1960 · Wilhelm Weismann
Zu seinem 60. Geburtstag am 20. September 1960
Wer ist denn Wilhelm Weismann?, werden manche Leser verwundert fragen. Nun, er möchte nicht mit dem Freiburger Komponisten Julius Weismann, noch weniger mit dem Berliner Kritiker Adolf Weißmann verwechselt werden; er ist der Bruder unseres früheren Landeskirchenmusikwarts und jetzigen Dekans Eberhard Weismann, ist geboren in Altdorf bei Lorch, in strenger altpietistischer Familie aufgewachsen, anfänglich zum Kaufmannsstand bestimmt, dann aber über den Musikalienhändler zum Musikverlag und damit zur Musik gelangt und seit mehr als dreißig Jahren Lektor der Edition Peters in Leipzig. Als solcher hat er was viel zu wenig bekannt ist, u. a. an die Stelle der überholten instruktiven Ausgaben von Czerny bis Ruthardt in stiller, beharrlicher Arbeit vorbildliche Urtextausgaben gesetzt: die Klavier= und Kammermusikwerke Bachs, die Sonaten Haydns, die Klavierwerke Mozarts, die Sonaten Beethovens, sind großenteils auf seine Anregung, durch Fachleute wie Landshoff, Kreutz, Soldan, Martienssen, Pauer und Andere in Ausgaben herausgekommen, die Urtextausgaben sind, ohne sich in vielen Fällen so zu nennen. Daß Weismann auch die Gesualdo=Ausgabe im Ugrino=Verlag herausgibt, sei nur nebenher bemerkt. Daneben war er eine Reihe von Jahren Lehrer für Tonsatz an der Leipziger Hochschule, eine zeitlang als Nachfolger Ramins Leiter des Instituts für Kirchenmusik; er gab aber diese Tätigkeit wieder auf, um sich ganz dem Verlag und soweit ihm dafür noch Zeit und Kraft blieb, der Komposition zu widmen. Er hat nie viel Wesens aus sich gemacht, obwohl seine Tätigkeit für die Edition Peters ebenso wichtig war und ist wie etwa die von Oskar Lörke für den S. Fischer=Verlag. Er pflegt zu sagen, es sei seine Aufgabe in der Kunst, Hebammendienste zu tun, und er hat es hüben wie drüben schwer, weil er ganz und gar Non=Konformist ist. Was das bedeutet für einen, der seit 1945 in Leipzig genau so lebt wie er vorher dort gelebt hat, nämlich nur für seine Arbeit, und dabei dem Staate gibt, was des Staates ist, das können vielleicht nur Wenige ermessen, aber es muß zur Ehre der Regierung gesagt werden, daß sie den Wert und die Bedeutung seiner Arbeit anerkennt und ihn gewähren läßt. Wenn die außerordentlich verantwortungsvolle Arbeit des Lektors eines großen Verlags im Hintergrund bleibt und von der Öffentlichkeit kaum bemerkt wird, so ist doch der Komponist ganz auf die Resonanz der Öffentlichkeit angewiesen, ohne Widerhall stehen seine Werke in der Luft. Sicher ist es schwer, beide Aufgaben in einer Person zu vereinigen, auch der Schriftsteller Lörke ist ja nur einem kleinen Kreis bekannt. Weismann hat hauptsächlich Lieder, Liedbearbeitungen, geistliche und weltliche Chöre geschrieben. Ich greife ein Werk heraus, weil es die Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden, schlagartig beleuchtet: den 23. Psalm für fünfstimmigen Chor. Der Thomanerchor hat ihn auf seinen Auslandsreisen viel gesungen, und er hat auf unverbildete Menschen immer einen großen Eindruck gemacht. Ich hörte ihn 1954 beim Tonkünstlerfest in Pyrmont, wo er sich aus so vieler rein artistischer und inhaltsleerer Musik, die man über sich ergehen lassen mußte, wohltätig abhob. Er wurde neulich auch in einer der Hauptkirchen unseres Landes aufgeführt und erhielt eine vernichtende Kritik. Warum? Weil er dem Stil, der heute bei uns durch die Namen Gölz, Gohl, Metzger, Bornefeld vertreten ist (die ich durchaus positiv beurteile), nicht entspricht. Das Schicksal des Non=Konformisten. Diese Musik ist weder neobarock noch atonal, - was soll uns das nützen? Und kein Bruch mit dem 19. Jahrhundert? Es muß nachdenklich stimmen, an diesem Beispiel zu sehen, wie weit sich die beiden Teile von Deutschland auseinandergelebt haben, selbst auf einem Gebiet, dessen Hauptaufgabe es ist, den Menschen anzusprechen. Das tut die alte Musik mit derselben Kraft und Eindringlichkeit wie die alten Meister von Dürer bis Rembrandt, aber atonale Kirchenmusik ist für mich eine contradictio in adjecto. Die erwähnte Kritik: der belanglose, bisweilen abstoßende Psalm Wilhelm Weismanns würde sicherlich bei vielen kirchlichen Singkreisen in Württemberg volle Zustimmung finden, aber ist das dann nicht eher eine Kritik an diesen Singkreisen als an Weismann? Es geht letztlich gar nicht um dieses eine Werk was tut es, ob es gelobt oder getadelt wird! -, sondern um die immer mehr abreißende Einheit in Dingen des Geistes zwischen den beiden Teilen Deutschlands. Vielleicht sind wir heute in einer Situation, in der es nicht so notwendig ist, neue Wege einzuschlagen (worin die weltlich, alle Traditionen hinter sich lassende neueste Musik der Kirchenmusik immer überlegen sein wird), sondern überkommenes Gut nicht leichtfertig preiszugeben. Nicht um für Weismann einzutreten, habe ich diese Zeilen geschrieben, sondern um den Hörer zum Nachdenken anzuregen, wenn er beim Schützfest am 28. Oktober in der Stuttgarter Stiftskirche den 23. Psalm Weismanns hören wird.
Hermann Keller
Quelle:
Württembergische Blätter für Kirchenmusik
27. Jahrgang Nr. 5, September/Oktober 1960