wir müssen uns hier von dem weit verbreiteten Irrtum frei machen, als ob bei Beethoven das metronomische Tempo ohne jede Abweichung von Anfang bis zum Ende eines Satzes dasselbe sein müsse; das Gegenteil ist der Fall, wie wir zuverlässig von Schindler und anderen wissen). Nun ist die Idee für den Themakopf des Satzes Beethoven von einer ganz anderen Seite her gekommen. Er wollte für seinen Gönner, den Erzherzog Rudolph, dem die Sonate gewidmet ist, einen Chor zu dessen Namenstag schreiben, der mit den Worten begann: Vivat, vivat Rodolphus! Jedermann hört hier sofort den Rhythmus des Sonatenthemas heraus [ ] (der Auftakt fehlt zunächst noch, wie bei einer ganzen Anzahl von Themen, die in den Skizzenbüchern noch ohne Auftakt stehen!) Singen wir das in dem den Worten angemessenen Zeitmaß, so kommen wir ziemlich genau auf Viertel = 138. Ich stelle also die These auf, daß Beethoven nicht nur im 2. und letzten Satz der Sonate die Notenwerte für die Metronomzahlen falsch angegeben hat, sondern auch im 1. Satz, so daß es heißen muß: Viertel = 138. Von allen mir bekannten Ausgaben hat nur eine einzige den Mut gehabt, so zu bezeichnen: die Ausgabe von Moscheles, der ja als Enkelschüler Beethovens (über Ries) gelten kann. Man kann dieser These zweierlei entgegenhalten; 1., daß Viertel = 138 für den ganzen Satz ebenso zu langsam sei wie Halbe = 138 zu schnell, und 2., daß der Satz unzweifelhaft Allabreve-Charakter trage, also keine Viertelbezeichnung zulasse. Beides ist richtig; die Einwände werden aber entkräftet, wenn man annimmt, daß Beethoven, wie er zu tun pflegte, nur den Anfang im Auge hatte, den er sich breit, feierlich gedacht hat (wie das dem unterlegten Text entspricht), und daß dabei besser Viertel als Halbe gezählt werden. Nachher geht der Satz in eine ruhig-kraftvolle Bewegung über, für die ich Halbe = 84 - 92 als angemessen halten möchte. Man denke an die Verwandtschaft dieses Satzes mit dem ersten des großen B-Dur-Trios op. 97, der ebenfalls ein Allegro moderato ist, und ganz besonders an Beethovens bedeutungsvolle Worte (auf die, wie es scheint, noch niemand geachtet hat) in dem Brief an Ries: "nur Allegro' , das assai muß weg!" Sollten wir den Worten des Komponisten nicht mehr Gewicht zuerkennen als den Zahlen, mit denen er immer auf Kriegsfuß lebte?!

Dies als richtig (oder wenigstens als möglich) angenommen, so ergeben sich für den Spieler ganz neue und erfreuliche Perspektiven: die erste, daß das Melos dieses Satzes nun endlich einmal wirklich zum Klingen kommt, zum zweiten, daß der Satz nicht mehr so schwer ist, wie man seither wähnte. Er ist dann nicht schwerer als die ersten Sätze von op. 53 und 57, Sonaten, die Hunderte von Spielern glauben bewältigen zu können, während sich an op. 106 bekanntlich kaum jemand wagt und Jahre vergehen können, ehe die Sonate im Konzertwinter einer Großstadt einmal zu Gehör gebracht wird! Man mache doch einmal den Versuch mit Halbe = 69 zu Anfang, dann Halbe = 84 - 92! Und, um den vollen Genuß des Satzes zu haben, begrabe man endlich die unsinnige These von Bülow, daß in den letzten Takten der Durchführung, vor dem Wiedereintritt des Hauptthemas "ais" gespielt werden müsse. Schon Nottebohm hat darauf aufmerksam gemacht, daß aus einer Skizze Beethovens (die Bülow wohl nicht gekannt hat) bewiesen werden kann, daß es "a" heißen muß, was aber auch aus dem musikalischen Zusammenhang eindeutig hervorgeht.

Die Auflösungszeichen zu setzen, hat Beethoven übersehen, weil sie an dieser Stelle selbstverständlich waren, wie man ja gerade Selbstverständlichkeiten beim Korrigieren oft zu übersehen pflegt. Eine verminderte Sexte ais-f, die als solche gar nicht gehört und verstanden werden kann, hat Beethoven nie geschrieben. Noch eine Schlußbemerkung zum Tempo: Betrachtet man die Achtelstelle mit den gekreuzten Händen, die für zwei Manuale gedacht zu sein scheint, so ist die Verwandtschaft zu den Zweiunddreißigstel-Figuren im 2. Satz der 4. Symphonie offensichtlich, und beide Stellen verlangen etwa dasselbe Tempo, dort Achtel etwa = 92, ebenso hier die Halben.

Im folgenden Abschnitt soll nun von der Frage der Zusammengehörigkeit der vier Sätze der Sonate die Rede sein. Sie ist in der Tat problematisch. Bekanntlich hat sich Beethoven überreden lassen, aus der Sonate op. 53 das Andante F-Dur zu entfernen und durch die Introduktion zum Rondo zu ersetzen, ebenso hat er in dem großen Streichquartett B-Dur op. 130 die Schlußfuge herausgenommen und durch ein normales Sonaten-Finale ersetzt; die Fuge erschien als "Grande Fugue" mit der Opus-Zahl 133 als selbständiges Werk. Ich wage zu bedauern, daß niemand Beethoven den Rat gegeben hat, dasselbe in der Sonate op. 106 zu tun. Noch nie hat mich die Fuge als organisches Finale und als stilistische Einheit mit den ersten drei Sätzen überzeugt. Liest man Beethovens Briefe aus der Zeit der Entstehung der Sonate, so bekommt man den Eindruck, daß die riesigen Quadern dieses Werks einzeln behauen und erst spät zu einem Ganzen zusammengefügt worden sind, daß also Beethoven hier im Gegensatz zu vielen anderen seiner Werke die Selbständigkeit der Sätze mehr betont hat als ihre Zusammengehörigkeit. Trotzdem empfinden wir die Sonate bis zum Ende des Adagios als ein Werk von großartiger Einheitlichkeit - dann aber nicht mehr. Es ist nicht wie in op. 110, wo die Fuge schon durch ihre thematische Verwandtschaft mit dem ersten Satz fest mit der ganzen Sonate zu einer geistigen Einheit verbunden ist. Zwar kann man anführen, daß der Sprung über eine Dezime, mit dem das Fugenthema beginnt, dem Dezimensprung über zwei Oktaven zu Anfang des ersten Satzes entspricht, aber darüber hinaus lassen sich keine äußeren und inneren Verbindungslinien mit den ersten drei Sätzen der Sonate aufzeigen. Aber auch dieses Problem erfährt eine völlig neue Beleuchtung, wenn man (was auch noch kaum geschehen ist), einem Brief Beethovens an Ries vom 19. April 1819 (also drei Tage nach dem oben angeführten Brief) authentische Bedeutung beilegt. Die betreffende Stelle lautet: "Sollte die Sonate für London nicht recht sein, so könnte ich eine andere schicken, oder Sie könnten das Largo auslassen und gleich bei der Fuge anfangen, oder das erste Stück Adagio und zum dritten das Scherzo und das Largo und Allegro rissoluto." Dieser grammatikalisch und interpunktionsmäßig ziemlich unklare Satz besagt: "Sie können die ersten drei Sätze für sich herausgeben, aber dann umgestellt: Allegro, Adagio, Scherzo und die Introduktion und Fuge für sich." In der Tat erschien die Sonate so in London (möglicherweise noch vor der Wiener Erstausgabe): die ersten drei Sätze als "Grand Sonata", der Rest als "Introduction and Fugue"! Unser Gefühl sträubt sich dagegen, daß Beethoven selbst so etwas gutgeheißen haben könne, und man kann wohl mit Recht sagen, daß er sich da dem Geschmack der Londoner allzu nachgiebig gezeigt habe - allein das schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß er selbst eine Abtrennung der Fuge von der eigentlichen Sonate gutgeheißen hat, also eben das, was er ein paar Jahre später in op. 130 wirklich vollzogen hat. Das heißt nun nicht mehr und nicht weniger, als daß der Komponist selbst uns erlaubt, nur die drei ersten Sätze zu spielen. Freilich: die von Beethoven vorgeschlagene Änderung der Reihenfolge können wir nicht annehmen. Das Scherzo, das nur drei Minuten dauert, kann nur als ein kurzes Intermezzo gelten, also niemals den Beschluß zweier Sätze bilden, von denen jeder etwa eine Viertelstunde dauert! Könnte man aber nicht die ursprüngliche Reihenfolge beibehalten und mit dem Adagio schließen? Auch op. 111 schließt ja mit einem langsamen Satz, und daß nicht in der Haupttonart geschlossen wird, das hätte die neue dreisätzige Sonate dann mit der unvollendeten Symphonie von Schubert gemeinsam, bei der es ja auch niemanden stört, daß eine h-Moll-Symphonie in E-Dur endigt. Ich weiß nicht, ob die Sonate jemals (etwa nach ihrem Erscheinen in England?) als dreisätziger Torso aufgeführt worden ist; auf dem Festland gewiß nicht, aber sollte man den Versuch nicht wenigstens einmal wagen? Da der zweite Satz nicht schwerer ist als der erste und der dritte technisch nur mittelschwer, so wäre damit Beethovens großartigste Sonate Hunderten von Spielern zugänglich, die sie jetzt mit scheuer Ehrfurcht beiseite liegen lassen. Und hat nach der Wunderwelt des größten Adagios, das jemals für Klavier geschrieben wurde, noch jemand das Bedürfnis nach einem Kopfsprung in das kalte, wildbewegte Wasser der Fuge? Und diese selbst (für die auch Viertel = 144 entschieden zu hoch ist): würde sie nicht ganz anders zur Geltung kommen, wenn sie für sich allein, als selbständiges Werk, gespielt würde?

Diese Fragen, mit deren Beantwortung die Hammerklaviersonate in einem ganz neuen Licht dastehen wird, möchte ich der Klavier spielenden Welt hiermit zur Nachprüfung vorlegen.

Quelle:
Neue Zeitschrift für Musik, Dezember 1958
Schott Music, Mainz