1959 · Vor einer Händel-Renaissance?

Neue Zeitschrift für Musik

Wer wird nicht unsern Klopstock loben,
Doch wird jeder lesen? Nein!
Wir wollen weniger erhoben
Und fleißiger gelesen sein.

Von allen großen Meistern der Musik ist Händel einer der am wenigsten aufgeführten, der am wenigsten gekannten. Niemand bezweifelt seinen Ruhm, aber kaum jemand nimmt sich seiner an. Seit dem Ende des Krieges scheint die Händelbewegung, die nie sehr stark wer, fast völlig versandet zu sein. Wann kann man denn in einer durchschnittlichen Großstadt der Bundesrepublik Händel überhaupt noch hören? Wer spielt seine Klavierwerke? Wie selten erklingt eine der 25 Triosonaten: Im Konzert fast nie, in der Hausmusik selten genug. Die Violinsonaten haben allerdings ihren festen Platz in der Haus- und Unterrichtsmusik, aber wie werden sie in der Regel gestümpert Futter für die untere Mittelstufe. Die Kirchen- und Oratorienchöre pflegen höchstens den "Messias", der in der Tat eine Ausnahmestellung einnimmt, aufzuführen (und dann meist in der Mozartschen Bearbeitung), aber wann läßt sich ein Chor, dem Bachs Passionen und Kantaten vertraut sind, einmal "herab", ein anderes Händelsches Oratorium zu singen? Wie kläglich ist die einst von Göttingen ausgehende, so hoffnungsvoll begonnene Renaissance der Opern Händels steckengeblieben! Und die Händelforschung? Auch sie ist mager genug; viele kleinere Meister wurden in letzter Zeit Gegenstand eingehender, gründlicher Untersuchungen; bei Händel ist fast alles noch zu tun. Es ist schon richtig, was Alfred Einstein in seinem Buch "Größe in der Musik" sagt, daß wir (d. h. die Welt der gebildeten Laien und Musiker) von Händel eigentlich so gut wie gar nichts wissen. Das beginnt schon bei Chrysanders Biographie, die nicht fertig geworden ist, die nur das Leben schildert und von den Werken höchstens da und dort in ein paar überschwenglichen Worten spricht. Auch Romain Rolland ist zu kritiklos bewundernd trotz Leichtentritts fleißiger Arbeit fehlt der Händelforschung bis heute als Grundlage ein "Spitta".

Unter diesen Umständen kann es nicht dankbar genug gewertet werden, daß die Händelstadt Halle im Juli ein über eine ganze Woche sich erstreckendes Händelfest veranstaltet hat, bei dem nicht weniger als drei Opern (Agrippina, Tamerlan, Alcina), drei Oratorien (Belsazar, Acis und Galathea, Judas Maccabäus), ferner Konzert- und Kammermusik, Klavier- und Orgelmusik, Vorträge u. a. m. geboten wurden. Das Festbuch trug als Motto den Ausspruch Beethovens: "Händel ist der unerreichte Meister aller Meister. Gehet hin und lernet von ihm, mit so einfachen Mitteln so Großes hervorzubringen". Klingen diese lapidaren, echt Beethovenschen Worte nicht wie ein Hohn auf unsere heutige "Händelpflege"?

Im folgenden soll versucht werden, einige der Gründe darzulegen, warum Händel so vernachlässigt wird, und die Richtung zu zeigen, in der wir gehen müssen, um aus der gegenwärtigen Stagnation herauszukommen.

Im 19. Jahrhundert sagte man "Bach und Händel", so wie man "Schiller und Goethe", "Raffael und Michelangelo" sagte. Noch immer vergleichen wir ihn, vielleicht ohne es zu wollen, mit Bach. Liszts Wort, daß man sich von den Dreiklängen Händels bald nach den kostbarsten Spezereien der Dissonanzen Bachs sehne, spricht dieses Mißverständnis in geradezu klassischer Weise aus. Je mehr ein Chor sich an Bach geschult hat, desto weniger ist er in der Regel in der Lage, Händel zu singen; er sehnt sich in der Tat von den Dreiklängen und dem leichten Chorsatz Händels nach den Schwierigkeiten der Polyphonie Bachs. Ich habe einen ausgezeichneten Bachchor erlebt, dem der Trauermarsch aus "Saul", für dessen Schönheit und Schlichtheit kein Wort zu hoch ist, als schwächlich-gefühlvoll, ja fast als Kitsch erschien. Er hatte für Händel kein Organ. Händel gehört aber zu den Musikern, die nur scheinbar einfach sind, weil so vieles nicht in den Noten (die man bald beherrscht), sondern zwischen den Noten steht. Auch ist das Weltgefühl Händels dem Bachs völlig entgegengesetzt: das von Bach geht, bei beschränkten äußeren Lebensverhältnissen, in die Tiefe, das von Händel als Ausdruck eines in großem Stil gelebten Lebens in die Weite.

Bach ist trotz italienischer und französischer Einflüsse in seiner Musik völlig deutsch geblieben, Händel ist Europäer in einem Maße, für das uns, nach zwei Jahrhunderten nationaler Zerklüftung, schon menschlich das Organ fehlt. Ausgezeichnet hat Paumgartner in seiner Einleitung zu Mainwarings Darstellung von Händels Leben beschrieben, wie im damaligen Italien das ganze gebildete Europa zusammenströmte, wie dort der Genuß des Lebens nicht nur der Sinne, sondern ebenso des Geistes und der Seele in einem Maße kultiviert wurde, wie wir es uns heute kaum mehr vorstellen können. In dieser Atmosphäre hat der junge Händel vier Jahre gelebt; in ihr zerfließt die Kleinheit und Dumpfheit der engen deutschen Heimat. In seiner Kammermusik ist Händel ein Schüler Corellis und doch schon mehr als dieser: ein Riese an Kräften gegenüber dem römischen Meister. Alle Werke Händels aus seiner italienischen Zeit sind rasch hingeworfen, heiter, ohne Tiefe, bisweilen noch etwas steif, und sämtlich ohne größere Bedeutung für ihn und uns, d. h. nicht mehr als die Folie eines glänzend gelebten Lebens. In England setzt sich dieser glänzende Lebensstil fort, ja er steigert sich noch, aber es ist nicht mehr die harmonisch ausgeglichene Lebensfreude Italiens, sondern es ist eine durch Spekulantentum überhitzte Atmosphäre, mit gierigem Lebensgenuß und Lasterhaftigkeit gepaart, in der Händel sich behaupten muß. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, Händel habe 1720 eine italienische Oper gegründet. Die Gründung erfolgte durch eine Aktiengesellschaft; Händel und zwei Italiener waren als Operndirektoren lediglich Angestellte der Gesellschaft. (Wie börsenmäßig man im damaligen London dachte, beweist eine von Chrysander berichtete Anekdote: Als ein neuer Tenor engagiert wurde, der das hohe c länger aushalten und glänzender bringen konnte als der alte, zogen die Aktien der Gesellschaft sofort an!)
Wenn wir uns heute um Händels Opern bemühen, so gehen wir von der selbstverständlichen Voraussetzung aus, es seien Kunstwerke von allgemeiner, fast zeitloser Gültigkeit, die man wieder erwecken müsse und könne, so wie im 19. Jahrhundert Bach wieder zum Leben erweckt wurde. Vielleicht kommen unsere Enttäuschungen von dieser recht unsicheren Unterstellung her? Um die etwa 40 Opern Händels wirklich beurteilen zu können, müßte man auch die eine oder andere der Opern seiner Londoner Kollegen, wie Bononcini, Porpora, Ariosti, kennen. Ich hatte einmal Gelegenheit, die Oper zu hören, die Mozarts "Figaro" damals den Ruhm streitig machte: "La cosa rara" von Martini. Die haushohe Überlegenheit Mozarts war evident; im Falle Händel bin ich nicht sicher, ob das ebenso wäre. Es muß doch zu denken geben, daß mit dem Jahr 1742, als Händel aufhörte, Opern zu schreiben, schlagartig auch seine Opern vom Spielplan verschwanden. Zudem wissen wir, daß der Operntyp, in dem Händel komponierte, schon von den Zeitgenossen als sehr reformbedürftig angesehen wurde (siehe Marcellos "Teatro alla moda").
Unter einer Oper verstehen wir genügsam gewordenen Menschen von heute lediglich die Musik zu einer Oper, während im Barock die Musik nur ein Teil des großen gesellschaftlichen Festes war, in dem die vornehme und reiche Gesellschaft sich selbst genoß. Und war schon die Musik wichtig, dann war es die Wiedergabe durch Primadonnen und Kastraten mehr als die Komposition selbst. Die Musik zu den von Händel komponierten Opern besteht bekanntlich fast nur aus Arien und Rezitativen, selten finden wir ein Duett, noch seltener einen Ensemblesatz, fast nie einen Chor. Den Gesangsstil der damaligen großen Sänger und Sängerinnen haben wir nicht mehr und können wir wohl kaum beleben (ihre soziale Grundlage war das oben geschilderte Italien des 18. Jahrhunderts). Die Rezitative können (wie jedes Recitativo secco) nur geringes musikalisches Interesse beanspruchen ist es da möglich, nur wegen der Arien den ganzen Organismus einer Barockoper wieder künstlich zu beleben?
Das Händelfest in Halle hat gezeigt, daß es nur dann möglich ist, wenn sich der Zuhörer für die dramatische Spannung der Handlung interessieren kann. (Das war der Fall bei "Tamerlan", wo die Tochter Tamerlans im Konflikt der Liebe zu ihrem Vater und dessen von ihm besiegten Feind Bajazet steht.) Da die Handlung in den Rezitativen vorwärtsgetrieben wird, so hatte man in "Tamerlan" diesen besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen, und zwar durch die klangliche Ausgestaltung des Basso continuo. Bei allen Aufführungen hörte man, anstatt des einen zirpenden Cembalos, mit dem man sich sonst zu begnügen pflegt, einen frühbarocken Reichtum an Continuo-Instrumenten: 2 3 Cembali, 2 Harfen, mehrere Theorben und einen Chitarrone. Diese Instrumente, in verschiedenster Kombination eingesetzt, vermochten die Secco-Begleitung derartig zu beleben, daß sie wirkungsvoll am dramatischen Geschehen teilnehmen konnte. Dafür hatte man von manchen Arien zum Schmerz der Historiker den Mittelteil und die Reprise gestrichen. In der Agrippina wurden die Reprisen gebracht, aber ohne die vom Bearbeiter (H. Chr. Wolff) intendierten Varianten und Koloraturen, weil die Sänger sich diesem Stil noch nicht gewachsen fühlten. Diese reiche Continuo-Besetzung einmal gehört zu haben, war für den Fachmann wohl der Hauptgewinn der Tage in Halle, der andere war, zu erleben, wie eine virtuose, der Improvisation reichen Raum gebende Wiedergabe von Flöten-Kammermusik Händels beim Publikum zündete es war das Gegenteil der achtungsvollen Langeweile, mit der so oft Händel entgegengenommen wird! Auch hier wurde die Musik lebendig durch das, was nicht in den Noten steht.

Doch zurück zu Händels Oratorien. Ist da nur die Indolenz des Publikums oder das Phlegma der Chöre schuld, daß man sie fast nie hört? Alle Händelforscher sind sich darüber einig, daß die Oratorien die Krönung von Händels Lebenswerk bedeuten. Aber auch hier fehlen uns Voraussetzungen, die zu Händels Zeiten bestanden; die Vertrautheit mit den alttestamentlichen Bibeltexten, die unserer Generation völlig verlorengegangen ist. Dazu kommt die allzu große Nähe der Händelschen Oratorien zum Theater, die bewirkt, daß sie, anders als die Oratorien Bachs, bei uns noch keine feste Stätte gefunden haben; in die Kirche gehören sie nicht, im Konzertsaal wirkt es sicherlich auf viele Hörer befremdlich, wenn Salomo im Frack, die Königin von Saba im Konzertkleid auftritt und der Chor bald Israeliten, bald das Gefolge der Königin darstellen soll. Das dramatische Oratorium ist nun eben einmal eine Zwittergattung, an der wir selten froh werden. Die englischen Texte müßten so frei übersetzt werden, daß ihr oft gespreiztes und steifes Pathos gemildert würde, damit nicht schon hier die Hemmungen des Hörers anfangen. "O seht den Wüstling gleich dem Tier" (gemeint ist Belsazar) singt Gorgias in der Chrysanderschen Ausgabe, und auch die neue, von Helmut Bornefeld veranstaltete Ausgabe von "L'Allegro, il Pensioroso ed il Moderato" übersetzt den Text so genau, daß im Deutschen der Ausdruck oft unnötig übersteigert erscheint (merkwürdigerweise stören alle diese Dinge bei Bach viel weniger als bei Händel). Auch in seinen Oratorien verlangt Händel ganz große Sänger: wir haben heute wohl eine Reihe guter Bachsänger, aber nur ganz wenige, die die Noten einer Händelarie lebendig machen können.

Genug der Andeutungen; denn mehr als Andeutungen können hier nicht gegeben werden. Sie mögen aber immerhin gezeigt haben, daß wir mit einer planvollen Händelpflege erst am Anfang stehen. Aber was täte unserer zerrissenen, zerklüfteten, vom Fieber geschüttelten Zeit mehr not als die ruhige Kraft, die Sicherheit, die Gelassenheit Händels? Stellen wir zusammen: das Halleluja aus dem "Messias", das Variationenthema der E-dur-Suite, das "Largo" aus der Oper "Xerxes" (das einfach nicht umzubringen ist), das Unisono-Thema des Orgelkonzertes in F-dur, der Trauermarsch aus "Saul": das ist Musik, die dem Gebildeten wie dem einfachsten Hörer gleicherweise verständlich ist und ihn anrührt, Musik, die einfach ist, ohne banal zu sein (was Beethoven so an ihr bewunderte), Musik, die uns beruhigt und ausgleicht, ohne in Oberflächlichkeit zu fallen, und die sich uns augenblicklich einprägt, um nie mehr vergessen zu werden sollte eine solche Musik uns nicht zur Heilung und Gesundung dienen können? Darum glauben wir, daß Händel gerade unserer Zeit noch viel zu sagen hat.

Quelle:
Neue Zeitschrift für Musik ?