1960 · Geburtstags-Festrede

gehalten am 12.12.1960

in der Musikhochschule Stuttgart
Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Sie wollen meine Rede vom l2. Dezember 1960 haben, aber ich hielt sie ganz frei und wollte sie eigentlich auch nicht fixieren. Und: eine Rede ist keine Schreibe! Aber vielleicht mache ich doch irgend jemand von Ihnen eine kleine Freude, und so will ich probieren, sie aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Zumal: ich habe zwei "Pointen", die ich anbringen wollte, vergessen zu sagen, eben weil ich kein MS. hatte, - hoffentlich legen Sie mir es nicht als nachträgliche Fälschung aus, wenn ich sie nun hier noch einfüge?

In alter Verbundenheit
Ihr gez. Hermann Keller

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Wenn ich im Namen der 14 Jubilare hier für die Einladung zum heutigen Abend, über die wir uns so sehr gefreut haben, ein paar Dankesworte sprechen darf, so möchte ich das nicht "Grave - Maestoso" tun, sondern "Allegretto e con sentimento". Ich habe überschlagen, daß wir Jubilare zusammen etwa 1.000 Jahre alt sind. Welch imposante Zahl! Man könnte mit Abwandlung eines Ausspruchs von Napoleon sagen: "1.000 Jahre Musikgeschichte blicken auf euch herab", wenn ihr uns anschaut! ... Wie war das denn vor 1.000 Jahren? Da gab es noch keine Zeitung, in der Alexander Eisenmann einen Künstler hätte verreissen können, - da hätte Carl Wendling kein Wendling-Quartett gründen können, denn die Violine war noch gar nicht erfunden, - Karl Aichele hätte seinen Schulmusikern nur gerade die Guidonische Hand erläutern können, - unser lieber Kollege Dreisbach wäre beschäftigungslos gewesen, weil es noch keine Clarinette gab, - Joh. Nep. David hätte noch keine komplizierte Polyphonie schreiben können, denn man fing da eben erst an, in Quintparallelen zu komponieren (was später mit Recht streng verboten wurde) ... aber eines gab's damals schon: die Musikwissenschaft (sie war eben dabei, die ersten Notenlinien zu erfinden)! Und, wenn ich hier von Zahlen spreche, ist nicht auch eine tiefe, geheimnisvolle Ordnung in der Tatsache zu finden, daß wir 14 alle 5 Jahre voneinander Abstand haben? Man hat ja die Bedeutung der Zahl, die im 19. Jahrhundert so unterschätzt wurde, für die Musik erst heute wieder voll erkannt. So z.B. in der Bachforschung: man hat gezählt, daß die Arie "Buß und Reu" in der Matthäuspassion genau 1.639 Noten enthält, und warum? Weil der Großvater von Bach im Jahre 1639 einen Fehltritt begangen hatte. ... Und in der neuesten Musik: kein besserer serieller Komponist kann heute ohne Logarithmentafel komponieren. Da verhält sich die Länge zweier Noten wie 1 : Wurzel aus 5, und zwar deswegen, weil die 3. und 5. Potenz ihrer Schwingungszahlen sich verhalten wie -- nun das weiß ich auch nicht, ich weiß nur, wie ich mich verhalte, nämlich ablehnend! Aber ich möchte doch einer hohen Direktion den Rat geben, bei künftigen Neuverpflichtungen von Lehrern darauf zu achten, daß dieses Ordnungsprinzip gewahrt bleibt, d.h. nur Lehrer zu engagieren, deren Jahreszahlen durch 5 teilbar sind!

Erlauben Sie mir nun, lieber Herr Reutter, mich persönlich an Sie zu wenden. Sie haben mir einen ganz reizenden Brief geschrieben und haben ihn in die Zeitung gesetzt, damit auch andere Leute ihn lesen können. Sie schließen mit einem Gedicht (Gedicht ist immer gut, das haben wir schon als Schüler beim Aufsatz gewußt), noch besser ist Goethe, da kann man nichts dagegen sagen. Sie haben eines der Gedichte ausgewählt, die Goethe in west-östlicher Richtung auf seinem Diwan liegend (offenbar konnte er so am besten dichten) geschrieben hat.

Die letzte Strophe lautet:

"So sollst du, muntrer Greis,
dich nicht betrüben,
sind auch die Haare weiß,
doch wirst du lieben."

Da hab ich doch gestaunt, daß ein überlasteter Direktor einer Musikhochschule noch Zeit hat, sich um das Liebesleben seines pensionierten Vorgängers zu kümmern?! Und: "munterer Greis", - na, das ist allerhand, - "sind auch die Haare weiß" (aber wenn man gar keine mehr hat?, - übrigens hatte auch Goethe in seinem Alter eine kolossale Glatze, die Maler haben nur irgend was drum herumgemacht ...), und: "wirst du lieben", - Futurum? Ist das nicht ein bißchen spät? Nun für Goethe war es auch Präsens, denn er war eben in Frankfurt und liebte dort eine gewisse Marianne (Frau von Goethe war so lange in Weimar), - und vielleicht, lieber Herr Reutter, sollte das eine feinsinnige Anspielung sein, weil auch ich eine Marianne liebe, die mir schräg gegenüber sitzt? Kurz, so viele Anzüglichkeiten enthält diese Strophe, daß ich nur sagen kann; "Ei du feiner Reutter, was hast du getan?"

Aber nun wieder zum Hauptthema zurück! Ich darf sagen, daß wir alle die Hochschule, unsere alma mater, als eine zweite Heimat angesehen haben und noch ansehen, daß wir ihr immer in Liebe verbunden bleiben werden. Sie ist der sichtbare Mittelpunkt für alles, was wir in unserem Beruf getan haben und noch tun. Ich bitte Sie, sich mit mir zu erheben: Unsere geliebte Hochschule für Musik, sie lebe hoch, hoch, hoch!