1958 · Zur Geschichte der Bachpflege
Deitsches Bachfest
Die vielen kleinen Territorien, die im 16. Jahrhundert das heutige Württemberg bildeten, grenzten im Norden an die Ausläufer von Mitteldeutschland, im Süden war der Nachbar die Schweizerische Eidgenossenschaft. Dieser geographischen Lage hat das Land seine Sonderstellung bei der Einführung der Reformation zu verdanken: in der Lehre war man lutherisch, in der Gestaltung der Gottesdienste aber lehnte man sich mehr an Zwingli und Calvin an, die jede Liturgie, ja sogar das Orgelspiel aus der Kirche verbannt hatten. Die schlichte Form des reinen Predigtgottesdienstes entsprach wohl auch dem schwäbischen Charakter mehr, der jeder Repräsentation abhold ist, und das am allermeisten, wenn es sich um Religion handelt. Es waren die Stillen im Lande, die der ev. Kirche Württembergs ihre Prägung gegeben haben; ihre Frömmigkeit war echt und tief und hielt allen Angriffen stand. Aber von einer Blüte der Kirchenmusik konnte dabei keine Rede sein, lediglich in den reichen katholischen Klöstern Oberschwabens kommt es im 18. Jahrhundert zu einer spätsommerlichen Nachblüte in der Kirchenmusik. An der Hochblüte protestantischer Kirchenmusik von Luther bis Bach hat der Süden jedoch nur einen sehr geringen Anteil. Erst als Bach zu Anfang des 19. Jahrhunderts wie eine Kolossalstatue wieder ausgegraben und mehr und mehr freigelegt wurde, da fand diese Wiedererweckung auch bei uns einen freudigen Widerhall. Freilich blieb diese Bachpflege zunächst auf konzertmäßige Aufführungen der oratorischen Werke, auf Klavier- und Kammermusik beschränkt; zu einer Wiedererweckung der Orgelwerke fehlte es weithin an geeigneten Instrumenten. Aber die Chorvereine, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts landauf, landab gegründet wurden, sangen bald neben dem Messias, der Schöpfung und den Jahreszeiten auch das Weihnachtsoratorium und die Johannespassion. Von einer planmäßigen Bachpflege konnte aber noch keine Rede sein. Erst als 1877 von Württemberg eine Bewegung ausging, die ev. Kirchenchöre Deutschlands zusammenzuschließen, als in allen größeren Orten leistungsfähige Kirchenchöre entstanden, war die Vorbedingung geschaffen, nun auch die kirchlichen Gesangswerke Bachs, vor allem seine Kantaten, der Kirche wieder zu gewinnen. Freilich konnte man in Anbetracht der württembergischen Art des Gottesdienstes nicht daran denken, eine Bachkantate in den Gottesdienst einzubauen (das geschah aber doch immer wieder bei Kirchengesangsfesten und anderen festlichen Anlässen), aber die Kirchenchöre sollten dazu erzogen werden, diese Schätze zu heben. An die Spitze dieser Bewegung setzte sich zu Anfang unseres Jahrhunderts ein junger schwäbischer Pfarrverweser, Albrecht Werner. Er gründete einen Württ. Bachfonds, der den Kirchenchören das Aufführungsmaterial zu den Kantaten bereitstellen sollte, und bald wurde daraus der Württembergische Bachverein, der nun bis zum zweiten Weltkrieg zum Mittelpunkt der Bachbewegung in Württemberg wurde. Er suchte zunächst keine Anlehnung an seinen größeren norddeutschen Bruder, die Neue Bachgesellschaft, sondern beschränkte sich auf seine "innere Mission" in Württemberg. Er wurde von einem Häuflein von Idealisten getragen: die Namen Martin Mezger, der als Erster mit seinem Kirchenchor der Pauluskirche regelmäßige Kantatenabende gab, neben ihm Prälat Hoffmann, Stiftsorganist Heinrich Lang, als Bibliothekar Professor v. Stockmayer, der die Bibliothek des Bachvereins in der Kgl. Hofbibliothek gastlich aufgenommen hatte (leider ist sie im zweiten Weltkrieg ein Raub der Flammen geworden), Hofrat A. Klinckerfuß als Schatzmeister (wenn man auf die bescheidenen Mittel des Vereins diesen hochtrabenden Titel anwenden darf) und andere sind hier zu nennen. Alle Genannten sind schon verstorben, im letzten Jahr auch Ernst Rheinwald, der in dem kleinen Städtchen Calw in vorbildlicher Weise wirkte und im Jahr 1921 sogar ein gut gelungenes Calwer Bachfest veranstalten konnte! Daß große Chöre, wie der Verein für klassische Kirchenmusik in Stuttgart oder die Oratorienvereine in Heilbronn, Ulm, Eßlingen, Tübingen und anderen Städten die Werke Bachs regelmäßig aufführten, war selbstverständlich; daß aber auch kleinere Chöre in kleinen Orten sich an Bachsche Kantaten wagen konnten und wagten, das war der unermüdlichen Pionierarbeit des Württembergischen Bachvereins zu verdanken.
In ein neues Stadium trat die Bachpflege in Württemberg, als die aus der musikalischen Jugendbewegung hervorgegangenen Singkreise den Weg zu Bach fanden, nachdem sie sich anfänglich auf A=cappella=Musik des 16. und 17. Jahrhunderts beschränkt hatten. Der Träger dieser Bewegung war Hans Grischkat, ein junger Musiker und Leiter mehrerer Singkreise. Seit dem denkwürdigen Bachfest in Reutlingen, das er 1935 mit seinen drei Singkreisen veranstaltete, wurden diese Singkreise von ihm immer tiefer in das Werk Bachs hineingeführt. Das besondere Augenmerk richtete Grischkat auf das Kantatenwerk Bachs. Man darf vielleicht sagen, daß es wohl kein zweites deutsches Land gibt außer Sachsen, in dem in den letzten Jahrzehnten so viele Kantaten Bachs zur Aufführung gekommen sind wie im traditionsarmen Württemberg. So konnte der Württembergische Bachverein sich im Jahr 1950 ehrenvoll auflösen, da er seine Aufgabe erfüllt hatte. Freilich sind Aufführungen der Kantaten im Gottesdienst auch heute noch seltene Ausnahmen geblieben und das mit gutem Grund.
Wollte man nun auch von der Pflege der Bachschen Instrumentalwerke sprechen, so würde das den hier gesteckten Rahmen weit überschreiten. Eine stattliche Reihe jüngerer, meist in Leipzig geschulter Organisten, trat für die Orgelwerke ein, die Brandenburgischen Konzerte hat das Stuttgarter Kammerorchester unter Karl Münchinger in der ganzen Welt vorbildlich zum Vortrag gebracht, und um die stilistisch richtige Wiedergabe der Klavier- und Violinwerke bemühen sich bedeutende Künstler und Pädagogen. Endlich sei der Beitrag des musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Tübingen noch besonders vermerkt, von dem wertvolle Anregungen und Beiträge zur Erkenntnis des Bachschen Stils ausgegangen sind. Schon zur Zeit, da Karl Hasse Universitätsmusikdirektor war, hatte der Schreiber dieser Zeilen seine Dissertation "Die musikalische Artikulation, besonders in den Werken Bachs" erscheinen lassen, die vom Württembergischen Bachverein als Vereinsgabe ausgegeben wurde, und in der jüngsten Zeit hat Ulrich Siegele bei Walter Gerstenberg mit einer umfassenden Arbeit über "Bachs Bearbeitungen eigener und fremder Werke" promoviert. Auf die Untersuchungen Gerstenbergs über das Tempo bei Bach und auf die Studien von Georg von Dadelsen über die Handschrift Bachs und seines Kreises, die ein ganz neues Licht auf die Datierung vieler Werke Bachs werfen, sei noch besonders hingewiesen.
In Stuttgart haben mehrere "Württembergische Bachfeste" stattgefunden das letzte im Jahre 1950 aber nur einmal hatte bis jetzt die Neue Bachgesellschaft Stuttgart als Ort der von ihr veranstalteten Bachfeste gewählt (14. Bachfest im Jahre 1924). Die Träger der überwiegend norddeutschen Neuen Bachgesellschaft und die süddeutschen Bachfreunde sind meist getrennt, aber doch nach demselben Ziel marschiert , um so mehr freuen wir uns, daß nun nach mehr als drei Jahrzehnten unsere norddeutschen Freunde wieder zu uns kommen wollen. Wir werden ihnen, wie wir hoffen, den Beweis bringen, daß der Meister bei uns mit derselben Liebe und Begeisterung gepflegt und aufgenommen wird wie in den Landen, in denen er gelebt hat. Es ist ein Charakterzug der Schwaben, Neues nur zögernd aufzunehmen und zuerst zu prüfen; wenn es aber einmal in seinem Wert erkannt ist, so wird es mit Treue und echter Begeisterung gepflegt. Ein Bachfest gar wird als ein Ereignis angesehen, auf das man sich im ganzen Lande freut und von dem man noch lange nachher spricht. So wird es auch in diesem Jahre sein und die württembergischen Bachfreunde heißen ihre Gäste aus nah und fern herzlich willkommen.
Quelle:
Deutsches Bachfest 35, 1958, S. 75 - 77