1960 · Singen und Spielen

Versuch einer allgemeinen Musizierkunde

von Hans-Peter Schmitz
63 S., Bärenreiter-Verlag, 1958.

Der Titel dieser kleinen, aber wertvollen Schrift ist nicht glücklich gewählt. Man erwartet unter dem Titel "Singen und Spielen" etwas anderes, etwa eine Anweisung, wie ältere Sätze vocaliter et instrumentaliter zu musizieren seien, der Verf. behandelt aber ein ganz anderes Thema: er spricht von den fünf Komponenten jeder musikalischen Wiedergabe Tonbewegung, Tonstärke, Tonlänge, Tonhöhe, Tonfarbe , die sowohl für das Singen wie für das Spielen Geltung haben (daher der Titel der Schrift). Er teilt sie in zwei Hälften: auf die linke Seite stellt er die langsamen Tempi, die weich schwingenden Rhythmen, die geringe, bzw. abnehmende Tonstärke, das legato, die tiefe oder fallende Tonlage, die weichen und dunklen Tonfarben; auf der rechten Seite stehen schnelle oder sich beschleunigende Tempi, harte Rhythmen, forte und crescendo, staccato bzw. harter Tonansatz, hohe oder steigende Tonlage, helle und harte Klangfarben. Beide Hälften sind durch fließende Übergänge miteinander verbunden. Der Musizierende soll nun darauf achten, nicht alle Ausdrucks-Komponenten der einen Hälfte zu entnehmen, sondern "gegenzukoppeln", d. h. einen oder mehrere Faktoren der einen Seite mit solchen der anderen Seite zu verbinden, um den harmonischen Ausgleich herzustellen, der in einer uns befriedigenden Wiedergabe erreicht sein muß.

Diese sehr fruchtbaren Gedanken, die Schmitz hier in einer wohltuenden Klarheit und Einfachheit vorbringt, sind für den Praktiker gedacht, interessieren aber auch den Musikforscher und könnten mit Glück zu einer praktischen Ästhetik der Musik ausgebaut werden. Wenn Sch. z. B. darauf hinweist, daß die Anfangstöne einer Passage eines Trillers, überhaupt jeder Anfang unmerklich langsamer genommen werden sollen, so wäre darauf hinzuweisen, daß schon Frescobaldi in seiner Vorrede zu den Fiori musicali das fordert. Besonders wünschenswert wäre es, wenn Sch. sich mit Handschins Buch Der Toncharakter auseinander (oder zusammen-) setzen würde, in dem eine Menge noch nicht verarbeiteten Rohstoffs enthalten ist. Vielleicht ist diese Schrift (der man dringend einen andern Titel wünschen möchte) nur eine Vorstudie zu einer größeren Arbeit, die sich sicherlich lohnen würde?
Hermann Keller, Stuttgart


Quelle:
Die Musikforschung
Jahrgang XIII, Heft 2, 1960