1959 · Zum 150. Todestag von Joseph Haydn

Mitteilungen der Freunde

der Staatlichen Hochschule für Musik Stuttgart

Wir zählen Joseph Haydn im Dreigestirn Haydn-Mozart-Beethoven zu den Großmeistern der Musik, aber seine wirkliche Gestalt ist unserer Gegenwart merkwürdig fern und fremd. Wir haben in Stuttgart Bachfeste, jedes Jahr ein Mozartfest, jeden Sommer Beethovenwochen, aber in diesem Gedenkjahr hat keines der vielen Quartette, die in Stuttgart gespielt haben, einen Haydn-Abend gegeben, kein Symphoniekonzert hat sich in würdiger Weise des Symphonikers Haydn angenommen, nur der Süddeutsche Rundfunk hat von Januar bis Juli vierzehntägig eine Sendereihe gebracht, in der das symphonische Schaffen Haydns im Zusammenhang mit seiner Zeit gezeigt wurde. Ja nicht einmal Wien machte in diesem Jahr einen Haydn-Kongreß, nur in Budapest fand einer im September dieses Jahres statt. Und wie wenig kennen unsere Musikstudierenden von Haydn, wie wenig entspricht das populäre Haydn-Bild der Wirklichkeit!

Die scheinbar unlösliche Verbindung mit Mozart und Beethoven hat Haydn nicht gut getan (Graf Waldstein war der erste, der in seiner berühmten Eintragung in Beethovens Stammbuch bei seinem Abschied von Bonn die drei Namen im Zusammenhang nannte). Aber Haydn ist ganz anders als Mozart und Beethoven. Zunächst: er ist nicht der gute Papa Haydn, dem man wohlwollend auf die Schulter klopft, er war auch nicht der livrierte bessere Bediente, der die musikalischen Wünsche seiner Herrschaft zu erfüllen hatte, auch ist er nicht, wie Beethoven meinte, "in einer elenden Hütte geboren" (ich habe sein Geburtshaus in Rohrau - zwischen Wien und Preßburg - gesehen: das geräumige Haus eines Wagnermeisters). Seine Jugend war hart, wie die vieler Musiker, aber er hat sich aus eigener Kraft durchgebissen, und schon mit dreißig Jahren ist er Kapellmeister beim reichsten Fürsten der Donaumonarchie und behält diesen Posten dreißig Jahre lang. Er bekleidete also eine große leitende Stellung, wie sie Mozart, der einen so viel besseren Start im Leben hatte, niemals errang, und, fügen wir hinzu, wie sie Beethoven nicht mehr nötig hatte, da seine Erfolge als Komponist von Anfang an so groß waren, daß er von den Erträgnissen seiner Werke leben konnte; auch wäre für eine Stellung, wie sie Haydn bekleidete, Mozart wohl zu weich, Beethoven zu unbeherrscht gewesen. Mußte ein Mann, der zugleich Hofkapellmeister, Operndirektor und Intendant war, nicht auch menschlich das Format zu einem solchen Posten haben? Nein - altväterlich verspielt und zopfig (wie Mörike ihn sah) war Haydn gewiß nicht. Man liest in jeder Biographie, in jedem Artikel über ihn, von seiner unglücklichen Ehe - warum schreibt man aber nicht auch, daß er sich recht schadlos hielt durch ein langjähriges Liebesverhältnis mit der Sängerin Luigia Polzelli, der er feurige italienische Liebesbriefe schrieb? Er hatte grobe, bäuerliche Züge, und doch hat er noch als Sechziger in England Eroberungen gemacht. Als er geboren wurde, fehlten noch acht Jahre bis zum Regierungsantritt von Friedrich II. und Maria Theresia, da waren Bach und Händel gerade auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Als er in England war, da war eben Mozart gestorben, Beethoven zog in Wien ein als Schüler Haydns, von dem er aber angeblich "nie etwas gelernt hatte", die französische Revolution war auf ihrem Höhepunkt, aber Haydn nahm wenig Notiz von diesen Weltereignissen. Als er starb, hatte Napoleon, mit dem die Österreicher törichterweise zweimal Krieg angefangen und zweimal verloren hatten, soeben Wien besetzt; es war Belagerungszustand, und die Totenfeier für Haydn konnte erst vierzehn Tage später in der Schottenkirche stattfinden. Nicht nur die politische Welt hatte sich von Grund aus verändert: die literarische Romantik war schon im Abklingen, die musikalische stand vor ihrem Aufbruch, Beethoven schrieb seine 7. Symphonie, sein Es-Dur-Konzert - aber an all dem hatte Haydn nicht mehr teil.

Was er als Komponist für die Musikgeschichte bedeutet, läßt sich in kurzen Worten nicht sagen. Er begreift eine ganze Epoche in sich. Er war fünfundzwanzig Jahre älter als Mozart, war kein Wunderkind, war nie in Italien gewesen. Mozart verdankt Entscheidendes dem Einfluß Italiens, Haydn viel mehr der Volksmusik der österreichischen, ungarischen und böhmischen Länder. Er hat - sagen wir es offen - nur einen Teil des unbegreiflichen Genies von Mozart besessen, aber er hat Epoche gemacht. Er hatte das Glück, in eine Art Vakuum vorstoßen zu können. Als er auftrat, war der alte gelehrte Stil von Fux schon überlebt, der rein italienische Stil hielt sich nur noch in der Oper, das Neue, das von Deutschland - von Mannheim, von Norddeutschland - kam, war noch wenig eingedrungen, in Wien lebten nur kleinere Meister wie Monn und Reutter. Der einzige Musiker, von dem Haydn wirklich etwas gelernt hat, war Philip Emanuel Bach. An ihn muß man denken, wenn man frühe Sonaten und Symphonien von Haydn spielt oder hört. Aber das bedeutete nur die Richtung des Wegs, - gegangen ist ihn Haydn aus eigener Kraft. Betrachtet man seine 83 Streichquartette und 104 Symphonien im Zusammenhang, so erlebt man die ersten Anfänge des Streichquartetts, seine Ausbildung und schließliche Vollendung. Ebenso ist es mit den Symphonien, die in Italien bloße Gesellschaftsmusik waren, "liebedienerisch", wie Jakob Burckhardt über die Kunst der ganzen Epoche urteilte; bei Haydn jedoch werden sie persönlich, jede hat ihren eigenen Charakter, und Haydns Mannigfaltigkeit scheint in diesem Punkte unerschöpflich zu sein. Ihn begünstigte die lange Zurückgezogenheit in Esterház; "Ich konnte als Chef eines Orchesters Versuche machen, konnte zusetzen, wegschneiden ... kurz, ich mußte originell werden." Er mußte nicht, - aber er wurde es. Seine Kompositionen, die er geschäftlich gut zu verwerten verstand, waren schon längst international bekannt, als er die Einladung nach England annahm, und von dort mit Ehren überhäuft und als reicher Mann zurückkam. Dort erhielt er die Anregung zu den beiden Oratorien "Schöpfung" und "Jahreszeiten", die im 19. Jahrhundert zusammen mit dem "Messias" die am meisten gesungenen Chorwerke waren und vielleicht da und dort auch noch heute sind. Ich glaube aber, daß sie verblassen werden, nicht der Musik wegen, die standhält, sondern wegen ihrer starken Bindung an den englischen Deismus, diese allzu optimistische Aufklärungsreligion und rationalistische Naturbetrachtung, die unserer Zeit nicht mehr genügen kann. Auch die Messen, die Haydn nach seiner englischen Reise noch schrieb, sind musikalisch bedeutend, aber es ist mir nicht möglich, bei einem Haydnschen "Kyrie eleison" an "Herr, erbarme dich" zu denken. Was unsterblich von Haydn sein wird, das sind seine Streichquartette und Symphonien, in zweiter Linie auch seine - heute weit unterschätzten - Klaviersonaten und die sogenannten Klaviertrios, die Haydn richtiger als Sonaten für Klavier mit Begleitung einer Violine und eines Cellos bezeichnet hat. Daß Mozart sagte, erst von Haydn gelernt zu haben, wie man Quartette schreibt, ist bekannt. Seine sechs Haydn gewidmeten Quartette zeugen davon, und dann sehen wir ein paar Jahre (etwa von 1785 - 1788) die Bahnen der beiden Meister sich nähern, bis sie dann wieder in den letzten Werken Mozarts und den Londoner Symphonien Haydns weiter auseinandertreten. Haydns Klaviersonaten stehen rein klavieristisch wohl unter denen von Mozart, übertreffen sie aber an Originalität und Formenreichtum: die erste viersätzige Klaviersonate hat nicht Beethoven, sondern Haydn geschrieben (Nr. 37 der Urtextausgabe bei Peters), und schon Riemann hat darauf aufmerksam gemacht, daß bei Mozart fast stets die rechte Hand die Führung, die linke die Begleitung habe, während Haydn den ganzen Klangraum aufreißt und souverän über ihn verfügt. Die warme Menschlichkeit, die aus Haydns Werken spricht, hat man immer schon empfunden, seinen überlegenen Humor aber oft zu sehr verniedlicht, und die Festigkeit, mit der er sein Leben wie seine Kunst gestaltet hat, ist vielen verborgen geblieben. Als geistige Persönlichkeit hat er manches mit Herder gemeinsam, als Bahnbrecher in der Form des Quartetts und der Symphonie gehört er zu den Großen der Musikgeschichte. Er hat es nicht nötig, daß wir ihn feiern, aber in seinem Gedenkjahr wollen wir versuchen, ihn immer besser zu verstehen und zu begreifen.

Quelle:
Mitteilungen der Freunde der Staatlichen Hochschule für Musik Stuttgart, August 1959