1959 · Zu Handels Klaviermusik
Musica
Händels Klaviermusik steht in seinem Schaffen an letzter Stelle: hinter den Concerti grossi, den Orgelkonzerten, den Triosonaten und Solosonaten. Auf weite Strecken ist sie von einer Erfindung, die kaum den Durchschnitt der damaligen Zeit erreicht. Sein Sekretär Christoph Schmidt ("Christopher Smith"), dessen Klaviersuiten bei Farrenc ("Trésor des Pianistes") neu gedruckt wurden, übertrifft den Meister oft an Erfindung und an Sorgfalt des Satzes. Man versteht das nur, wenn man den Stand der englischen Klaviermusik um 1700 kennt: auch bei Purcell stehen die Klavierwerke weitaus an letzter Stelle. Wenn man sich vor Augen hält, wie unendlich viel Händel in Italien gelernt hat für die Gesangsmusik, für Orchester und Kammermusik , dann kann man kaum begreifen, daß der hohe Stand der italienischen Klaviermusik um 1700 auf ihn so wenig Einfluß gehabt hat, daß er, der den genialsten Klaviermeister der Epoche, Domenico Scarlatti, persönlich gekannt hat, ja sogar einmal in einem Wettspiel sich mit ihm zusammen hat hören lassen (um 1708 in Rom), von ihm so gar nichts gelernt hat.
Händels Klavierstil ist eigentlich nicht über das Niveau der mitteldeutschen Klaviermusik seiner Jugendzeit (Johann Krieger) hinausgekommen. Man kann nur annehmen, daß auch Händel selbst für das Klavier wenig Interesse hatte. Er hätte vielleicht in England nichts dafür geschrieben, wenn er nicht am Hofe Klavierlehrer gewesen wäre. Seine acht Suiten (1720) hat er aus dem Unterrichtsmaterial, das er bei Hofe benötigte, zusammengestellt und lediglich zum Schutz gegen Raubdruck selbst veröffentlicht. Völlig planlos erscheint die Zusammenstellung der zweiten und dritten Sammlung, die Händels Londoner Verleger Walsh herausgab, ohne den Komponisten erst zu fragen. Da steht Gutes und Schlechtes bunt durcheinander, die schöne Chaconne G-Dur mit 21 Variationen neben der anderen G-Dur-Chaconne, deren 62 Variationen so stark abfallen. In den sechs großen Fugen ist der Einfluß Italiens auf Händel sichtbar: die Auflösung der strengen Bindung an die Stimmenzahl, die damals in Italien um sich griff, und die jeden verdrießt, der diese Fugen mit Bach vergleicht. Und die Aylesforder Stücke? Auch da steht Gutes und Unfertiges nebeneinander, und seine Gehilfen nahmen, was sie gerade brauchten; aber sicherlich nicht in der Form, wie wir es jetzt vor uns haben.
Erscheint dieses absprechende Urteil ungerecht und hart, dann darf ich antworten, daß die Praxis es bestätigt. Was spielt man denn von Händels Klaviermusik? Eigentlich nur die Grobschmiedvariationen. Da ist das Thema so schön, so außerordentlich schön, daß es fünf schulmäßige Variationen übersteht, ohne Schaden zu nehmen. Ich habe in fünfzig Jahren nie eine ganze Suite von Händel spielen hören, weder im Unterricht noch im Konzert. Alle Verehrer Händels preisen diese Stücke, aber niemand spielt sie. Und doch enthalten sie auch Kostbarkeiten.
Aber man muß sie suchen: die große Gigue in g-Moll in der ersten Fassung der Aylesforder Stücke, die Fuge, mit der die e-Moll-Suite eröffnet wird, auch Präludium und Fuge in f-Moll der 8. Suite und noch einiges andere. Aber darf man diesen ungeordneten Haufen einer zum Teil nur skizzierten Musik mit den bis ins letzte durchgearbeiteten Suiten und Partiten Bachs überhaupt vergleichen? Man kann es nicht, denn Bach ist wohl gleich groß in einer zweistimmigen Invention wie in einer Kirchenkantate. Händel aber hat seine große, gewaltige Gestaltungskraft den großen Formen der Oper und des Oratoriums vorbehalten. Seine Klavierwerke sind zum Teil nur Abfälle, nur Späne, die beim Schnitzen der großen Figuren unter den Tisch gefegt wurden. Freilich dürfen bei einem Genie, wie Händel es war, auch sie unser Interesse beanspruchen, aber nicht unsere Bewunderung.
Hermann Keller
Quelle:
Musica, Januar 1959, S. 28/29