1958 · Heinrich Lang zum Gedächtnis

Württembergische Blätter für Kirchenmusik

Vor hundert Jahren, am 17. Febr. 1858, wurde dem Bauern Heinr. Lang in Laichingen auf der Rauhen Alb ein Büblein geboren, das ähnlich wie Anton Bruckner aus dörflicher Enge und Armut seinen ihm vorbestimmten Weg in das Reich der musica sacra suchte und fand. Freilich, der schwäbische Albbauernbub durchlief kein Stift St. Florian, Stuttgart war nicht Wien, und er wurde auch kein Komponist von weltweiter Bedeutung; aber was die evangelische Kirchenmusik Württembergs ihm zu verdanken hat, das muß hoch angeschlagen werden. Seine Eltern gehörten der Hahn"schen Gemeinschaft an, der auch der Sohn sein Leben lang treu geblieben ist; sie gab ihm die innere Kraft und den Halt, sein oft bis zum Letzten belastetes Berufsleben mit treuester Pflichterfüllung auch im Kleinsten durchzuhalten. Er war ein zarter Bub, zum Bauern nicht geschaffen, so daß der Vater ihm die Wahl ließ, Schneider oder Schullehrer zu werden. Natürlich wählte er das Letztere, trat mit 14 Jahren in das Eßlinger Lehrerseminar ein, das seit 1860 der als Orgelspieler hochberühmte Christian Fink leitete, der sich des hochbegabten Knaben besonders annahm, so daß dieser mit Zeugnissen, wie sie seit zwanzig Jahren nicht mehr erteilt worden waren , das Seminar verlassen konnte. Er wurde Lehrer an der Eberhardsschule in Stuttgart und setzte nebenher bei Faißt den Unterricht in Orgel und Tonsatz fort. Faißt hielt so viel von seinem Schüler, daß er im Jahr 1894, als er kurz vor seinem Tode sein Amt als Musikdirektor der Stiftskirche und Dirigent des Vereins für klassische Kirchenmusik niederlegte, Lang als seinen Nachfolger für beide Stellungen empfahl. Das Amt an der Stiftskirche bekam Lang und hat es bis zu seinem Tode (1919) treulich verwaltet, aber die Kgl. Hofkapelle, die vertraglich bei den Aufführungen des Klassischen Vereins das Orchester zu stellen hatte, erklärte sich nicht bereit, unter einem Lehrer zu spielen, eine Enttäuschung für Lang, die er nie ganz verwinden konnte (statt seiner erhielt Samuel de Lange die Leitung des Vereins).

Dafür holte ihn das Konservatorium als Lehrer für Orgel (neben de Lange) und Harmonielehre, bald auch für Musikdiktat und Chorgesang; er konnte seinen Lehrerberuf nun aufgeben und sich ganz der Musik widmen, wurde Professor, ja in seinen letzten Lebensjahren sogar stellvertretender Direktor in Vertretung des häufig auf Konzertreisen abwesenden Max Pauer. Der kleine, beleibte, später oft asthmatisch keuchende Mann, der von so rührender Bescheidenheit war, konnte aber auch aus seinen blauen Augen hinter den scharfen Brillengläsern einen faulen Schüler scharf anblitzen! Er war im Unterricht von einer oft pedantischen Strenge und Gewissenhaftigkeit, über die seine Schüler (zu denen ich mich von 1907 1909 zählen durfte), oft gestöhnt haben, deren Wert die meisten aber später dankbar eingesehen haben. *1)

Ich sehe den kleinen Mann noch vor mir, wie er im Übungssaal des alten Konservatoriums in der Langestraße auf dem Bretterpodium, auf dem die Übungsorgel stand, hinten aus seinem schwarzen Gehrock aus riesigen Taschen, die er sich hatte einbauen lassen, links den fünften Bachband und rechts die Orgelschule von Ritter hervorzog und dem Schüler übergab, damit er die Finger= und Fuß=Sätze des Lehrers in sein Exemplar übertragen sollte, die peinlich eingehalten werden mußten. Da er eine kleine Hand hatte, so gab es viel Fingerwechsel und ich habe von daher für mein ganzes Leben eine Abneigung gegen zu häufigen Fingerwechsel überkommen und meine eigenen Schüler wahrscheinlich zu wenig Fingerwechsel machen lassen circulus vitiosus! Als ich mich mit ihm einmal über die Auffassung und Wiedergabe einer Stelle stritt (was wohl alle Schüler in einem gewissen Stadium mit ihren Lehrern tun), war seine ultima ratio: Aber so hat es Faißt gemacht ! Diese kleine Äußerung sehe ich als bezeichnend für das überaus starke Abhängigkeitsgefühl an, das er seinen Lehrern gegenüber empfand, und das er von seinen Schülern forderte. Er war aber nicht kleinlich; wenn auch Bach und das 19. Jahrhundert im Unterricht dominierten, so war er doch auch für die Orgelwerke Regers interessiert und aufgeschlossen. Wer aber den Künstler Lang kennen lernen wollte, der mußte ihn an seiner großen Orgel in der Stiftskirche hören. Seine Improvisationen am Schluß des Hauptgottesdienstes waren berühmt; er konnte es sich leisten, eine Fuge zu beginnen, zu der später das Thema des Schlußchorals trat, und das zu einer Zeit, wo die Improvisation noch an keinem Institut wieder gelehrt wurde, wo der zukünftige Organist nur mit ein paar allgemeinen Winken in die Praxis entlassen wurde! Ich erinnere mich, daß mir Lang einmal, als ich schon in Leipzig studierte, seine Stiftskirchenorgel auf meine Bitte vorführte, zwei Stunden lang mir, einem Konservatoriumsschüler, ganz allein, und wie leuchtete dabei die Begeisterung aus seinen Augen! Aber weder von der damals einsetzenden sogenannten elsässischen Orgelreform, die von dem jungen Theologen Albert Schweitzer ausging, noch von dem neuen, umwälzenden modernen Orgelstil, den Karl Straube mit seinen Schülern vor dem ersten Weltkrieg propagierte (seine beiden Konzerte in der Markuskirche wirkten geradezu sensationell), war Lang berührt; ihm war es aufgetragen, das Alte treu zu bewahren. Wer durch diese strenge, enge, schwäbische Schule gegangen war, der hatte es aber leicht, später draußen die neue Bewegung zu ergreifen. Unablässig war Lang um die Hebung des Stands der Lehrer=Organisten bemüht (denn es gab damals ebenso wenige hauptamtliche Organisten wie hauptamtliche Stellen). Als Lehrer für Harmonielehre ordnete er sich völlig seinem Lehrer Faißt unter, dessen Lehrgang er übernahm, und die Faißt=Lang"sche Harmonielehre herrschte viele Jahre im Konservatorium, nicht immer zum Nutzen der Schüler, die jahrelang mit trockenen vierstimmigen Schemen geplagt wurden, von denen aus sie keinen Zusammenhang mit der Musik, die sie im Hauptfach spielten, erkennen konnten. Von der modernen Auffassung der Harmonien als Funktionen war keine Rede, und erst Josef Haas, der damals in Stuttgart wirkte, brachte in diesen verstaubten Theorieunterricht frische Luft herein.

Langs Name wird für immer verbunden bleiben mit dem neuen Gesang= und Choralbuch der evangelischen Kirche in Württemberg, das 1912 herauskam und dessen musikalische Redaktion ihm übertragen war. Wieviele Tausende von Organisten haben seitdem seine Sätze gespielt! Vielleicht auch wegen ihrer Salzlosigkeit kritisiert? Hier möchte ich Lang nachdrücklich in Schutz nehmen: Er war sich bewußt, daß jede interessante, geistvolle Harmonisierung (wie sie damals von mancher Seite, z. B. von Arnold Mendelssohn) gefordert wurde, bald unerträglich wirken würde, daß nur ein nach strengen, tragfähigen Gesetzen aufgebauter Satz Bestand haben könne. Diesen tragfähigen Grund fand Lang im vierstimmigen strengen Kontrapunkt Note gegen Note, der nur reine Dreiklänge und Sextakkorde zuläßt und als einzige Dissonanzen den Durchgang und den angebundenen Vorhalt zuläßt (von denen der letztere für den Choralsatz nicht in Betracht kam). Das frühere Choralbuch (ich glaube von 1876) war aus Sätzen gebildet, die im Sinne der Harmonielehre richtig waren, - Lang wollte Sätze schreiben, die im Sinn des strengen Kontrapunkt für Melodien des 17. und 18. Jahrhunderts die geeignete Technik darstellte, - aber dies vorausgesetzt muß man Langs Leistung hoch einschätzen.

Über den Komponisten Lang ist es schwerer, zu einem positiven Urteil zu kommen. Ein Komponist muß sich frei entfalten können, aber daran hinderte Lang sowohl seine ständige Arbeitsüberlastung wie seine Traditionsgebundenheit. Man spürt in seinen Orgelwerken wohl die Inspiration, die ihn als Improvisator beseelte, aber dann auch wieder die Ängstlichkeit des Theorielehrers, die ihn den Rückzug antreten ließ, wo etwas allzu kühn geraten wäre. Und doch: in seinen (nicht sehr zahlreichen) Kompositionen, besonders den kleinen Gesangswerken, die er für seine Tochter Johanna Lang, eine Schülerin von Prof. Freytag=Besser, schrieb, ist er ganz er selbst, hier erschließt sich seine liebenswerte Persönlichkeit völlig. Dieses kompositorische Schaffen war für ihn ein irdisches Vergnügen in Gott , wie zweihundert Jahre früher der Hamburger Ratsherr Brockes seine Gedichte bezeichnet hatte. Manchmal erreicht er die Volkstümlichkeit Silchers, meist aber ist ein pietistischer Grundzug spürbar, der diese Werke über einen verhältnismäßig engen Kreis hinaus nicht hat wirksam werden lassen. Was hätte wohl er, der schon über die moderne Musik von 1910 den Kopf schüttelte, zu unserer heutigen Musik gesagt?!

Er war einer der letzten und treusten Bewahrer alles Guten, was in Württemberg im 19. Jahrhundert an Frömmigkeit, Innigkeit und Demut in der Musik, besonders in der Kirchenmusik vorhanden war. Ist es da ein Wunder, wenn von ihm keine Wirkung auf die Zukunft ausging? Der Schüler löst sich vom Lehrer, die lebende Generation von der ihr vorhergehenden, das war immer so und muß so sein. Und doch: in wieviel Eigenschaften kann uns dieser treffliche Mann noch heute Vorbild sein!





*1) Ein Brief eines früheren Schülers, den Langs Sohn Gottlob erst vor wenigen Tagen erhielt, spricht von der Präzisionsarbeit im Unterricht Langs und erzählt folgendes hübsches Erlebnis: Ich saß vor der kleinen Orgel in Zimmer 4 und spielte. Plötzlich ging die Tür auf, herein kam Ihr Herr Vater und sagte: Halt, auf Seite Takt Nr. haben Sie einen Fehler gemacht! Ich war sprachlos, denn so etwas hatte ich noch nicht erlebt. Ihr Herr Vater kannte das Stück, das ich spielte, so genau, daß er mir den Fehler so genau bezeichnen konnte. Er setzte sich dann vor die kleine Orgel und sagte: Nehmen Sie Ihre Noten mit und setzen Sie sich an den Tisch zum Nachlesen. Ich spiele Ihnen das Stück vor, wie es richtig ist! Passen Sie auf den Takt Nr. auf! Nachher spiele ich es, wie Sie es spielten! Ich war nun noch mehr erstaunt, denn der Fehler war fast unmerkbar. Ich hatte ein gewöhnliche Achtelnote gespielt anstatt einem punktierten Achtel. Ich war vollständig platt und dachte für mich: Ist es denn möglich, daß jemand fast mit der Genauigkeit eines Uhrwerks ein Musikstück beherrscht?
(Die Schriftl.)

Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
25. Jahrgang Nr. 2, März / April 1958